Manchmal – Die McDermotts Band 2

Ebook & Taschenbuch

Seit seiner Scheidung vor acht Jahren hat Adrian McDermott sich völlig zurückgezogen und vergräbt sich in seiner Arbeit – an Frauen hat er kein Interesse mehr. Auf dem Heimweg vom Junggesellenabschied seines Bruders Callan fährt die junge, lebenslustige Melody Foster in sein Auto. Hilfsbereit nimmt er sie mit nach Hause und bietet ihr einen Job in seiner Firma an und innerhalb kürzester Zeit gerät nicht nur Adrians Leben aus dem Takt, sondern auch sein Herz …

band 2 manchmal_endfassung2_0_Leseprobe

1

»Sprosse?« Callan McDermott betrat das Wohnzimmer der Porter-Ranch, schaute sich suchend um und warf danach einen kurzen Blick in das vordere Schlafzimmer.

Im gleichen Augenblick kam Joyce Porter aus der Küche. »Hier bin ich.«

Lächelnd betrachtete Callan die schlanke Frau mit den kastanienfarbenen, langen Haaren und den rehbraunen Augen – seine zukünftige Frau. Er ging auf sie zu, nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich. »Hallo Liebling.«

»Hey McDermott«, sagte sie neckend, »kann es sein, dass du dich vor den Hochzeitsvorbereitungen drückst?«

Mit gespielter Entrüstung schüttelte er den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? Das würde ich doch niemals tun. Immerhin fahre ich nachher zu Adrian und bitte ihn, mein Trauzeuge zu werden.«

Sie verdrehte die Augen und knuffte ihn in die Seite. »Spätestens, wenn wir vor dem Friedensrichter stehen, wirst du dich nicht mehr raushalten können.«

»Ich habe dir gleich gesagt, dass ich kein Mann bin, den man heiratet«, zog er sie auf. Dann wurde sein Gesicht ernst. »Ich muss dir etwas beichten.«

Misstrauisch schaute sie ihn an. »Was ist los?«

»Komm mit.«

Er nahm sie an der Hand, führte sie hinaus und ums Haus herum zum Pool. Dort planschte ein etwa zehnjähriger Junge im Wasser, und als er sich zu ihnen umdrehte, blieb Joyce vor Schreck die Luft weg.

»Liebling, das ist Timothy – Timmy, das ist Joyce, meine zukünftige Frau.«

»Hi Joyce.« Der Kleine lachte sie fröhlich an und paddelte dann wieder davon.

Entsetzt starrte Joyce das Kind an. Mit seinen blonden Haaren, den himmelblauen Augen und dem leicht kantigen Gesicht war Timmy die jüngere Ausgabe von Callan. Die beiden sahen sich so ähnlich, dass es keinen Zweifel daran gab, welche Eröffnung er ihr machen wollte.

»Callan«, flüsterte Joyce tonlos, »warum hast du mir das nicht schon längst gesagt?«

»Oh, tut mir leid, ich habe nicht dran gedacht«, erwiderte er locker.

»Nicht dran gedacht?« Ihre Stimme überschlug sich jetzt fast. »Nicht dran gedacht? Das glaube ich doch wohl nicht. Du erzählst mir zwei Tage vor der Hochzeit, dass du …«, sie hielt inne und überzeugte sich, dass Timmy außer Hörweite war, »… dass du einen Sohn hast«, fuhr sie dann etwas leiser fort. »Was geht bloß in deinem Kopf vor?«

Callan grinste. »Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen, Liebling.«

»Das sehe ich allerdings anders«, gab Joyce verärgert zurück, ohne das amüsierte Funkeln in seinen Augen zu bemerken. »Eigentlich hätte ich es mir ja denken können, bei deinem Frauenverschleiß wundert es mich nur, dass du mir hier kein ganzes Footballteam präsentierst.«

»Onkel Callan, gehen wir jetzt zu den Pferden?«, rief der Junge in diesem Moment.

»Ja, gleich, aber nicht mit der Badehose, erst ziehst du dir etwas Trockenes an.«

»Okay.« Timmy kletterte aus dem Pool und flitzte davon.

Irritiert schaute Joyce hinter ihm her. »Wieso nennt er dich Onkel?«

»Weil ich sein Onkel bin. Er ist Laurens Sohn, und da sie bis morgen geschäftlich verreisen musste, habe ich ihr angeboten, dass wir so lange auf Timmy aufpassen. Ich weiß, ich hätte dich vorher fragen sollen, doch ich dachte, es würde dir nichts ausmachen«, erklärte Callan mit einem unschuldigen Blick.

»McDermott, du miese Ratte«, fauchte Joyce ihn an, »weißt du eigentlich, was du mir für einen Schreck eingejagt hast?«

Lachend zog er sie in seine Arme und küsste sie liebevoll. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, so etwas wird nicht passieren. Ich war zwar kein Kostverächter, aber in dieser Hinsicht bin ich immer äußerst vorsichtig gewesen.«

Joyce dachte an ihre erste gemeinsame Nacht, dachte an das kleine Geheimnis, von dem er noch nichts wusste, und verzog das Gesicht. »Das habe ich gemerkt«, sagte sie spöttisch.

»Ja okay, bis auf eine Ausnahme mit einer ganz gewissen Frau, die mich so verrückt gemacht hat, dass ich nicht mehr klar denken konnte«, raunte er ihr weich ins Ohr. »Übrigens – ich bin zwar nicht sehr versessen auf ein eigenes Footballteam, aber gegen das Üben habe ich nichts. Was hältst du davon, wenn wir gleich damit anfangen?«

»Was hältst du davon, wenn du dich erst mal ein bisschen abkühlst?«

Ehe er wusste, wie ihm geschah, gab sie ihm einen kräftigen Stoß und er fiel rücklings in den Pool. Prustend und grinsend tauchte er wieder auf. »Ich sehe schon Sprosse, meine Entscheidung war richtig«, lachte er, während er in ihre Richtung schwamm, »wir zwei werden viel Spaß miteinander haben.«

Kopfschüttelnd kniete sie sich an den Beckenrand, beugte sich zu ihm herunter und küsste ihn ausgiebig. »Du hast Glück, dass ich dich so liebe, McDermott.«

»Ja«, sagte er leise und fuhr mit dem Finger zärtlich über die Sommersprossen auf ihrer Nase, »ich weiß.«

***

Wenig später hatten Callan und Timmy trockene Sachen an und gingen hinüber in den Pferdestall.

