Gentlemen gone missing – oder: Die Sache mit dem Vordrängeln
Ein kurzer Besuch in der Postfiliale – und plötzlich wird daraus ein Lehrstück über Anstand, Vordrängeln und männliche Solidarität der unangenehmen Art. Ein persönlicher Einblick mit Augenzwinkern – und der Frage: Muss man sich alles gefallen lassen?

Ich erlebe es immer wieder – egal ob beim Bäcker, beim Metzger oder an der Kasse im Supermarkt: Leute drängeln sich vor.
Und damit meine ich nicht diejenigen, die höflich fragen, ob sie vorgelassen werden dürfen, weil sie nur ein Teil haben, während mein Wagen voll ist – meistens biete ich das sowieso von allein an. Nein, ich rede von den Menschen, die sich klammheimlich an der Schlange vorbeischieben und auf die Frage „Wer ist der Nächste?“ einfach ungeniert ihre Bestellung runterrattern.
Meistens ist es mir egal. Ich habe es selten eilig und auch keine Lust, mich aufzuregen.
Aber neulich, da war wieder so ein Moment.
Ich brachte ein paar Buchpäckchen zum Schreibwarenladen meines Vertrauens, der gleichzeitig Postannahmestelle ist. Die Theke ist zweigeteilt: Links vom Eingang ein langer Bereich, an dessen Ende sich die „Post“ befindet, ganz hinten im Laden die Lottoannahmestelle.
Ich also rein, Päckchen unterm Arm, und stelle mich am Postschalter an. Vor mir noch ein Mann am Lottoschalter, der gerade bedient wurde.
Während ich wartete, kam der nächste Kunde, ging an mir vorbei und stellte sich hinten beim Lotto an. Sekunden später noch einer – ebenfalls an mir vorbei. Der Erste war fertig, ging, und der Zweite gab ganz entspannt seine Bestellung auf.
Inzwischen kam der Dritte. Und mir war klar: Wenn ich jetzt nichts sage, stehe ich hier noch bis zum Sanktnimmerleinstag.
Richtig meckern wollte ich nicht, also meinte ich mit einem Augenzwinkern:
„Das war jetzt aber nicht sehr gentleman-like.“
Ooooh … böser Fehler.
Der Zweite, ein junger Mann mit Handy am Ohr (den ich gar nicht meinte), sprang direkt an: „Was denn, ich guck doch nur.“
Ich, freundlich: „Sie meinte ich doch auch gar nicht, sondern den Herrn vor Ihnen.“
Der Ältere drehte sich um und schaute mich mit einer so unschuldigen Miene an, dass ich es ihm fast abgekauft hätte – wenn er nicht vorher schnurstracks an mir vorbeigelaufen wäre.
Der Jüngere fühlte sich im Rahmen männlicher Solidarität offenbar bemüßigt, Schützenhilfe zu leisten: „Was soll das denn überhaupt?“
Ich: „Entschuldigung, aber ich dachte, es geht immer noch der Reihe nach. Und der Herr war nach mir da.“
Die Dame hinter der Theke flötete freundlich: „Ich komme gleich zu Ihnen.“
Der Jüngere wieder, Genervt-Level 100: „Das ist doch keine Art, so etwas zu sagen.“
Dann brabbelte er etwas ins Handy – vermutlich seine ganz eigene Version des Vorfalls – und regte sich bei seinem Gesprächspartner weiter über mich auf.
Für einen kurzen Moment war ich versucht, ein „Chill mal, Bro“ hinterherzuschieben – aber dann wäre er vermutlich komplett eskaliert.
Also wandte ich mich kopfschüttelnd ab und fragte mich im Stillen, an welcher Stelle meines Lebens ich eigentlich falsch abgebogen bin.
Aber vermutlich bin ich einfach nur zu alt für diese Welt, in der Höflichkeit, Rücksichtnahme und Anstand offenbar keine Rolle mehr spielen …
Jedenfalls war das ein Paradebeispiel für zwei Dinge, die gefühlt immer häufiger vorkommen:
Schamlosigkeit wird zur Normalität.
Der ältere Herr weiß ganz genau, dass er sich vorgedrängelt hat – aber statt ein schlichtes „Oh, tut mir leid“ rauszubringen, guckt er mich an, als wäre ich das Problem. Das ist diese feige passive Aggressivität, mit der sich Menschen aus der Verantwortung stehlen, weil sie hoffen, dass niemand was sagt. Und wenn jemand doch was sagt – na, dann wird halt auf unschuldig/vorwurfsvoll geschaltet.
Empörungskultur auf Knopfdruck.
Der jüngere Mann ist das Sahnehäubchen: Er war gar nicht gemeint, aber fühlt sich trotzdem persönlich angegriffen – und geht direkt auf Konfrontation. Keine Nachfrage, kein Klärungsversuch, sondern direkt auf 180. Wahrscheinlich ist er einer von denen, die auch im Straßenverkehr hupen, bevor sie bremsen.
Und am besten dabei noch demonstrativ ins Handy: „Ey, die Alte hier is grad voll ausgerastet!“
Und jetzt interessiert mich deine Meinung:
👉 Was hättest du an meiner Stelle gemacht?
👉 Findest du es okay, wenn Leute sich vordrängeln?
👉 Muss man sich alles gefallen lassen – oder darf man (freundlich) etwas sagen?
Ich bin gespannt auf deinen Kommentar!