Unverhofft – Die McDermotts Band 8

Ebook & Taschenbuch

Als Tony Sullivan erfährt, dass sie vier Geschwister hat, von denen sie bisher nichts wusste, schleicht sie sich unter einem Vorwand in die Familie ein. Dabei lernt sie ihren Halbbruder Callan kennen und platzt in einem Moment der Offenheit mit der Wahrheit heraus. Trotz seiner anfänglichen Überraschung bietet er ihr an, auf seiner Ranch zu arbeiten, was Tony begeistert annimmt.
Dies gefällt seinem Geschäftspartner Reece überhaupt nicht, denn er hat Tony und Callan bei einer Umarmung beobachtet und ist sicher, dass die beiden ein Verhältnis miteinander haben. Aus Freundschaft zu Callan und dessen Frau Joyce setzt er alles daran, die vermeintliche Geliebte von der Ranch zu vertreiben, doch Tony erweist sich nicht nur als hartnäckig, sondern auch als äußerst anziehend. Als Reece dann plötzlich doch Tonys Hilfe braucht, beginnt eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Loyalität, Sehnsucht und großen Gefühlen …

Kapitel 1

Mein geliebtes Kind,

sicher wunderst Du Dich, was das alles zu bedeuten hat. Aber ich wollte, dass Du zunächst Dein Studium beendest, bevor Du die Wahrheit über Deine Herkunft erfährst, deswegen habe ich den Anwalt beauftragt, Dich erst nach dem Abschluss Deines Masterdiploms zu kontaktieren, spätestens jedoch an Deinem dreißigsten Geburtstag.

Du weißt, dass ich Dir immer erzählt habe, Dein Vater sei eine Zufallsbekanntschaft gewesen, und ich wüsste nichts weiter über ihn. Dies stimmt nicht. Ich kannte ihn sehr gut, wir waren viele Jahre ein Paar – heimlich, denn er war verheiratet. Ich wünschte, ich hätte Dir eher die Wahrheit sagen können, doch ich hatte ihm versprochen, Stillschweigen über unser Verhältnis zu bewahren.

Er ist inzwischen verstorben, und da meine Tage ebenfalls gezählt sind, habe ich mich entschlossen, mein Schweigen zu brechen. Es gibt ein Testament, in welchem er Dir sein gesamtes Vermögen vermacht hat. Dabei handelt es sich um ein großes Stück Land, und nach allem, was Charles immer erzählt hat, liegt darunter wohl jede Menge Öl. Er wusste, dass ich krank bin und nicht mehr lange für Dich sorgen kann, und er wollte, dass Deine Zukunft nach meinem Tod gesichert ist.

Allerdings solltest Du Dich darauf einstellen, dass Du um Dein Recht kämpfen musst, denn es gibt vier weitere Kinder von Charles. Zwar hat er sie in seinem Testament enterbt, aber ich fürchte, sie werden trotzdem versuchen, Dir das Erbe streitig zu machen. Er hat nie gut über sie gesprochen, er hielt sie für nichtsnutzig und war sicher, dass er gar nicht der leibliche Vater ist. Doch sie sind ehelich geboren und könnten somit Ansprüche erheben, also stell Dich darauf ein, dass es keine leichte Sache werden wird, Dir zu holen, was Dir zusteht.

Der Anwalt wird Dir eine beglaubigte Kopie des Testaments aushändigen, ebenso eine beglaubigte Abschrift Deiner Geburtsurkunde, die zweifelsfrei belegt, dass Charles McDermott Dein Vater ist. Er wird Dich auch in allen rechtlichen Angelegenheiten vertreten und Dir mit Rat und Tat zur Seite stehen, Du kannst ihm vertrauen.

Ich küsse und umarme Dich, in Liebe, Mom

 

Vollkommen erschüttert ließ Tony Sullivan den Brief ihrer Mutter sinken. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, als sie die Kanzlei Carney & Engel in Downtown San Antonio betreten hatte, aber mit einer solchen Nachricht hatte sie nicht gerechnet.

Robert Carney, ein älterer Herr mit grauem Haar und einer freundlichen Ausstrahlung, beobachtete sie aufmerksam. »Mir ist bewusst, dass das ein ziemlicher Schock für Sie sein muss, immerhin ist Ihre Mutter nun seit knapp einem Jahr tot. Nehmen Sie sich ruhig Zeit, um diesen Schreck zu verdauen. – Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«

Tony schluckte ein paarmal und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Es geht schon wieder.«

»Gut. Dann kommen wir zu den Dokumenten.« Er reichte ihr eine Mappe. »Hier drin sind alle Papiere, die Sie brauchen.«

Mit zitternden Fingern griff Tony nach den Unterlagen. Sie warf einen kurzen Blick auf die Geburtsurkunde, in der Charles McDermott als Vater eingetragen war. Dann studierte sie das Testament. Ihr Herz klopfte wild, während sie versuchte, die eckige, unleserliche Handschrift zu entziffern. Als sie es endlich geschafft hatte, verschwamm der Text vor ihren Augen.

Es stimmte tatsächlich. Charles McDermott hatte seine vier leiblichen Kinder komplett vom Erbe ausgeschlossen. Sie war die Alleinerbin seines gesamten Besitzes, wobei es sich um eine Ranch von rund 500 Hektar handelte. Angehängt an das Testament war ein geologisches Gutachten, aus dessen Inhalt zu entnehmen war, dass unter dem Land mit hoher Wahrscheinlichkeit Ölvorkommen lagen.

Tony atmete tief ein, als sie die wahre Tragweite dieser Zeilen erfasste: Eine unvorstellbare Menge an Reichtum lag in ihren Händen.

»Das ist unglaublich«, flüsterte sie leise. »Ich hatte keinerlei Ahnung, wer mein Vater ist, geschweige denn, dass er so viel besessen hat.«

Der Anwalt nickte verständnisvoll. »Ja, Ihr Vater hat Ihnen ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Allerdings«, er verzog bedauernd das Gesicht, »muss ich Sie darauf vorbereiten, dass es wahrscheinlich zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommen wird. Ihre Geschwister könnten das Testament anfechten.«

Geschwister. Tonys Kehle wurde eng. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie völlig allein. Sie hatte keine anderen Verwandten, zumindest hatte sie das bis jetzt geglaubt. Die Vorstellung, dass es doch Menschen gab, die in irgendeiner Weise mit ihr verbunden waren, weckte eine unbestimmte Sehnsucht in ihr.