Joyce stand auf der Veranda und schaute ihnen nachdenklich hinterher. Das war also Laurens Sohn. Erst vor Kurzem hatte Callan ihr erzählt, dass seine Schwester vor neun Jahren ein uneheliches Kind bekommen hatte. Sie und Lauren waren früher eng befreundet gewesen; immer wenn Joyce ihre Großmutter auf der Ranch besucht hatte, hatten die beiden Mädchen jede freie Minute miteinander verbracht. Dennoch hatte Lauren sich offenbar geschämt, ihr etwas von Timmy zu erzählen; seit Joyces Ankunft in Stillwell vor knapp drei Monaten war sie ihr aus dem Weg gegangen. Bei ihren zufälligen Begegnungen hatte Lauren es stets sehr eilig gehabt, und inzwischen wusste Joyce, warum.

Gedankenverloren beobachtete sie, wie Callan und Timmy mit zwei Pferden aus dem Stall kamen. Callan half seinem Neffen auf Goldys Rücken, gab ihm die Zügel in die Hand und schwang sich anschließend selbst auf Skydancer, seinen schwarzen Appaloosa-Hengst. Sie winkten Joyce noch einmal zu und ritten dann langsam nebeneinander den Weg zur Ausfahrt der Ranch entlang. Callan beugte sich zu Timmy herüber, erklärte ihm etwas, und der Junge nickte begeistert.

Als Joyce sah, wie liebevoll Callan mit seinem Neffen umging, stieg ein beklommenes Gefühl in ihr auf. Übermorgen würden sie heiraten und er war nach wie vor völlig ahnungslos.

***

Adrian McDermotts Sekretärin schob ihren hochschwangeren Bauch durch die Bürotür. »Mr. McDermott, Ihr Bruder ist da.«

»Danke Mrs. Cooper, er soll reinkommen, und Sie können Feierabend machen.«

Darcy Cooper ließ Callan vorbei und schloss dann die Tür hinter sich.

Adrian nahm die goldgeränderte Lesebrille ab, stand auf, ging um den Schreibtisch herum und klopfte seinem fast vier Jahre jüngeren Bruder zur Begrüßung freundschaftlich auf die Schulter. »Cal, schön, dich zu sehen.« Er deutete auf die Sitzgruppe. »Setz dich. Möchtest du einen Kaffee? Oder einen Whiskey?«

»Nein danke«, Callan schüttelte den Kopf und ließ sich auf der schwarzen Ledercouch nieder, »ich wollte etwas mit dir besprechen.«

Adrian nickte, setzte sich in den Sessel ihm gegenüber und sah ihn auffordernd an. »Was hast du auf dem Herzen?«

Nervös wippte Callan mit den Beinen auf und ab, fuhr sich mit den Händen über die Oberschenkel. »Ich weiß, es ist ein wenig kurzfristig, aber ich hätte dich gerne als meinen Trauzeugen, wenn du einverstanden bist«, begann er zögernd.

»Natürlich, wieso sollte ich denn nicht einverstanden sein?«, erklärte Adrian freudestrahlend.

»Weil … ich … es gibt da noch etwas, das ich dir sagen muss«, druckste Callan herum. »Es wird dir sicher nicht gefallen, und falls du mich danach rauswirfst und nie mehr ein Wort mit mir sprichst, könnte ich es verstehen.«

»So ein Unsinn«, beruhigte sein Bruder ihn. »Was auch immer es ist, es wird sich zwischen uns nichts ändern.«

Callan schluckte, sein Adamsapfel hüpfte ein paar Mal auf und ab. »Ich … ich habe mit deiner Frau geschlafen, kurz bevor ihr euch getrennt habt«, presste er dann mühsam heraus.

Stumm schaute Adrian ihn an, sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, lediglich in seinen Augen blitzte Betroffenheit auf.

»Ihr hattet Streit und sie kam zu mir, weil sie jemanden zum Reden brauchte. Ich habe sie getröstet, dabei ist es passiert«, fuhr Callan leise fort. »Ich weiß nicht, was damals in mich gefahren ist, ich war jung und dumm und dachte überhaupt nicht an dich. Es war für mich ein schneller Spaß, so wie mit allen anderen Frauen auch. Aber ich will mich nicht rausreden, natürlich war mir bewusst, was ich da tue, und ich habe es all die Jahre bitter bereut, das darfst du mir glauben.«

»Und warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?«, wollte Adrian wissen, ohne eine Miene zu verziehen.

Seine Stimme klang ein wenig rau, an seiner Wange zuckte ein Muskel, und Callan spürte, dass er mehr schockiert war, als er es sich nach außen hin anmerken ließ.

»Weil ich die ganze Zeit zu feige dazu war, und weil Joyce mir geraten hat, reinen Tisch zu machen«, gab er ehrlich zu.

»Sie liebt dich wohl sehr«, stellte Adrian fest.

Callan nickte. »Ja, das tut sie. Sie ist das Beste, was mir je passiert ist.«

Für einen Moment war es still in dem geräumigen Büro, dann räusperte Callan sich. »Wie gesagt, ich weiß, dass es keine Entschuldigung für mein Verhalten gibt, und ich könnte verstehen, wenn du jetzt nichts mehr mit mir zu tun haben willst.«

Abrupt sprang Adrian auf, durchquerte mit großen Schritten den Raum und blieb schließlich vor der breiten Fensterfront stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Blick ziellos in die Ferne gerichtet.

»Du warst nicht der Einzige«, sagte er schließlich, ohne sich umzudrehen. »Während ich mich hier in der Firma krumm und bucklig geschuftet habe, um Florence ein sorgloses Leben zu bieten, ist sie mit anderen Kerlen ins Bett gestiegen. Ich war ihr zu langweilig, zu ernst, zu spießig, da hat sie sich ihr Vergnügen woanders gesucht.«

»Aber … ich … du hast nie einen Ton davon gesagt«, stammelte Callan verstört.