»Die Kopien können Sie behalten«, fuhr Robert Carney fort. »Ich werde das Original des Testaments beim Nachlassgericht einreichen. Sobald das Dokument auf seine Rechtmäßigkeit und Gültigkeit überprüft wurde, wird man die Erben und potenziellen Begünstigten benachrichtigen. Der Wert des Nachlasses wird ermittelt, und es werden gegebenenfalls Schulden und Steuern des Verstorbenen beglichen. Anschließend wird das verbleibende Vermögen gemäß den Anweisungen im Testament verteilt. Sollten Ihre Geschwister sich den Verfügungen Ihres Vaters widersetzen, klagen wir.«

​​ Tony runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob ich das möchte«, sagte sie zögernd. »Muss das Testament sofort eingereicht werden?«

»Nein, es gibt keine Frist dafür. Doch ich rate Ihnen dazu, damit der Nachlass abgewickelt werden kann.«

»Was wissen Sie über meine Geschwister?«

Der Anwalt zuckte mit den Achseln. »Nicht mehr als Sie. Wenn Sie es wünschen, kann ich Nachforschungen anstellen lassen.«

»Ja, bitte. Ich möchte alles über meine Familie wissen«, stimmte Tony spontan zu. Dann zog sie die Nase kraus. »Das ist sicher sehr teuer, oder?«

»Wir können das mit Ihrem Erbe verrechnen. Selbst wenn Sie nur ein Fünftel bekämen und es kein Öl gibt, ist das Land immer noch genug wert, um eine Ermittlung zu bezahlen.«

»Gut, dann machen wir es so. Finden Sie alles Wichtige heraus, und sobald ich die Informationen habe, werde ich mich entscheiden, wie es weitergehen soll.«

Robert Carney nickte. »In Ordnung.«

Tony erhob sich. »Vielen Dank für Ihre Hilfe und Beratung.«

»Es war mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein, Miss Sullivan«, sagte der Anwalt und reichte ihr die Hand. »Ich werde mich schnellstmöglich melden.«

Auf wackeligen Beinen verließ Tony die Anwaltskanzlei. Draußen empfingen sie strahlender Sonnenschein und sommerliche Temperaturen; obwohl es bereits September war, hatte die texanische Sonne kaum Kraft eingebüßt. Sie hielt einen Moment inne, schloss die Augen und atmete tief ein. Ein Gefühl von Ungläubigkeit durchströmte sie – sie konnte immer noch nicht richtig fassen, was sie soeben erfahren hatte. Es war, als hätte jemand den Boden unter ihren Füßen weggezogen und sie in ein völlig anderes Universum katapultiert.

Nachdem sie sich einen Moment lang gesammelt hatte, öffnete sie die Mappe, die der Anwalt ihr gegeben hatte, und starrte auf die beglaubigte Kopie des Testaments, die zuoberst eingeheftet war. Ihr Herz pochte schneller, als ihr bewusst wurde, welch unerwartete Wendung ihr Leben genommen hatte, und sie konnte kaum erwarten, herauszufinden, wohin dieser neue Weg sie führen würde.

 

***

 

»Ist das denn wirklich nötig?« Rose Porter schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »So ein Theater.«

Ihre Enkelin Joyce McDermott grinste sie an. »O ja, und ob das nötig ist. Du hast uns allen mit den Vorbereitungen zu unseren Hochzeiten den letzten Nerv geraubt, und wir werden uns jetzt gebührlich revanchieren.«

»Genau.« Ihre Schwägerin Melody McDermott nickte. »Wenn ich nur an den Trubel vor meiner Trauung mit Adrian denke – es war so schlimm, dass wir nach Las Vegas durchbrennen mussten.«

»Dean und Yana haben es ja ebenfalls vorgezogen, in Vegas zu heiraten«, erinnerte Lauren McDermott-Davis sich amüsiert.

Kerry McDermott kicherte. »Das hätten Jordan und ich besser auch tun sollen, dann wäre uns vielleicht der Zwischenfall mit Scotts Ratte erspart geblieben.«

»Es ist eine Wüstenrennmaus«, korrigierte Charlotte McDermott, genannt »Charlie«, sie lachend.

Die Frauen saßen auf der hinteren Veranda des La Casa beieinander, einem ehemaligen Bordell am Stadtrand von Stillwell, das Rose und ihre Schwester Millie Campbell gekauft und in ein Frauenhaus umfunktioniert hatten. Auf der Wiese im angrenzenden Garten tollte Joyce’ Sohn Daniel mit den Zwillingen von Melody herum. Laurens Tochter Isabel und die kleine Sophia, Kerrys Töchterchen, saßen in einem Sandkasten und spielten hingebungsvoll mit Eimer, Schaufel und Förmchen. Charlottes einjähriger Sohn Josh rutschte mit einem Bobbycar umher, beaufsichtigt von seinem älteren Stiefbruder Scott und Laurens zwölfjährigem Sohn Timmy.

Ein sanfter Wind trug den süßen Geruch von blühenden Blumen bis zu dem Holztisch, auf dem Notizblöcke, Stifte und bunte Hochzeitsmagazine ausgebreitet waren. Dazwischen standen Schalen mit Gebäck sowie Karaffen mit Eistee, der dafür sorgte, dass sich die Gemüter bei den Diskussionen über Blumenarrangements, Musikauswahl und Essen nicht allzu sehr erhitzten.

»Außerdem«, Millie griff nach einem Bündel Papieren und zwinkerte ihrer Schwester zu, »geht es nicht nur um deine Trauung, wir wollen ja auch die Hochzeit von Dean und Yana nachfeiern.«

»Sofern die beiden überhaupt anwesend sind«, brummte Rose.

Joyce warf Charlie einen fragenden Blick zu. »Werden die zwei jetzt eigentlich in Los Angeles bleiben?«

Charlie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Eigentlich hatte Dean ja vor, Hollywood den Rücken zu kehren, aber er muss wohl noch ein paar Folgen einer Serie abdrehen, bevor er aussteigen kann, und Yana hat offenbar eine größere Rolle in einem Fantasy-Epos bekommen.«

»Aber zur Hochzeitsfeier werden sie doch hier sein?«, vergewisserte Millie sich.

»Ja«, bestätigte Charlie, »sie haben es fest versprochen. Liz und Kade werden auch von Houston anreisen, ebenso wie Jane und William – wir sind also komplett.«

»Siehst du«, Joyce warf ihrer Großmutter einen aufmunternden Blick zu, »hör auf zu grummeln und lass uns dafür sorgen, dass es für euch alle ein unvergesslicher Tag wird.«

Rose trank einen Schluck Eistee und seufzte. »Schön, meinetwegen. Es wird sowieso das letzte Mal sein, dass wir ein Hochzeitsfest veranstalten, denn alle McDermotts sind unter der Haube.«

»Ja«, Lauren stieß ein erleichtertes Lachen aus, »Gott sei Dank. Dann hat es jetzt endlich ein Ende mit deinen Verkuppelungsaktionen.«

»Es wird sehr langweilig werden«, stellte Millie bedauernd fest.

Rose nickte. »Das stimmt.«

»Wenn Jordan weiterhin so viel arbeitet, könnt ihr bald einen neuen Mann für mich suchen«, sagte Kerry trocken.

Charlie nahm sich einen Schokoladencookie und biss hinein. »Grant hat auch alle Hände voll zu tun, seit Freddy nicht mehr im Sheriff’s Office arbeitet. Dauernd ist irgendetwas los – wobei sich die meisten Einsätze darauf beschränken, Mrs. Fletchers fetten Kater aus dem Baum zu holen.«

»Ich glaube, Ryan spielt mit dem Gedanken, wieder Rodeos zu reiten«, berichtete Lauren. »Er hatte mir zwar versprochen, dass er sein Leben nicht mehr in der Arena riskieren wird, aber ich habe den leisen Verdacht, dass er sich doch im Stillen nach einer Herausforderung sehnt. Die Arbeit im Restaurant macht er nur mir zuliebe, und dass er hin und wieder bei Callan auf der Ranch aushilft, lastet ihn auch nicht wirklich aus.«

Joyce seufzte. »Von mir aus könnte er ruhig öfter vorbeikommen. Callan hat nur noch seine Pferdezucht im Kopf, und die restliche Zeit ist er damit beschäftigt, Daniel irgendwelchen Unfug beizubringen.« Sie trank einen Schluck Eistee und drehte das Glas in ihren Händen hin und her. »Ich habe ein Angebot für ein Fotoshooting bekommen«, fuhr sie dann fort. »Lace-Love plant eine landesweite Kampagne, und sie wollen mich als Model haben.«

Kerry klatschte aufgeregt in die Hände. »Das ist ja toll. Wann geht es los?«

»Naja, ich habe noch nicht zugesagt«, erklärte Joyce. »Ich muss erst mit Callan reden, und ich fürchte, er wird nicht einverstanden sein.«

»Aus gutem Grund.« Rose warf ihrer Enkeltochter einen grimmigen Blick zu. »Ihm wird nicht gefallen, dass du dich halb nackt vor einer Kamera räkelst – und mir übrigens auch nicht.«

Joyce verdrehte die Augen. »Ja, das ist mir schon klar, Granny. Das war ja schließlich auch der Grund, weshalb du mich damals mit einem Trick auf deiner Ranch festgehalten hast, und Callan gezwungen hast, auf mich aufzupassen.«

»Und es war ein guter Plan«, erklärte Rose, »immerhin seid ihr jetzt glücklich verheiratet.«

»Trotzdem würde ich dieses Fotoshooting gerne machen.«

Rose schnaubte. »Damit Millionen fremder Kerle die Bilder anglotzen und wer weiß was tun?«

»Also, ich finde, es ist nichts dabei«, mischte Lauren sich ein. »Schließlich ist Joyce nicht völlig nackt, und wenn sie irgendwo im Bikini schwimmen geht, ist sie auch fremden Blicken ausgesetzt.«

Kerry sah kurz zu ihrer Tochter hinüber, winkte ihr zu, und nickte dann. »Genau. Außerdem leben wir nicht mehr im Mittelalter. Joyce hat das Recht, alleine zu entscheiden, ob sie das Shooting machen möchte, sie braucht dazu nicht Callans Erlaubnis.«

»Warum bist du so versessen …«, setzte Rose wieder an, doch da hob Melody die Hand und bremste sie.

»Wir sollten dieses Thema lassen, meint ihr nicht? Schließlich sind wir hier, um die Hochzeit zu planen, und nicht, um uns in Joyce’ Privatangelegenheiten einzumischen.«

»Genau.« Lauren griff wieder nach ihrem Notizblock. »Also, die Gästeliste steht – lasst uns überlegen, wie wir das Buffet gestalten wollen.«

Rose verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist mir egal. Ihr macht doch sowieso was ihr wollt.«

»Jetzt komm schon«, Millie warf ihrer Schwester einen beschwichtigenden Blick zu, »hör auf, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Es soll doch ein schöner Tag für dich und Freddy werden.«

»Ich könnte wetten, dass wieder etwas schiefgeht«, kicherte Millie.

Kerry grinste. »Na klar, es wäre doch sonst keine McDermott-Hochzeit.«

»Ich bin ja schließlich auch keine McDermott«, brummelte Rose, lachte dann aber ebenfalls. »Wenn ich daran denke, was wir schon alles erlebt haben. Joyce hat im entscheidenden Moment Nein gesagt, Mel und Adrian sind nach Vegas durchgebrannt, genau wie Yana und Dean. Auf der Hochzeit von Lauren und Ryan ist Joyce’ Fruchtblase geplatzt, und bei der Trauung von Kerry und Jordan hat Scotts Rennmaus für eine Massenpanik gesorgt. Grants und Charlies Hochzeit ist geplatzt, weil Charlie beinahe ihr Baby verloren hätte, und Liz’ und Kades Trauung hat sich auf eine fünfminütige Zeremonie beschränkt. Aus irgendeinem Grund lief es niemals glatt, und die Wahrscheinlichkeit, dass wieder etwas passieren wird, ist groß.«

»Aber es war immer lustig«, erinnerte Joyce sich, »und ich bin sicher, dass wir auch dieses Mal viel Spaß haben werden.«

»Hoffentlich«, seufzte Millie, »denn danach wird hier tödliche Langeweile einkehren.«

 

Kapitel 2

Es war ein strahlender Sonnentag Ende September, der wie geschaffen war für eine Hochzeit. Das Thermometer zeigte neunundzwanzig Grad an, kein Wölkchen trübte den Himmel, eine angenehme Brise sorgte dafür, dass es nicht zu heiß wurde.

Der Stadtpark von Stillwell erstrahlte in festlicher Atmosphäre, als die Hochzeitsgäste langsam eintrafen. Am Rande einer weitläufigen Wiese waren Reihen von weißen Stühlen aufgestellt, die mit schimmernden Schleifen aus rosafarbenem Satin geschmückt waren. Der Mittelgang war mit einem zartrosa Teppich ausgelegt, der die Augen der Gäste auf das Zentrum der Feier lenkte, einem Podest mit einem prächtigen Traubogen. Er war üppig dekoriert, mit langen Stoffbahnen aus roséfarbenem Chiffon, der sanft im Wind wehte, und duftenden Blumenarrangements aus Rosen, Lilien und Efeu. Die Farben der Blumen leuchteten in den schönsten Nuancen und verliehen der Kulisse eine märchenhafte Note.

​​ Ein Stück entfernt waren Bänke und Tische mit weißen Tischdecken aufgestellt worden, dekoriert mit Blumen und Kerzenleuchtern. Im Schatten eines Baumes lockte ein reichhaltig gedecktes Buffet, direkt daneben gab es eine Bar, an der Getränke ausgeschenkt wurden. Außerdem hatte man ein weiteres Podest für den Tanz errichtet, auf dem eine Band gerade dabei war, ihre Instrumente aufzubauen.