Sein Bruder fuhr herum, spürbar aufgewühlt. »Was glaubst du wohl, warum nicht? Denkst du, ich war stolz darauf, dass meine Frau sich durch halb Stillwell schläft? Oder meinst du, ich wollte von allen Seiten genauso mitleidig belächelt werden wie unser Vater, nachdem Mutter ihn ständig betrogen hat?« Mit einem bitteren Auflachen schüttelte Adrian den Kopf. »Nein, das habe ich lieber für mich behalten.«

Callan war sichtlich erschüttert. »Und ich habe all die Jahre angenommen, ich wäre der Grund für eure Trennung gewesen.«

»Nein, das warst du nicht.« Als Adrian Callans unglückliches Gesicht bemerkte, hob er mit einer hilflosen Geste die Hände, fuhr sich dann durchs Haar und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ich habe schon lange damit abgeschlossen, und du solltest es ebenfalls tun, du brauchst dir keine Vorwürfe mehr zu machen. Wenn solche Dinge passieren, gehören immer zwei dazu, und du bist schließlich mein Bruder. Ich werde dich also weder rauswerfen, noch werde ich dir kurz vor deiner Heirat das Nasenbein brechen, obwohl du das verdient hättest. Ich möchte doch, dass du auf den Hochzeitsfotos gut aussiehst.« Er zog Callan von der Couch hoch, umarmte ihn fest. »Es ist alles in Ordnung zwischen uns, und falls du mich als Trauzeugen haben willst, würde ich mich freuen«, versicherte er.

»Danke«, murmelte Callan gerührt, »ich bin so froh und es tut mir wirklich unendlich leid.«

»Schon gut.« Adrian schmunzelte. »Wenn du mir versprichst, dass du in Zukunft keine Dummheiten mehr machen wirst, vergessen wir das Ganze.«

»Versprochen«, nickte Callan ernst und fügte dann mit einem Augenzwinkern hinzu: »Dafür wird Joyce garantiert sorgen.«

***

»Okay, Timmy schläft«, verkündete Callan, als er aus dem vorderen Schlafzimmer kam. »Ich habe mir mit ihm noch eines der alten Kinderbücher deines Vaters angeschaut, und beim Lesen sind ihm die Augen zugefallen.« Mit einem kleinen Grinsen fügte er hinzu: »Und übrigens hat er es sich auf deiner Seite bequem gemacht.«

Jetzt, schoss es Joyce durch den Kopf, jetzt ist der passende Moment. »Callan, ich …«

In der gleichen Sekunde kam Rose Porter, Joyces Großmutter, aus der Küche. »Kinder, setzt euch doch für einen Augenblick mit mir ins Wohnzimmer, ich möchte etwas mit euch besprechen.«

»Granny, muss das ausgerechnet jetzt sein?«, fragte Joyce unwillig.

»Ich weiß, dass ihr wegen der Hochzeit im Stress seid, aber es ist wichtig«, beharrte Rose, während sie in ihrem Schreibtisch herumkramte und schließlich ein Dokument hervorzog.

»Na komm Sprosse, sei nicht schon wieder so störrisch«, schmunzelte Callan und zog Joyce mit sich auf die Couch.

Erwartungsvoll schauten sie die grauhaarige, ältere Dame an.

»Also, ich mache es kurz«, begann sie. »Mit Joyce habe ich ja bereits vor ein paar Wochen darüber gesprochen – ich werde euch die Ranch überschreiben. Ich bin nicht mehr die Jüngste und die ganze Arbeit hier wird mir langsam zu viel. Ich möchte meinen Lebensabend genießen und ziehe zu Millie nach Crystal City, sobald ihr aus euren Flitterwochen zurück seid. Ich weiß, dass bei euch alles in guten Händen sein wird.«

Sie reichte Callan das Schriftstück. Es war eine Schenkungsurkunde, ausgestellt auf die Namen Joyce und Callan McDermott, datiert auf den Tag ihrer Hochzeit.

»Aber … was …«, stotterte er verwirrt, »Rose, das kannst du nicht machen. Was ist mit dem Öl? Hast du eigentlich eine Ahnung, was die Ranch und das Land wert sind, wenn die Probebohrung erfolgreich verläuft?«

Rose lächelte. »Und ob ich das kann. Joyce erbt sowieso einmal alles, ihr Vater hat ja sein Geschäft in New York und sich nie für die Ranch interessiert, sondern nur für seine Luxuskarossen. Also kann ich es euch auch gleich überlassen, jetzt seid ihr noch jung und könnt etwas damit anfangen. Außerdem«, sie zwinkerte vielsagend, »werdet ihr sicher irgendwann Nachwuchs bekommen, und könnt mein Zimmer gut gebrauchen.«

Jetzt, dachte Joyce, jetzt sage ich es ihm. »Apropos …«

Weiter kam sie nicht, denn im selben Moment flog die Eingangstür auf.

Entgeistert starrten sie auf den schwarzhaarigen Mann, der sich schwankend am Türrahmen festhielt und sie grimmig anschaute. »Herzlichen Glückwunsch Callan«, stieß er undeutlich hervor. »Schade, dass du es nicht für nötig gehalten hast, mir mitzuteilen, dass du heiratest, geschweige denn, mich zur Hochzeit einzuladen.«

***

Sekundenlang war es totenstill im Raum. Dann hatte Callan sich von seiner Überraschung erholt und sprang auf. »Was willst du hier?«

Unsicher machte Charles McDermott ein paar Schritte auf ihn zu. »Was ich hier will? Dich daran erinnern, dass du mir ein bisschen Respekt schuldest.«

»Ich schulde dir überhaupt nichts«, erwiderte Callan mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Du bist betrunken, du solltest lieber gehen.«

»Ja, ich bin betrunken«, gab Charles grinsend zurück. »Was dagegen? Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen, schließlich schaust du selbst oft genug tiefer ins Glas.«

»Stimmt, das habe ich getan«, fuhr Callan ihn an, »und dreimal darfst du raten, weshalb. Um nicht an die Hölle denken zu müssen, die ich dank dir jahrelang erleben durfte. Oder glaubst du, ich hätte all die Prügel vergessen, die wir von dir bezogen haben? Dass du Mutter rausgeworfen hast? Dass du Lauren auf die Straße gesetzt hast, als sie schwanger war? Oh nein, ich habe es nicht vergessen, nicht einen einzigen Tag. Und dann wagst du dich, hierher zu kommen und dich zu beklagen, dass du nicht zur Hochzeit eingeladen bist? Mach, dass du verschwindest, und lass dich nie mehr hier blicken.«

»Deine Mutter war eine Schlampe«, erklärte Charles mit schwerer Zunge, »und deine Schwester ist auch nicht besser. Sie haben es nicht anders verdient.«

Callan ballte die Fäuste und wollte sich auf ihn stürzen, doch Rose und Joyce, die bis jetzt schweigend zugehört hatten, sprangen gleichzeitig auf und hielten ihn zurück.

»Tu das nicht«, beschwichtigte Joyce ihn und griff nach seiner Hand. »Das ist es nicht wert.«

Charles wankte auf Joyce zu, musterte sie von oben bis unten und verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Du bist also die glückliche Braut? Na dann viel Spaß, ich hoffe, du weißt, worauf du dich da eingelassen hast. Du wirst einen Mann bekommen, der die Finger nicht vom Whiskey und den Weibern lassen kann.«

»Das reicht, Charles«, mischte Rose sich nun ein. »Entweder mäßigst du deinen Ton, oder …«

»Halt dich da raus, das ist meine Angelegenheit und ich regele das alleine«, unterbrach Callan sie unwirsch. Beschützend stellte er sich vor Joyce. »Du solltest jetzt besser still sein«, sagte er dann gefährlich leise zu seinem Stiefvater. »Verschwinde und wage es nicht, hier jemals wieder aufzukreuzen oder meiner Frau zu nahe zu kommen.«

»Das ist also der Dank dafür, dass ich dich jahrelang wie einen eigenen Sohn großgezogen habe, du Bastard«, stieß Charles hervor. »Denkst du, mir ist das leichtgefallen? Meinst du, es hätte mir nichts ausgemacht, ständig den Beweis für die Hurerei meiner Ehefrau vor Augen zu haben? Trotzdem war ich immer bemüht, euch ein guter Vater zu sein. Ja, ich habe getrunken und mir ist oft die Hand ausgerutscht. Aber wer war es denn, der sich um euch gekümmert hat, während eure Mutter irgendwo herumgestreunt ist und die Beine für andere Kerle breitgemacht hat? Wer hat denn dafür gesorgt, dass ihr Essen und Kleidung hattet, und eine anständige Ausbildung? Ich hätte das alles nicht tun müssen, und ehrlich gesagt, bereue ich es zutiefst. Ich hätte dich und deine Geschwister mitsamt eurer verlotterten Mutter vor die Tür setzen sollen, dann müsste ich jetzt hier nicht wie ein Bittsteller vor dir stehen.«

Obwohl der Alkohol seine Aussprache beeinträchtigte, war doch deutlich zu hören, wie gekränkt er war, und der Blick, mit dem er Callan maß, unterstrich das noch.

Sanft drückte Joyce Callans Hand. »Vielleicht sollten wir …«

»Nein«, fiel er ihr schroff ins Wort und blitzte seinen Vater an. »Es gibt keine Entschuldigung für das, was du uns angetan hast. Du hast uns für die Verfehlungen unserer Mutter büßen lassen und das werde ich dir nie verzeihen. Für mich bist du gestorben – und jetzt geh mir aus den Augen.«

Einen Moment lang starrte Charles ihn an, dann wankte er zur Tür und drehte sich dort erneut zu ihnen um. »Du wirst noch an mich denken, Callan«, stieß er zornig hervor. »Ich wünsche dir trotzdem alles Gute, und vor allem wünsche ich dir, dass deine Kinder nicht nach dir geraten.«

»Keine Sorge«, gab Callan verächtlich zurück, »es wird keine Kinder geben, denn auf keinen Fall will ich so ein mieser Vater werden wie du.«

***

Am Freitag war die Küche der Porter-Ranch mit hektischer Betriebsamkeit gefüllt. Joyce, Rose und ihre Schwester Millie Campbell sowie zwei von Roses Bekannten aus Stillwell waren damit beschäftigt, das Essen für die Hochzeit vorzubereiten. Callan war bereits am frühen Morgen verschwunden, er hatte Timmy zur Schule gebracht und war anschließend mit Adrian nach San Antonio gefahren, um seinen Anzug und die Ringe abzuholen.

Während die Frauen alle fröhlich durcheinander schnatterten, bestrich Joyce geistesabwesend einen Tortenboden mit einer Nugatcreme. Noch immer hatte sie sich nicht richtig von dem gestrigen Abend erholt; das plötzliche Auftauchen von Charles McDermott hatte ihren Vorsatz, endlich mit Callan zu reden, zunichtegemacht. Als sie später im Bett gelegen hatten, hatte sie gespürt, dass er nach wie vor sehr unter den schrecklichen Erlebnissen seiner Kindheit litt. Trost suchend hatte er sich an sie geklammert, sie hatte ihn liebevoll im Arm gehalten und gestreichelt, bis er eingeschlafen war. Vor einigen Wochen noch wäre er nach diesem Zusammentreffen vermutlich in die Cactus-Bar gefahren und hätte seinen Kummer im Whiskey ertränkt. Sie war froh gewesen, dass er stattdessen bei ihr geblieben war, und hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zusätzliche Aufregung zuzumuten, besonders nicht nach dem letzten Satz, den er Charles an den Kopf geworfen hatte.

Vielleicht findet sich heute eine Gelegenheit, dachte sie frustriert, obwohl ihr bei dem Gedanken an Callans Reaktion bereits wieder ziemlich mulmig wurde.

Irgendwann gegen Mittag klopfte es an die Haustür.

»Ich gehe schon, das wird sicher der Bote mit den Blumengestecken sein«, sagte Joyce und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab.

Sie durchquerte den Wohnraum, öffnete, und schaute überrascht die junge Frau mit den hellblonden Haaren an, die leicht verlegen vor der Tür stand.

»Hallo Joyce«, grüßte Lauren zaghaft.

»Lauren, wie schön dich zu sehen«, lächelte Joyce herzlich, »komm rein.«

»Ich … ich dachte, ihr könntet vielleicht noch Hilfe gebrauchen.«

»Natürlich, gerne. Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht, da ist mir jede helfende Hand willkommen.«

Joyce wollte sie in die Küche schieben, aber Lauren blieb stehen. »Warte, bevor wir da reingehen, möchte ich mich bei dir entschuldigen. Es tut mir leid, dass ich dir die ganze Zeit aus dem Weg gegangen bin.«

»Schon gut, es muss dir nicht leidtun«, beruhigte Joyce sie. »Ich kann es verstehen und bin dir nicht böse.«

»Ich habe mich so geschämt«, gestand Lauren bedrückt. »Wir hatten damals doch immer so große Zukunftspläne und was ist daraus geworden? Du hattest dein aufregendes Leben in New York und dein tolles Kunststudium, während ich es lediglich fertiggebracht habe, mit gerade mal sechzehn Jahren ein uneheliches Kind zu bekommen.«

Spontan legte Joyce ihr den Arm um die Schultern und drückte sie. »Es gibt nichts, wofür du dich schämen müsstest«, betonte sie. »Timmy ist wirklich ein total süßer Junge, du kannst stolz auf ihn sein.« Nach einer kurzen Pause fügte sie schmunzelnd hinzu: »Und außerdem siehst du ja, was mir mein tolles Kunststudium eingebracht hat – ich werde deinen Bruder heiraten.«

Lauren lachte. »Stimmt, da fragt man sich tatsächlich, wen von uns beiden es schlimmer getroffen hat.«

Sie fingen an, zu kichern, und fast augenblicklich war die alte Vertrautheit und Verbundenheit wieder da.