Die gesamte Familie McDermott hatte sich eingefunden, ebenso wie etliche Freunde und Bekannte sowie unzählige Einwohner des südlich von San Antonio gelegenen 700-Seelen-Dorfes. Nahezu jeder in Stillwell kannte sowohl Rose Porter als auch Freddy Carson, der jahrelang als rechte Hand des Deputy tätig gewesen war, und niemand wollte es sich nehmen lassen, an der Trauung teilzunehmen.

Die Erwachsenen plauderten angeregt miteinander, während die Kinder herumtollten und spielten, die Stimmung war ausgelassen und alle konnten den Beginn der Zeremonie kaum erwarten.

Die Mitglieder der Familie McDermott standen beieinander, tauschten Geschichten aus, und wie üblich flogen Scherze und Neckereien hin und her.

»Ich wette, Grandpa wird vor Rührung weinen«, sagte Yana und grinste ihren Großvater an.

»Nicht, wenn Rose vor mir heult«, brummte Freddy, der mit seinem dunkelblauen Anzug, dem weißen Hemd und der silbernen Krawatte sehr elegant aussah, gutmütig. Dann fuhr er sich mit der Hand über die Augen und stöhnte. »Ich glaube, das war gestern wohl doch ein Whiskey zu viel.«

Ryan seufzte. »Frag mich mal. Ich hatte heute Morgen einen Schädel, als wäre ich vom Pferd geworfen worden und unter die Hufe geraten. Und meine liebe Ehegattin hatte keinerlei Mitleid mit mir, ich durfte trotzdem den ganzen Kram fürs Buffet und die Getränke hierher schleppen.«

»Haben unsere Frauen denn jemals Mitleid?«, fragte Grant lakonisch.

»Hey«, Kerry knuffte ihm den Ellenbogen in die Rippen, »wir können dich hören.«

Jordan verzog schmerzvoll das Gesicht. »Ja, und das allzu deutlich. Geht es vielleicht etwas leiser? Und kann jemand bitte das Vogelgezwitscher abstellen? Das ist ja unerträglich.«

Alle lachten und Adrian gab ihm eine liebevolle Kopfnuss. »Jetzt stell dich nicht so an, Kleiner. Ich finde, es war ein toller Junggesellenabschied.«

»Ja, wenn man mal von der fehlenden Stripperin absieht«, murrte Callan verdrießlich.

Mit einer entschuldigenden Geste hob Freddy die Hände und ließ sie wieder sinken. »Sorry, aber Rose hätte mich geteert und gefedert.«

Während das Geplänkel noch eine Weile weiterging, bereitete sich Rose in einem Raum der nahegelegenen Stadthalle auf die Zeremonie vor.

Joyce, Millie und Jane halfen ihr dabei, sich zurechtzumachen.

Millie reichte ihr das cremefarbene Kleid, das sie extra für diesen großen Tag gekauft hatten. Es war klassisch geschnitten, mit einem V-Ausschnitt, kurzen Ärmeln aus Spitze und fiel in einer fließenden Linie bis knapp über ihre Knöchel.

»Granny, du siehst einfach umwerfend aus«, rief Joyce begeistert, nachdem Rose hineingeschlüpft war.

Jane nickte. »Ja, Freddy wird sicher beeindruckt sein.«

»Das will ich doch hoffen«, murmelte Rose trocken, »sofern er überhaupt aus den Augen gucken kann. Ich glaube, es war gestern ein recht feuchter Männerabend.«

»O ja«, Joyce seufzte, »Callan konnte kaum noch stehen, Adrian und Grant haben ihn nach Hause gebracht.«

Millie öffnete einen Karton und packte ein Paar Schuhe aus, die farblich genau zum Kleid passten. »Gönnt den Jungs doch das Vergnügen«, sagte sie dabei augenzwinkernd, »es ist schließlich das letzte Mal, dass sie einen Junggesellenabschied feiern können.«

»Leider.« Jane seufzte leise. »So froh ich einerseits bin, dass meine Jungs endlich alle unter der Haube sind, so traurig bin ich, dass es keine Hochzeitsfeiern mehr geben wird.«

»Euch bleiben ja noch die Enkel und Urenkel«, tröstete Joyce sie, während sie begann, das silberne Haar ihrer Großmutter zu kämmen und zu einer eleganten Frisur hochzustecken.

»Apropos Urenkel – weiß Daniel Bescheid mit den Ringen?«, fragte Millie.

Joyce nickte. »Na klar. Callan und ich haben ein paar Mal mit ihm geübt, außerdem ist er schon fast drei, er kriegt das hin.«

»Wie schnell die Zeit vergeht«, sinnierte Rose. »Manchmal kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass dein Vater als kleiner Dreikäsehoch auf der Ranch herumgeflitzt ist.«

»Komm schon, Granny, werde jetzt bitte nicht sentimental, sonst fange ich an zu weinen, bevor die Trauung überhaupt begonnen hat.« Joyce steckte ihr eine zarte blaue Blume ins Haar. »So, damit hast du nun zu deinem neuen Kleid auch etwas Blaues.«

Millie öffnete eine kleine Schachtel und nahm eine Perlenkette heraus. »Und hier kommt etwas Geborgtes.« Sie legte ihrer Schwester die Kette um. »Fertig.«

Rose erhob sich und sah an sich herunter. »Ist ein langes Kleid nicht vielleicht doch etwas übertrieben?«

»Auf gar keinen Fall«, Joyce schüttelte den Kopf, »du siehst toll aus.«

Jane nickte und fügte hinzu: »Ja, du bist eine strahlend schöne Braut, Rose.«

»Dann schnell nach draußen jetzt«, Millie machte eine Handbewegung in Richtung Tür, »bevor doch noch jemand kalte Füße bekommt und es sich anders überlegt.«

 

***

 

»Es geht los«, verkündeten Joyce und Jane der wartenden Hochzeitsgesellschaft und forderten die Gäste auf, ihre Plätze einzunehmen.

Freddy stand unter dem Hochzeitsbogen, zusammen mit dem Friedensrichter. Neben ihm hatte Grant als sein Best Man Position bezogen, ebenfalls in einem perfekt sitzenden Anzug und mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Gespannt schauten sie den Gang entlang, ebenso wie etliche andere Augenpaare, und warteten auf das Eintreffen der Braut.

Endlich erschienen die zweieinviertel Jahre alten Zwillinge von Melody und Adrian, die als Blumenkinder fungierten. Lucas trug einen winzigen Anzug, Lilly ein spitzenbesetztes Kleidchen, und beide sahen bezaubernd aus. Joyce gab der Band ein Zeichen, der Hochzeitsklassiker Here comes the bride setzte ein, und die zwei Kleinen tapsten über den roten Teppich nach vorne, wo Melody ihnen zuwinkte. Dabei waren sie mehr damit beschäftigt, mit großen Augen die vielen Menschen zu bestaunen, als Blumen zu streuen, was die Gäste mit Schmunzeln quittierten.

Rose folgte ihnen mit anmutigen Schritten, geführt von ihrer Schwester Millie. Als die beiden schließlich vorne ankamen, strahlten Rose und Freddy sich an, und ihre Blicke verrieten die tiefe Verbundenheit und Liebe zwischen ihnen.

Joyce nahm ihren Platz neben Callan ein, vergewisserte sich noch einmal, dass Daniel das Kissen mit den Ringen hatte, und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf den Friedensrichter, der mit der Trauung begann.

»Liebes Brautpaar, liebe Gäste, wir haben uns heute hier versammelt, um einen wahrlich freudigen Anlass zu feiern – die Hochzeit von Rose und Freddy. In einer Zeit, in der die Welt oft von Hektik und Trubel geprägt ist, erinnert uns diese Zeremonie daran, wie kostbar und bedeutsam die Liebe ist. Rose und Freddy haben einen Lebensweg voller Erinnerungen und Erfahrungen hinter sich, die sie zu dem wunderbaren Paar gemacht haben, das sie heute sind. Es ist eine Geschichte von Lachen, von Tränen, von Höhen und Tiefen – eine Geschichte, die sie gemeinsam geschrieben haben und die heute einen neuen, aufregenden Abschnitt bekommt.«

Callan hob die Augenbrauen. »Was ist das denn für ein Quatsch? Lebensweg voller Erinnerungen und Erfahrungen – die beiden sind gerade mal ein Jahr zusammen«, flüsterte er dem neben ihm sitzenden Jordan zu.

Dieser zuckte mit den Schultern und grinste. »Naja, ein Jahr mit einer Frau kann sich manchmal schon wie eine Ewigkeit anfühlen.«

»Sch«, zischten Joyce und Kerry unisono und knufften ihre Männer gleichzeitig die Seite, »Ruhe.«

»In unserer schnelllebigen Zeit mag es manchmal schwerfallen, das Wesentliche zu erkennen«, fuhr der Friedensrichter fort, »doch die Liebe erinnert uns daran, dass es die kleinen, kostbaren Momente sind, die das Leben wirklich ausmachen. Die Momente, in denen man sich anlächelt, weil man sich verstanden fühlt, die Momente, in denen man füreinander da ist, auch wenn es schwierig wird, und die Momente, in denen man einfach nur zusammen sein möchte, um das Leben zu genießen.

Rose und Freddy haben genau diese Momente miteinander geteilt und werden sie auch weiterhin teilen. Es ist diese tiefe Verbundenheit und das Vertrauen ineinander, die ihre Liebe so stark und einzigartig machen. Und während sie heute den Bund fürs Leben eingehen, können wir sicher sein, dass sie auch in den kommenden Jahren gemeinsam die Herausforderungen meistern und die Freuden des Lebens teilen werden.

In einer Welt, die sich ständig wandelt, ist es etwas Besonderes, zwei Menschen zu sehen, die füreinander da sind und sich für eine gemeinsame Zukunft entscheiden. Und so wollen wir ihnen heute unsere besten Wünsche mit auf den Weg geben – Wünsche für Liebe, für Glück und für eine unendliche Fülle an wundervollen Momenten.«

Mit einem feierlichen Ausdruck im Gesicht wandte der Friedensrichter sich an Rose.

»Willst du, Rosemary Josephine Porter, den hier anwesenden Fred Carson zu deinem Ehemann nehmen und ihn lieben und ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, bis dass der Tod euch scheidet?«

Rose sah Freddy an und lächelte. »Ja, ich will.«

Der Friedensrichter wiederholte die Formel für Freddy, der ebenfalls mit einem deutlichen und kräftigen »Ja, ich will« antwortete.

»Dann ist es jetzt Zeit, die Ringe auszutauschen.«

Joyce gab Daniel einen sanften Schubs, und dieser setzte sich in Bewegung, das Samtkissen mit den beiden goldenen Eheringen vorsichtig in den Händen balancierend. Er machte seine Sache perfekt, aber als er das Podest erreichte und hinaufsteigen wollte, blieb er mit dem Fuß in einer der Stoffbahnen hängen. Es gelang ihm, sich zu fangen und nicht zu stürzen, doch die Ringe flogen in hohem Bogen durch die Luft, fielen auf das Podium und kullerten über den Boden.

Einer blieb direkt vor Roses Füßen liegen, der andere landete jedoch ein Stück weiter entfernt und rollte unaufhaltsam auf einen Spalt in den Holzdielen zu.

Mit aufgerissenen Augen verfolgten sämtliche Gäste, wie Freddy sich mit einem Hechtsprung auf den Ring warf wie ein Quarterback nach dem Anspiel auf den Ball. Wie in Zeitlupe flog er durch die Luft und landete hart auf dem Boden, während das Schmuckstück mit einem letzten Aufblitzen in dem Spalt verschwand.

Sekundenlang waren alle wie erstarrt, dann kam Leben in die Menge.

Rose stürzte zu Freddy und musterte ihn besorgt. »Ist alles in Ordnung? Hast du dir wehgetan?«

»Ich hole Werkzeug«, rief Grant und eilte davon.

»Ich wusste es«, murmelte Joyce, »es war doch klar, dass irgendetwas schiefgehen würde.«

Daniel schaute fragend zu seiner Mutter. »Ringe weg?«

Seine Unterlippe zitterte und rasch nahm Joyce ihn auf den Schoß. »Du hast das ganz toll gemacht«, beschwichtigte sie ihn, »wirklich prima. Es ist nur ein kleines Missgeschick, nicht weiter schlimm.« Seine Miene zeigte deutlich, dass er noch nicht beruhigt war, und sie fügte hinzu: »Du kannst ja auch gar nichts dafür. Das Tollpatsch-Gen hast du von deinem Vater geerbt.«

»Hey«, murrte Callan, »erzähl dem Jungen nicht so einen Blödsinn, Sprosse.«

»Von wegen Blödsinn. Wer ist denn mit leerem Auto losgefahren, als meine Fruchtblase geplatzt ist?«

»Das war eine Ausnahmesituation, ich war fürchterlich aufgeregt.« Callan strich Daniel über die Wange. »Hör nicht auf deine Mom, sie redet nur Unfug.«

Der Kleine nickte. »Unfug.«

»Na vielen Dank.« Joyce warf Callan einen bösen Blick zu. »Reicht es nicht, dass er schon dein ganzes anderes Sprachrepertoire drauf hat? Cowboy, Pferd, Whiskey, Frauen, sexy …«

Er grinste und beugte sich zu ihrem Ohr. »Wenn du nicht still bist, bringe ich ihm noch andere Worte bei: Heiß, scharf, wild, störrisch …«

»Und wenn du jetzt nicht still bist, gibt es Schlafzimmerverbot«, drohte Joyce.