»Ich bin froh, dass Callan endlich in festen Händen ist«, erklärte Lauren zufrieden, »ich habe dir doch gesagt, das wird noch etwas mit euch.«

»Das war auch ein harter Kampf«, schmunzelte Joyce und dachte kurz an die Turbulenzen der letzten Monate. »Aber es hat sich gelohnt.«

Lauren nickte. »Ja, Callan ist wirklich ein lieber Kerl, und das sage ich nicht nur, weil er mein Bruder ist. Und wenn ich sehe, wie liebevoll er mit Timmy umgeht, bin ich mir sicher, dass er irgendwann ein toller Vater werden wird.«

»Ja«, murmelte Joyce gedehnt, »das wird er bestimmt.«

2

Es war später Nachmittag, als Callan und Adrian aus San Antonio zurückkehrten. Nachdem er seinen Bruder auf der Porter-Ranch abgesetzt hatte, fuhr Adrian direkt nach Crystal City, wo sich das gläserne Bürogebäude der Dermoil Company befand. Er betrat den Fahrstuhl und drückte den Knopf für die oberste Etage. Kurz darauf saß er in seinem Büro, schaltete seinen PC ein und vertiefte sich in die Tagespost. Anschließend schaute er die Unterschriftsmappe durch, die Darcy ihm auf den Tisch gelegt hatte, überflog die Dokumente und unterzeichnete sie. Während er seine E-Mails checkte, warf er einen Blick auf die Uhr. Es war beinahe sechs. Um sieben sollte er in Stillwell in der Cactus-Bar sein, um mit Callan dessen Junggesellenabschied zu feiern.

Er seufzte leise. Große Lust hatte er nicht, ihm stand der Sinn nicht nach Party und Vergnügen, weder heute, noch sonst. Seit der Trennung von Florence hatte er sich in seiner Arbeit vergraben; er war frühmorgens der Erste, der die Firma betrat, und spät am Abend der Letzte, der ging. Selbst an den Wochenenden kümmerte er sich um die Geschäfte, es verging selten ein Samstag oder Sonntag, an dem er nicht in Unterlagen vertieft in seinem Haus saß. Die einzigen privaten Anlässe, für die er sein Domizil verließ, waren gelegentliche Treffen mit seinen Geschwistern, ansonsten hatte er sich völlig von seiner Umwelt abgeschottet. Er war nicht unglücklich mit diesem Leben, er liebte seine Arbeit und seine Firma. Durch seinen unermüdlichen Einsatz hatte er es geschafft, die Dermoil Company innerhalb kürzester Zeit von einem unbedeutenden Betrieb in ein konkurrenzfähiges Unternehmen mit hervorragenden Umsätzen zu verwandeln.

Auch jetzt wäre er lieber an seinem Schreibtisch sitzen geblieben, doch nach dem Gespräch mit Callan würde dieser es sicher falsch verstehen, wenn er der Feier fernblieb. Nachdem er noch ein paar Mails beantwortet hatte, fuhr er den PC wieder herunter, knipste das Licht aus, und wenig später saß er in seinem Lincoln und war auf dem Weg zur Party.

Nach einer knappen halben Stunde parkte er den Wagen vor der Cactus-Bar, dem örtlichen Saloon an der Mainstreet in Stillwell, einem kleinen Ort rund hundert Meilen südlich von San Antonio in Texas. Bereits von draußen schallte ihm laute Countrymusik entgegen, und als er den Schankraum betrat, befand er sich mitten in einer ausgelassenen Meute von Männern. Nach kurzem Zögern setzte er sich an den Tresen und schaute sich um. Er fühlte sich völlig fehl am Platz, was nicht nur daran lag, dass er der Einzige war, der einen Anzug und Krawatte trug.

»Jordan, noch eine Runde«, orderte Callan gerade.

»Cal, sauf nicht so viel, sonst liegst du unter dem Tisch, bevor die Stripperin da ist«, tönte es aus einer Ecke.

Alle lachten und ein anderer rief: »Solange wir ihn morgen Abend nicht auf seine Frau draufheben müssen, ist alles in Ordnung.«

Wieder ertönte Gelächter, und im gleichen Moment fiel Callans Blick auf Adrian. Mit dem Glas in der Hand ging er auf ihn zu und schob sich auf den Barhocker neben ihm. »Schön, dass du da bist.«

»Du weißt, dass ich das nur dir zuliebe tue«, lächelte Adrian schief.

Callan seufzte. »Ja, das ist mir bewusst. Aber du solltest öfter mal aus deinen vier Wänden rauskommen. Es tut dir nicht gut, immer alleine zu sein.«

Jordan, der Jüngste der vier McDermott-Geschwister, der wie fast jeden Abend hinter der Theke stand und die Getränke ausschenkte, gesellte sich zu ihnen. »Adrian, welch seltener Glanz in dieser bescheidenen Hütte«, grinste er und stellte ein Glas Bourbon vor ihn hin. »Sag bloß, du entdeckst auf deine alten Tage doch noch deine vergnügungssüchtige Seite.«

»Ich habe ihm auch gerade gesagt, dass er ab und zu mal unter die Leute gehen sollte«, schmunzelte Callan. »Es geht wirklich nichts über einen guten Whiskey mit ein paar Freunden und einen heißen Flirt mit einer hübschen Frau.«

»Lass das nur nicht Joyce hören«, mahnte Adrian mit einem kleinen Lächeln.

»Keine Angst, diese Zeiten sind vorbei«, grinste Callan. »Aber dir könnte es nicht schaden, dich mal wieder mit den Ladies zu beschäftigen.«

Adrian verzog das Gesicht. »Nein danke. Ich weiß, dass ihr euch Sorgen macht, doch ich komme sehr gut allein zurecht. Das Letzte, was ich in meinem Leben gebrauchen kann, ist eine Frau.«

***

Ein lautes Poltern riss Joyce gegen vier Uhr morgens aus ihren Träumen. Irritiert setzte sie sich auf, hörte undeutliches Gemurmel aus dem Wohnzimmer. Rasch sprang sie aus dem Bett und öffnete die Tür. Ihr Blick fiel auf Callan, der, rechts und links gestützt von Adrian und Jordan, durch den Wohnraum schwankte.

»Schbrosse«, nuschelte er, als er sie sah. »Du kannsht doch hier nisch sho im Naaachthemd rumlaufen. Du bringsht die Jungsh auf shlimme Gedanken.«

Joyce seufzte. »Okay, so ähnlich hatte ich es mir vorgestellt. Bringt ihn hier rein.«

Sie trat zur Seite und Jordan und Adrian schleppten Callan ins Schlafzimmer und luden ihn auf dem Bett ab.

»Sorry«, murmelte Adrian verlegen, »aber es war nun mal sein Junggesellenabschied.«

»Schon gut«, winkte sie ab, »ich sage ja gar nichts.«

»Schbrosse, komm zuuu mir«, verlangte Callan.

»Danke, dass ihr ihn nach Hause gebracht habt.«

Jordan lächelte. »Ehrensache, wir wollen schließlich, dass er morgen Mittag ausgeschlafen und munter ist.«

Joyce begleitete die beiden Männer zur Tür. »Gute Nacht«, wünschte sie ihnen leise.

»Gute Nacht.«

»Übrigens«, Jordan drehte sich noch einmal nach ihr um und zwinkerte ihr zu, »nur, damit es keine Missverständnisse zwischen euch gibt – er hat die Stripperin nicht angerührt.«

Mit einem kleinen Kopfschütteln schloss Joyce die Tür und ging zurück ins Schlafzimmer, wo Callan vergeblich versuchte, seine Stiefel auszuziehen.

»Komm her, ich mache das.« Sie streifte ihm die Schuhe ab, zog ihm anschließend das T-Shirt über den Kopf und öffnete seine Jeans.

»Schbrosse, weisht du eigentlish, wie verrückt ish naaach dir bin?«, murmelte er und schob seine Hände unter ihr Nachthemd.

»McDermott, du wirst dich jetzt brav hinlegen und schlafen«, ordnete sie an, während sie ihm mühsam die Hose auszog, »wir müssen bald wieder aufstehen.«

Er ließ sich nach hinten fallen, zog sie über sich und umfasste ihren Po. »Komm, lasch unsh anfangen, unsher Footballteam zu machen.«

Einen Moment lang betrachtete sie ihn liebevoll und dachte gleichzeitig daran, dass sie immer noch keine Gelegenheit gefunden hatte, mit ihm zu sprechen. Dann beugte sie sich zu ihm herunter und küsste ihn sanft. »Jetzt nicht, Liebling. Wenn du deinen Rausch ausgeschlafen hast und nach wie vor der Meinung bist, dass du ein Footballteam möchtest, können wir darüber reden.«

***

Adrian hatte Jordan an dessen Wohnung in Stillwell abgesetzt und war auf dem Heimweg. Während er auf dem Highway in Richtung Crystal City fuhr, schaltete er das Autoradio ein. Ein melancholischer Countrysong von Liebe und Einsamkeit erklang, und gedankenverloren lauschte er einen Moment.

Ja, manchmal fühlte er sich ein wenig verlassen und verloren, und sporadisch sehnte er sich nach ein bisschen Nähe und Wärme. Er war jetzt fast dreiunddreißig und seit acht Jahren allein. Es war nicht so, dass er grundsätzlich ein Problem mit Frauen hatte. Mit seinen schwarzen Haaren, seinen grauen Augen und seiner großen, kräftigen Statur war er durchaus ein Mann, der das andere Geschlecht anzog. Doch er war vorsichtig geworden, und die ein oder zwei Kontaktversuche, die er nach seiner Scheidung halbherzig unternommen hatte, waren sehr schnell gescheitert. Das hatte vor allem daran gelegen, dass er eigentlich nicht mehr bereit war, jemanden an sich heranzulassen. Die Tatsache, dass die Damen sofort Dollarzeichen in den Augen gehabt hatten, sobald sie herausfanden, wer er war, hatte sein Misstrauen noch verstärkt.

Nein, es war besser, wenn er alleine blieb, er konnte gut ohne eine Beziehung leben.

Er war inzwischen kurz vor Crystal City und verließ den Highway, bog auf die schmale Straße ab, die zu seinem Ranchhaus führte. Die Musik ging ihm plötzlich auf die Nerven, er beugte sich zum Radio und schaltete es aus. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte er nicht nach vorne gesehen, und als er wieder aufschaute, sah er die Lichter eines Fahrzeugs aus einem Seitenweg kommen. Abrupt trat er auf die Bremse und riss das Lenkrad herum, doch es war schon zu spät. Es gab einen Aufschlag, Metall krachte auf Metall, im gleichen Moment öffnete sich der Airbag. Der Lincoln bohrte sich in die Seite des anderen Wagens, schob ihn ein kleines Stück vor sich her, dann war alles still.

***

»Scheiße«, fluchte Melody Foster aus tiefstem Herzen, als sie das laute Krachen hörte, »verdammte Scheiße.« Normalerweise drückte sie sich gewählter aus, doch in diesem Augenblick fielen ihr keine anderen Worte ein.

Hektisch zerrte sie Höschen und Jeans nach oben, eilte zwischen den Büschen hindurch auf die Straße und blieb entsetzt stehen. Dort, wo eben noch ihr Wagen gestanden hatte, war nichts als gähnende Leere. Dafür sah sie in ein paar Metern Entfernung zwei ineinander verkeilte Fahrzeuge und eine große, breitschultrige Silhouette, die jetzt in das Licht der Scheinwerfer trat.

»Ist alles in Ordnung?«, rief sie besorgt, während sie auf den Mann zueilte. »Haben Sie sich verletzt?«

Adrian warf einen kurzen Blick auf das Blechchaos und wandte sich dann in ihre Richtung. »Sind Sie eigentlich noch zu retten?«

Sie stellte sich neben ihn und betrachtete unglücklich die zwei verbeulten Wagen. Der schwere, silbergraue Lincoln hatte nicht allzu viel abbekommen, lediglich die Stoßstange hing an einer Seite herunter, ein Scheinwerfer war kaputt und die Motorhaube rechts vorne leicht zusammengeschoben. Ihren kleinen, blauen Chevrolet Aveo allerdings hatte es richtig erwischt. Der Kotflügel war vollkommen demoliert, das Rad stand schief, die Fahrertür nebst Mittelholmen war eingedrückt, der Rahmen komplett verzogen.