Die Ankunft von Grant mit dem Werkzeug unterbrach das Geplänkel der beiden. Gemeinsam machten die Männer sich daran, die Holzdiele zu lösen, und wenig später lagen die Ringe wieder auf ihrem Samtbett und die Zeremonie ging weiter.

Als Rose und Freddy sich schließlich küssten, brach Jubel und Applaus aus. Strahlend nahmen die beiden die Glückwünsche der Gäste entgegen, es gab viele herzliche Umarmungen und auch ein paar Tränen, dann begannen die Feierlichkeiten.

​​ Die Hochzeitstorte, ein Kunstwerk aus Zuckerguss und Blumen, thronte stolz auf einem festlich geschmückten Tisch. Rose und Freddy standen lächelnd davor, schnitten mit einer geschickten Handbewegung gemeinsam das erste Stück ab und die Menge klatschte begeistert, als sie einander damit fütterten.

Unterdessen hatte sich die Band auf dem Podium postiert und als die ersten Akkorde erklangen, eröffneten Rose und Freddy den Tanz. Yana und Dean, deren Hochzeit an diesem Tag nachgefeiert wurde, schlossen sich als nächstes Paar an und wirbelten lachend über das Parkett. Nach und nach gesellten sich immer mehr Gäste dazu, schwangen munter das Tanzbein und ließen sich von der stimmungsvollen Musik mitreißen.

Während die Frauen der Familie McDermott sich an einem der Tische versammelt hatten, plauderten, und dabei die Kinder im Auge behielten, belagerten die Männer die Bar.

»Damit wäre das Thema Hochzeiten jetzt wohl durch«, sagte Kade und trank einen Schluck aus seinem Whiskeyglas.

Jordan stieß ein erleichtertes Seufzen aus. »Gott sei Dank. Ich hatte schon befürchtet, Rose und Millie würden niemals Ruhe geben.«

»Das werden sie auch nicht tun«, prophezeite Callan. »Ich wette zehn Dollar, dass sie ganz schnell ein neues Opfer finden.«

»Aber es sind keine McDermotts mehr übrig«, gab Dean zu bedenken, »ich war der Letzte, den sie unter die Haube gebracht haben.«

»Als ob das die beiden von ihren Machenschaften abhalten würde.« Adrian trank einen Schluck Whiskey und stöhnte. »Wenn ich nur daran denke, was die beiden alles veranstaltet haben.«

»Mir haben sie sämtliche ledigen Frauen von Stillwell auf den Hals gehetzt«, erinnerte Grant sich mit Schaudern.

Jordan winkte ab. »Das ist doch harmlos. Mich haben sie mit Kerry in der Vorratskammer der Cactus-Bar eingesperrt.«

»Mich hat Rose dazu verdonnert, den Babysitter für Joyce zu spielen. Sie wollte nicht, dass Joyce zu einem Unterwäsche-Shooting nach LA fliegt, und ich sollte dafür sorgen, dass sie die Ranch nicht verlässt, bis das Fotoshooting abgesagt ist, was auch bestens funktioniert hat.« Callan rieb sich den Nacken. »Die Ironie an der Sache ist, dass Joyce jetzt wieder ein Angebot für ein Shooting hat, und das unbedingt machen will.«

»Und dir passt das natürlich gar nicht«, schlussfolgerte Dean.

»Natürlich nicht. Würde ​​ es dir gefallen, wenn Yana sich in einem Hauch von Nichts fotografieren ließe und die Bilder dann weltweit von sabbernden Kerlen benutzt werden, um …« Callan unterbrach sich und schüttelte den Kopf. »Nein«, betonte er, »mir passt das überhaupt nicht.«

»Das kann ich verstehen.« Dean warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Wenn ich nur daran denke, wie Yana in dieser Spelunke gestrippt hat, sehe ich rot.«

Kade grinste. »Aber es war eine zünftige Prügelei, als wir sie dort rausgeholt haben, oder?«

»Die damit endete, dass unsere Frauen uns Schlafzimmerverbot erteilten«, erinnerte Grant ihn.

»Also ich würde auch nicht wollen, dass Kerry solche Fotos macht«, erklärte Jordan. »Du solltest Joyce das ausreden.«

Missmutig griff Callan nach seinem Whiskeyglas, nahm einen tiefen Schluck und knallte es dann wieder auf die Theke. »Genau das werde ich auch tun, darauf kannst du dich verlassen.«

Kapitel 3

Unschlüssig stand Tony auf der gegenüberliegenden Seite des am Feldrand gelegenen Hauses. Sie hatte ihren Toyota ein Stück weiter unten an der Straße geparkt, um nicht aufzufallen, und war zu Fuß weitergegangen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

In dem ausführlichen Bericht, den der Anwalt ihr vorgelegt hatte, wurde die Villa als »La Casa« bezeichnet, und war offenbar ein Frauenhaus. Geführt wurde die Einrichtung von Millie Campbell und ihrer Schwester Rose Porter, beide hatten eine enge Verbindung zur Familie McDermott. Roses Enkelin Joyce war mit Callan McDermott verheiratet, und so hatte Tony sich entschieden, hier anzusetzen, um unauffällig die Lage zu sondieren.

Es hatte sie nicht viel Überwindung gekostet, ihre Zelte in San Marcos, wo sie studiert hatte, abzubrechen. Ihr Studium war beendet und an dem Aushilfsjob als Kellnerin, mit dem sie ihren Lebensunterhalt finanziert hatte, lag ihr nicht das Geringste. Sie hatte keine engere Bindung zu jemandem. Ihre letzte Beziehung zu einem Kommilitonen war während der Krankheit ihrer Mutter in die Brüche gegangen, und auch ihre Freunde und Freundinnen hatten sich zurückgezogen, als sie bemerkten, dass Tony keine Zeit und Lust mehr hatte, um auszugehen und sich zu amüsieren. Mit ihrer Mitbewohnerin Jennifer, mit der sie sich ein winziges Apartment geteilt hatte, verband sie lediglich das gemeinsame Dach über dem Kopf, und so war es ihr nicht schwergefallen, ihre paar Habseligkeiten einzupacken und ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen.

Sie hatte sich dazu entschlossen, erst einmal in Stillwell zu bleiben, denn sie hatte vor, ihre Geschwister persönlich kennenzulernen, bevor sie sich entschied, irgendwelche Schritte wegen des Testaments zu unternehmen. Dafür wollte sie sich unter einem Vorwand im La Casa einschleichen, denn das erschien ihr die einzige Möglichkeit, den Kontakt herzustellen, ohne ihre wahre Identität preiszugeben.

Jetzt allerdings war sie auf einmal nicht mehr so sicher, ob das alles eine gute Idee war. Sollte sie das wirklich tun? Sie hasste Lügen, und es gefiel ihr nicht, jemandem Theater vorzuspielen, selbst wenn es fremde Menschen waren, die sie nicht kannte.

Während sie noch überlegte, öffnete sich plötzlich die Haustür, und erschrocken duckte sie sich hinter einen Busch. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete sie, wie ein Mann Ende sechzig das Haus verließ. Er schleppte zwei große Koffer zu einem weißen Pick-up, der in der Einfahrt parkte und verstaute sie im Kofferraum. Ihm folgten zwei ältere Frauen, die eifrig miteinander schnatterten und sich schließlich umarmten.

»Macht es gut«, wünschte eine der beiden, »genießt eure Flitterwochen und kommt gesund wieder.«

Die andere nickte. »Das werden wir«, versprach sie. »Pass du in der Zwischenzeit gut auf das La Casa auf.«

Es folgte eine weitere Umarmung, eine der Frauen verabschiedete sich auch noch von dem Mann, und dieser gab der anderen einen spielerischen Klaps auf den Po.

»Na dann los, Rosie, ich kann es kaum erwarten, meine hübsche Braut ganz für mich allein zu haben.«

»Alter Schwerenöter«, tadelte die Frau lächelnd.

Sie stiegen in den Wagen, und wenige Sekunden später setzte das Fahrzeug aus der Einfahrt zurück und brummte langsam die Straße hinunter.

Die zurückgebliebene Frau winkte eine Weile hinterher, dann drehte sie sich um und verschwand wieder im Haus.

Tony blieb noch einen Augenblick in Deckung und kämpfte mit sich. Schließlich atmete sie einmal tief durch und verließ ihr Versteck. Entschlossen überquerte sie die Straße, stieg die drei Stufen zur vorderen Veranda des Hauses hinauf und klopfte an die Tür.

Es dauerte nicht lange, bis die Frau öffnete.

»Nanu, wen haben wir denn da?«, fragte sie verwundert.

Tony räusperte sich. »Hallo. Ich habe gehört, dass Sie hier ein Frauenhaus führen, und ich …«, sie zögerte kurz, »… ich würde gerne für eine Weile bei Ihnen unterkommen, wenn das möglich ist.«

»Eigentlich haben wir das Frauenhaus wieder aufgegeben, da sich niemand dafür interessiert hat«, erklärte die Frau. Sie musterte Tony eingehend. »Sie brauchen also einen Unterschlupf?«

Nach kurzem Zögern nickte Tony. »Ja. Ich habe meinen Freund verlassen, und ich habe Angst, dass er mich findet«, log sie drauf los. »Er ist gewalttätig, und wenn er mich jemals wieder in die Finger kriegt …« Sie ließ den Rest des Satzes bedeutungsvoll im Raum schweben und zuckte bedauernd mit den Achseln. »Naja, ich schaue mich dann nach einer anderen Bleibe um. Irgendwo werde ich etwas finden.«

Sie wollte sich zum Gehen wenden, doch die Frau hielt sie zurück.

»Nein, Schätzchen, warten Sie. Sie können erst einmal hier bleiben. Es ist genug Platz im Haus, und ich würde mir niemals verzeihen, wenn Ihnen etwas passiert, weil ich Sie weggeschickt habe.« Sie schob Tony ins Haus. »Ich bin übrigens Millie, Millie Campbell.«

»Antonia Sullivan, aber alle nennen mich nur Tony.«

»Gut Tony, dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«

Sie stiegen die Treppe hinauf in den ersten Stock, gingen einen Gang entlang und Millie öffnete eine Tür.

»Es war länger unbewohnt«, erklärte sie, während sie ans Fenster trat und es aufschob, um frische Luft hereinzulassen. »Wir müssten ein bisschen saubermachen und das Bett beziehen, aber danach werden Sie sich hier bestimmt wohlfühlen.«

Tony sah sich kurz um. Auf einer Seite stand ein altertümlicher Kleiderschrank aus dunklem Holz, auf der anderen ein französisches Bett mit einem Gestell aus schwarzem Metall. Neben der Tür gab es eine Frisierkommode mit einem Spiegelaufsatz, vor dem Fenster befand sich ein verschlissener Lehnsessel. Ihr Blick blieb an zwei eisernen Ringen hängen, die in der Wand über dem Bett eingelassen waren. Es gab keinen Zweifel, welchem Zweck sie dienten, und sie riss die Augen auf.

»Oh, lassen Sie sich davon nicht abschrecken«, kicherte Millie, die offenbar ihre Reaktion bemerkt hatte. »Dieses Haus war ein Bordell, bevor meine Schwester und ich es gekauft haben, und das sind noch ein paar Überbleibsel aus dieser Zeit. Wir haben zwar inzwischen einiges renoviert, aber diesen Raum noch nicht, da wir ihn bisher nicht gebraucht haben. – Wenn es Sie zu sehr stört …«

»Nein«, winkte Tony ab, »kein Problem. Ich war nur etwas überrascht, weiter nichts.«

»Gut. Dann führe ich Sie herum, und wenn Ihnen alles zusagt, können Sie sich danach häuslich einrichten. – Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Bad und den Rest des Hauses.«

Tony stellte ihre Tasche auf dem Bett ab und folgte Millie hinaus in den Flur.

»Da drüben ist mein Zimmer, und dort, am anderen Ende des Ganges, wohnt meine Schwester mit ihrem Mann.« Sie öffnete eine Tür. »Hier ist das Badezimmer. Es gibt leider nur dieses eine, aber dafür ist es groß, und wir haben es komplett saniert. Außerdem haben wir unten noch ein kleines Gäste-WC«, Millie zwinkerte vergnügt, »für dringende Geschäfte gibt es also Ausweichmöglichkeiten.«

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinab ins Erdgeschoss, wo Millie Tony in das geräumige Wohnzimmer mit dem angrenzenden Esszimmer und dann auf die hintere Veranda hinaus führte. Schließlich endete der Rundgang in der Küche.

»Ich koche uns jetzt erst einmal ein ordentliches Mittagessen«, entschied Millie.

»Aber ich will Ihnen keine Umstände machen«, betonte Tony, deren schlechtes Gewissen sich angesichts der Fürsorglichkeit der älteren Dame immer mehr verstärkte.