»Es tut mir leid«, sagte sie schuldbewusst, »das wollte ich nicht.«

»Wie um alles in der Welt kann denn so etwas passieren?«

»Ich musste mal, und da habe ich das Auto abgestellt, bin ausgestiegen und habe mir ein Gebüsch gesucht. Und als ich wieder auf die Straße kam …« Sie stockte und zuckte hilflos mit den Achseln.

»Es gibt da so eine praktische Erfindung, die nennt sich Handbremse«, knurrte Adrian ungehalten.

Sie biss sich auf die Lippe. »Ich musste ziemlich dringend und da habe ich den Wahlhebel wohl versehentlich auf den Leerlauf gestellt anstatt auf Parken.«

Kopfschüttelnd besah er sich den Schaden. »Da haben Sie ganze Arbeit geleistet. Wie kann man nur so schusselig sein?«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es tut mir so leid«, schniefte sie.

Oh nein, bitte nicht, schoss es ihm unbehaglich durch den Sinn. Das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte, war eine weinende Frau.

»Beruhigen Sie sich, es ist halb so schlimm«, sagte er hastig, zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr.

Er überlegte einen Moment. Eigentlich waren sie verpflichtet, den Unfall zu melden. Doch es war niemand verletzt und er kannte den Deputy gut. In Anbetracht der späten Uhrzeit würde es sicher reichen, wenn er ihn morgen kurz anrief.

»Ich denke, wir können das ohne Polizei regeln«, schlug er daher vor. »Geben Sie mir Ihre Versicherungskarte, ich notiere mir die Daten und werde den Schaden dann dort geltend machen.«

»In Ordnung.« Sie kniete sich auf den Beifahrersitz des Aveo, knipste die Innenbeleuchtung an, öffnete das Handschuhfach und wühlte eine Weile hektisch darin herum. Alles Mögliche kam zutage, jedoch keine Versicherungskarte.

»Ich … ich kann sie nicht finden«, murmelte sie enttäuscht und drehte sich wieder zu ihm um.

Adrian runzelte die Stirn. »Sie sind doch hoffentlich versichert?«

»Ja, natürlich, ich weiß im Moment bloß nicht, wo ich die Karte habe.«

»Also gut«, seufzte er genervt, »ich sehe schon, das hat jetzt sowieso keinen Sinn. Sie stehen völlig neben sich und ich bin müde, am besten vertagen wir das Ganze. Wir schieben Ihren Wagen an die Seite, dann werde ich Sie nach Hause bringen, Sie schlafen sich erst mal aus und danach schauen wir weiter.«

Er trat zu ihrem Auto, griff durch das geöffnete Fenster ans Lenkrad, stemmte sich gegen den Rahmen und setzte so den Aveo langsam in Gang. »Es ginge schneller, wenn Sie mithelfen würden«, brummte er dabei über die Schulter.

Melody legte ihre Hände an das Heck und begann zu schieben. Wenige Minuten später hatten sie den Wagen so weit an den Straßenrand gerollt, dass keine Gefahr für andere Fahrzeuge bestand.

»Stellen Sie zur Sicherheit noch das Warndreieck auf«, wies Adrian sie an, während er auf seinen Lincoln zuging. Er beugte sich zu der Stoßstange herunter, die halb auf dem Boden hing, und ruckelte prüfend daran herum. Schließlich riss er sie mit einer energischen Bewegung komplett ab und warf sie in den Kofferraum. Dann wandte er sich Melody zu, die ratlos neben dem Aveo stand.

»Was ist los?«, fragte er ungeduldig.

»Ich habe kein Warndreieck«, gestand sie kläglich.

Er verzog das Gesicht. »Warum wundert mich das nicht?«, knurrte er und ließ noch ein ungläubiges »Nicht zu fassen« folgen, als er sein eigenes Warndreieck aus dem Wagen nahm und es hinter dem Wrack des Aveo aufstellte.

Danach strebte er mit großen Schritten auf seinen Lincoln zu, stieg ein und stopfte den mittlerweile wieder erschlafften Airbag notdürftig ins Lenkrad zurück. Als er den Zündschlüssel herumdrehte, sprang der Motor zu seiner Erleichterung ohne Probleme an. Er lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Tür. »Kommen Sie.«

Unsicher blieb Melody stehen und sah ihn an.

»Was ist denn jetzt?«, fragte er unwirsch. »Ich würde irgendwann gerne schlafen, also steigen Sie endlich ein, oder wollen Sie lieber nach Hause laufen?«

»Ich wohne nicht hier«, erklärte sie niedergeschlagen.

»Gut, dann bringe ich Sie in ein Motel.«

Sie warf ihm einen unglücklichen Blick zu. »Das geht nicht.«

»Und warum nicht?«, wollte er gereizt wissen.

»Ich habe nur noch zehn Dollar«, gab sie mit brüchiger Stimme zu, und er hörte, dass sie schon wieder kurz davor war, in Tränen auszubrechen.

Das glaube ich nicht, ging es ihm entnervt durch den Kopf, das kann alles nicht wahr sein. Er überlegte einen Moment, ob er nicht doch besser sein Handy nehmen und den Deputy anrufen sollte. Bis der allerdings hier wäre, würden mindestens weitere dreißig Minuten vergehen, und er sehnte sich danach, endlich in seinem Bett zu liegen und die Augen zuzumachen. In wenigen Stunden war Callans Hochzeit, und bis dahin musste er munter und halbwegs ausgeruht sein. Die Frau einfach hier stehen zu lassen, brachte er trotz seines Ärgers auch nicht fertig, also blieb ihm keine große Wahl.

»In Ordnung«, seufzte er schließlich, »steigen Sie ein, ich nehme Sie mit zu mir, Sie können in meinem Gästezimmer schlafen.« Als sie schwieg, fügte er sarkastisch hinzu: »Keine Angst, ich bin zu müde, um über Sie herzufallen.«

Melody zögerte und versuchte, sein Gesicht in der Dunkelheit zu erkennen. Wie ein Verbrecher sah er nicht aus, und wenn er beabsichtigte, ihr irgendetwas zu tun, hätte er schon längst Gelegenheit dazu gehabt. Außerdem hatte sie keine andere Option, es sei denn, sie wollte hier im Auto übernachten, mitten in der Pampa und mutterseelenallein.