Millie zündete eine Kochstelle des Gasherds an und stellte eine gusseiserne Pfanne darauf. »Unsinn. Sie werden jetzt etwas essen, und danach richten wir Ihr Zimmer her, damit Sie sich hier wohlfühlen. Und wenn es Ihnen recht ist, können wir gerne Du sagen.«

»Einverstanden. – Kann ich irgendetwas helfen?«

»Nein, Kindchen, setz dich nur hin und ruh dich erstmal einen Moment aus.«

Es dauerte nicht lange, bis aromatische Düfte durch den Raum zogen, begleitet von den leisen Geräuschen brutzelnden Fetts. Tony, die sich auf der Eckbank an dem alten Küchentisch niedergelassen hatte, lief das Wasser im Mund zusammen, und als wenig später eine große Portion appetitlich aussehender Röstkartoffeln mit Speck, Zwiebeln und Eiern vor ihr stand, langte sie kräftig zu.

»Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte Millie, während sie aßen.

Rasch schob Tony sich eine Gabel voll Rührei in den Mund, um etwas Zeit zu gewinnen. Zwar hatte sie sich Vorfeld eine plausible Geschichte zurechtgelegt, doch nachdem diese fremde Frau sie jetzt so herzlich aufgenommen hatte, fühlte es sich schrecklich falsch an, ihr noch weitere Lügen aufzutischen. Andererseits blieb ihr keine große Wahl. Sie hatte den Stein ins Rollen gebracht und konnte nun schlecht einen Rückzieher machen.

»Du musst natürlich nicht«, sagte Millie, die ihr Zögern bemerkt hatte, »aber vielleicht tut es dir ja gut, dein Herz auszuschütten.«

Tony zuckte mit den Schultern. »Es gibt nicht allzu viel zu erzählen. Ich lernte Brad – das ist mein Freund – während des Studiums kennen. Er sah gut aus, war nett und liebevoll, und nachdem wir ein paar Monate zusammen waren, zogen wir in eine gemeinsame Wohnung. Kurz darauf begann er, sein wahres Gesicht zu zeigen. Er bestimmte, was ich anziehen sollte, wohin ich gehen und mit wem ich mich treffen durfte. Anfangs empfand ich das als Fürsorge, und als mir klar wurde, dass er mich völlig kontrollierte, war es schon zu spät. Als ich mit ihm darüber reden und ihm klarmachen wollte, dass er damit aufhören müsse, hat er mich das erste Mal geohrfeigt. Und als ich daraufhin versuchte, mich von ihm zu trennen, hat er mich richtig verprügelt. ›Mich zur Vernunft bringen‹ hat er es genannt. Er sagte, ich gehöre ihm, und sollte ich es jemals wagen, ihn zu verlassen, würde er mich finden, und dann würde ich es bitter bereuen. Er hat mich so eingeschüchtert, dass ich mich nicht getraut habe, zu gehen.«

Mitfühlend griff Millie nach ihrer Hand und drückte sie. »Das muss sehr schlimm gewesen sein. Konntest du dich denn niemandem anvertrauen, oder dir bei jemandem Unterstützung suchen? Was ist mit deinen Eltern?«

»Sie leben nicht mehr«, antwortete Tony wahrheitsgemäß. »Meinen Vater habe ich nie gekannt, und meine Mutter habe ich vor einem Jahr verloren, sie hatte Krebs. Es gab sonst niemanden, an den ich mich wenden konnte. Ich habe keinerlei Verwandte, zumindest keine, von denen ich etwas wüsste, und meine Freunde habe ich während der Beziehung mit Brad alle verloren.«

»Aber jetzt hast du doch den Absprung gewagt – wie kam es dazu?«

»Ich habe mein Studium beendet, und eigentlich hätte ich gerne auf irgendeiner Ranch gearbeitet. Aber dafür hätte ich vor Ort leben müssen, und damit war Brad nicht einverstanden. Er wollte mich für sich und hätte mich am liebsten rund um die Uhr in unserem Apartment eingesperrt. Als ich eine Stelle auf einer Ranch in der Nähe von Austin in Aussicht hatte, geriet er völlig außer sich und wurde wieder einmal handgreiflich. Mir wurde bewusst, dass es niemals aufhören würde, und dass ich mein restliches Leben so verbringen würde, wenn ich jetzt nicht etwas unternahm. Also habe ich mich heimlich im Internet nach einem Zufluchtsort umgesehen, und als ich auf dieses Frauenhaus hier stieß, dachte ich, dass es ideal sei, denn in einem so kleinen Ort würde Brad mich sicher nicht vermuten. Als er dann heute Morgen zur Arbeit ging, packte ich meine Sachen und machte mich aus dem Staub.« Tony lächelte schief. »Tja, und da bin ich nun, ohne Geld, ohne Job und in der Hoffnung, dass er mich nicht finden wird.«

Erneut drückte Millie ihre Hand. »Mach dir keine Sorgen, wir kriegen das alles hin«, versprach sie. »Du bleibst hier, erholst dich erst einmal ein bisschen, und in der Zwischenzeit können wir uns ja nach einer Arbeit für dich umsehen. Es gibt hier so viele Farmer und Ranches, da wird sich bestimmt etwas finden lassen. Und wenn du dich dann irgendwann sicher genug fühlst, kannst du dir eine eigene Bleibe suchen, ein kleines Apartment in Stillwell oder wo auch immer du möchtest. Bis dahin bist du hier im La Casa in Sicherheit, das verspreche ich dir. Sollte sich dieser Kretin von Ex-Freund jemals in deine Nähe wagen, werde ich ihm mit dem alten Peacemaker meiner Schwester ein hübsches Muster in sein räudiges Fell brennen, das schwöre ich dir.«

Tony schluckte die immer mehr aufkeimenden Gewissensbisse herunter. »Danke«, sagte sie leise, »ich weiß gar nicht, ob ich das jemals wieder gutmachen kann.«

»Das ist auch gar nicht nötig, Kindchen.« Millie lächelte. »Ich genieße es, wenn ich mich um jemanden kümmern kann, und abgesehen davon habe ich dann wenigstens etwas Gesellschaft, solange meine Schwester auf Hochzeitsreise ist.«

Sie plauderten noch eine Weile, und nach dem Essen fuhr Tony ihren Wagen vors Haus und brachte ihr Gepäck hinauf in ihr Zimmer. Es dauerte nicht lange, bis sie alles ausgepackt hatte, dann hob sie den leeren Koffer auf den Schrank, setzte sich aufs Bett und nahm die Mappe, in der sich ihre gesamten persönlichen Papiere befanden, aus ihrer Tasche. Wie so oft in den letzten Tagen starrte sie auf das Testament und die Erkenntnis, dass sich nun ein ganz neues Kapitel ihres Lebens vor ihr auftat, ließ ihr Herz schneller klopfen.