»Okay«, nickte sie, »ich hole nur noch meine Sachen.« Sie öffnete die hintere Tür des Aveo, nahm einen Rucksack von der Rückbank und Sekunden später saß sie neben Adrian auf dem Beifahrersitz.

Er fuhr los und nach einer ganzen Weile des Schweigens sagte er: »Ich bin übrigens Adrian McDermott.«

»Melody Foster.«

»Sie kommen aus Louisiana?« Als sie ihn irritiert anschaute, fügte er hinzu: »Ihr Kennzeichen – mir ist der Pelikan aufgefallen.«

»Ach so, ja, ich bin aus New Orleans.«

»Verraten Sie mir auch, was Sie um diese Uhrzeit in dieser gottverlassenen Gegend tun?«

Melody presste die Lippen zusammen und warf ihm einen unsicheren Seitenblick zu. »Das ist eine lange Geschichte.«

***

Knappe zehn Minuten später parkte Adrian den Wagen vor einem Ranchhaus im Stil einer mexikanischen Finca. Zögernd stieg Melody aus und folgte ihm nach drinnen. Sie befanden sich in einer geräumigen Eingangshalle. Durch einen breiten Türbogen konnte sie im Halbdunkel einen großen Wohnraum erkennen. Rechts und links davon gab es weitere Türen, an einer Seite führte eine Treppe nach oben.

Adrian zog sein Jackett aus und warf es achtlos auf einen Stuhl. Dann drehte er sich zu ihr um und musterte sie. Sie war ein gutes Stück kleiner als er, zierlich, trug Turnschuhe, ausgefranste Jeans und ein ausgeleiertes, grellbuntes T-Shirt. Goldblondes Haar fiel ihr in wilden Locken über die Schultern, an den Ohren baumelten überdimensionale, goldene Kreolen mit unzähligen Münzen daran. Über einem vollen, fein geschwungenen Mund und einer schmalen Nase blickten ihn ein Paar grüne Augen offen und gleichermaßen aufmerksam an.

Er bemerkte, dass sie ausgesprochen blass war. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er besorgt. »Soll ich vielleicht einen Arzt rufen?«

Melody schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin okay. Mir sitzt bloß der Schreck noch in den Knochen, und ich bin ein bisschen mitgenommen und müde.«

Nach kurzem Zögern nickte er. »In Ordnung, dann zeige ich Ihnen jetzt, wo Sie schlafen können.«

Er stieg die Treppe hinauf und sie folgte ihm. Oben angekommen öffnete er eine der Türen und knipste das Licht an. »Das hier ist das Gästezimmer und dort am Ende des Gangs«, er wandte sich um und zeigte auf eine andere Tür, »ist das Bad.«

Melody machte einen zaghaften Schritt in den Raum hinein.

»Brauchen Sie noch etwas?«, wollte er wissen, und als sie den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Dann gute Nacht, ruhen Sie sich aus, alles Weitere klären wir später.«

»Gute Nacht«, wünschte sie ihm leise, »und vielen Dank.«

Er sagte nichts mehr und zog die Tür hinter sich zu.

Erschöpft und nach wie vor leicht benommen ließ Melody sich aufs Bett sacken. Sie streifte die Schuhe ab, zog sich die Jeans aus, kuschelte sich in die Kissen, rollte sich zusammen und zog die Decke über sich.

Kerry, war ihr letzter Gedanke, bevor sie einschlief, wenn ich dich in die Finger kriege, drehe ich dir den Hals um.

***

Ein köstlicher Duft nach gebratenem Speck riss Melody aus ihrem Schlaf. Irritiert setzte sie sich auf, blinzelte ein paar Mal und versuchte, sich zu orientieren. Dann fiel es ihr wieder ein. Der Unfall.

Rasch sprang sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hose und zog die Schuhe an. Sie verließ das Zimmer, tappte über den Flur und betrat das Bad. Eigentlich hatte sie nur eine Katzenwäsche geplant, doch als sie die luxuriöse und einladende Ausstattung sah, konnte sie nicht widerstehen. Eilig lief sie zurück in das Gästezimmer, klaubte sich frische Sachen aus ihrem Rucksack und stand kurz danach in der Dusche. Wohlig rekelte sie sich unter dem heißen Strahl, und als sie zwanzig Minuten später die Treppe hinabstieg, fühlte sie sich erfrischt und munter.

Hinter einer der Türen hörte sie leises Geklapper und entschlossen steuerte sie darauf zu. Sie betrat eine Küche, die mit einer spartanisch wirkenden Küchenzeile ausgestattet war, welche sich in dem großen Raum völlig verlor. Der Mann, der sich ihr als Adrian McDermott vorgestellt hatte, stand in einer dunkelgrauen Anzughose und einem hellblauen Hemd am Herd, briet Eier in einer Pfanne und hantierte nebenbei mit dem Toaster.

»Guten Morgen«, grüßte sie ihn zaghaft, während sie auf ihn zuging.

Er drehte sich zu ihr um. »Hallo. Haben Sie gut geschlafen?«

»Ja«, nickte sie, »und nochmals vielen Dank.«

»Schon gut«, wehrte er ab. »Ich nehme an, Sie haben Hunger?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, deutete er auf den kleinen Tisch, der vor einem der Fenster stand und bereits gedeckt war. »Setzen Sie sich.«

Wenig später kam er zu ihr, goss ihr Kaffee ein, füllte ihr Rührei und Speck auf den Teller und legte eine Scheibe Toastbrot dazu. »Essen Sie«, forderte er sie auf, als er sich ihr gegenüber niederließ.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie tatsächlich ziemlich hungrig war. Ihre letzte Mahlzeit war ein vertrockneter Donut gewesen, den sie sich gestern Morgen an einer Tankstelle gekauft hatte. Während sie aß, spürte sie seinen Blick auf sich und bemühte sich, nicht allzu sehr zu schlingen. Vermutlich hielt er sie sowieso schon für eine Landstreicherin, da musste sie das Bild nicht auch noch durch schlechte Tischmanieren verstärken.

»Gut«, durchbrach er nach einer Weile das Schweigen, »ich höre.«

»Was?«

»Sie sagten heute Morgen, es wäre eine lange Geschichte – also erzählen Sie.«