Solange du mich liebst

Ebook & Taschenbuch

In einer stürmischen Winternacht läuft dem zurückgezogen lebenden Polizisten Morgan Sheppard auf dem Highway eine junge Frau vors Auto. Er bringt sie in eine Klinik, wo sich herausstellt, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat.
Als die Ärzte sie entlassen und in die Obhut der Sozialfürsorge geben wollen, nimmt Morgan Stormy, wie sie von zwei Mitpatientinnen getauft wurde, mit zu sich nach Hause. Dank seiner Fürsorge lebt sie sich schnell ein und wird bald fester Bestandteil seines Lebens. Stormy fühlt sich ebenfalls zu dem ernsten, sensiblen Mann hingezogen, und beide entwickeln allmählich tiefe Gefühle füreinander.
Eine gemeinsame Zukunft scheint zum Greifen nahe, doch Stormys Vergangenheit bleibt dunkel, und auch Morgan hat ein Geheimnis, das er lieber für sich behalten würde …

leseprobe

1

Ein eisiger Wind trieb dicke Schneeflocken durch die Luft, als Morgan Sheppard gegen Mitternacht das Motel Six in Idaho Falls verließ. Ein kalter Tropfen traf seinen Nacken, und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, während er zügig zu seinem metallicblauen GMC Sierra hinkte, der auf einem der Parkplätze vor dem Gebäude stand.

Wenig später hatte er die Stadt hinter sich gelassen und fuhr auf dem Highway 20 in Richtung Norden. Es herrschte kaum Verkehr, was angesichts der Uhrzeit und des Wetters nicht verwunderlich war. Der starke Schneefall hatte die Landschaft in ein undurchdringliches Weiß getaucht, der Fahrtwind peitschte dicke Flocken gegen die Windschutzscheibe. Der Highway 93, auf den er nach etwas über einer Stunde abbog, war ebenfalls wie ausgestorben, und so hatte er Muße, seinen Gedanken nachzuhängen.

Er schaltete das Radio ein und konzentrierte sich für einen Moment auf die gerade laufenden Verkehrsdurchsagen, dann ertönte die unverwechselbare Stimme von Clint Black, der Nobody’s Home sang.

Während er dem melodiösen Countrysong lauschte, fragte er sich – wie so oft, wenn er von einem seiner Intermezzos nach Hause fuhr – weshalb er sich das überhaupt antat. Sicher, Janice war nett und solange er mit ihr zusammen war, fühlte er sich gut und vergaß, dass er sie für ihre Dienste bezahlte. Doch sobald sich die Tür des Motelzimmers hinter ihr schloss, setzte schlagartig die Ernüchterung ein. So erging es ihm nach jedem Treffen, und er schwor sich jedes Mal, dass es das letzte Mal gewesen sei. Eine ganze Weile blieb er diesem Vorsatz dann auch treu, aber wenn einige Monate vergangen waren, wählte er schließlich doch wieder die Nummer der Escort-Agentur und vereinbarte ein Date.

Morgan rieb sich die Augen und schaltete den Scheibenwischer eine Stufe höher, denn im dichten Schneetreiben konnte er kaum noch etwas erkennen. Ab und zu blitzte die schemenhafte Silhouette eines Baumes oder einer Felsformation am Rande der Straße auf, nur um sofort wieder hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus Schnee zu verschwinden. Die Schneedecke hatte sich bereits über die Fahrbahn gelegt und sie in eine schmierige, rutschige Piste verwandelt.

Ich könnte jetzt gemütlich zu Hause vor dem Kamin sitzen, ging es ihm frustriert durch den Kopf, während er fest das Lenkrad umklammerte, und versuchte, den Pick-up unter Kontrolle zu behalten. Er verachtete sich dafür, dass er immer wieder der Versuchung nachgab. Dabei war es nicht einmal der Sex, der ihn antrieb. Oft kam es gar nicht dazu, und wenn, fand er zwar körperliche Befriedigung, aber das war nicht der Grund für seine Besuche in Idaho Falls. Es war mehr …

Ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts schemenhaft eine Gestalt im Licht seiner Scheinwerfer auf.

Morgans Herz setzte für einen Schlag aus, dann übernahmen seine Reflexe die Regie. In Bruchteilen von Sekunden drehte er das Lenkrad nach links. Der Pick-up rutschte in einer schlingernden Bewegung über die glatte Fahrbahn und schlitterte in einem gefährlichen Ausweichmanöver an der geisterhaften Gestalt vorbei. Mit instinktiven Gegenlenkbewegungen gelang es Morgan, den Wagen wieder in die Spur zurückzuzwingen und schließlich zum Stehen zu bringen.

Sein Puls raste, sein Atem ging in hastigen Stößen, und er sandte einen stummen Dank zum Himmel, dass weit und breit kein anderes Fahrzeug unterwegs war.

Aber was hatte er da auf der Straße gesehen? Einen Hirsch? Oder ein Rentier? Sicher kein Mensch – wer wäre denn schon so verrückt, mitten in der Nacht bei einem Schneesturm auf dem Highway herumzuspazieren?

Nach kurzem Zögern beschloss er, nachzuschauen. Er stellte den Motor ab, schaltete die Warnblinkanlage ein, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Während er langsam zu der Stelle zurückging, an der sich der Zwischenfall ereignet hatte, ließ er den Lichtkegel über die Umgebung tanzen und erstarrte in seiner Bewegung, als der Strahl eine Frau erfasste, die mitten auf der Straße stand.

»Sind Sie in Ordnung?«, rief er und beschleunigte seine Schritte. »Sie haben mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Die Frau schwieg beharrlich und stand reglos da. Als er näher kam, erkannte er, dass mit Schnee vermengtes Blut über ihr Gesicht lief.

»Sie sind verletzt«, stellte er fest. »Hatten Sie einen Unfall? Wo ist Ihr Wagen?«

»Ich … Ich weiß nicht.«

Suchend ließ Morgan den Lichtstrahl über die Umgebung streichen, konnte jedoch nirgends ein Fahrzeug ausmachen. Dann bemerkte er, dass die Unbekannte nur einen dünnen Anorak trug und völlig durchnässt war.

Rasch zog er seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. »Wissen Sie was, darum können wir uns später kümmern. Ich bringe Sie jetzt erst einmal nach Arco ins Krankenhaus, damit Ihre Wunde versorgt wird, und danach sehen wir weiter.« Das Gesicht der jungen Frau – er schätzte sie auf Ende zwanzig – nahm einen furchtsamen Ausdruck an, und er fügte beruhigend hinzu: »Sie müssen keine Angst haben. Ich bin Polizist und werde Sie sicher zur Klinik bringen.«

Zur Bestätigung nahm er seine Brieftasche heraus und hielt sie so unter die Taschenlampe, dass sie seine Dienstmarke und seinen Dienstausweis mit dem Foto erkennen konnte.

Nachdem sie beides einen Moment lang betrachtet hatte, nickte sie zögernd. »Okay.«

»Gut, dann kommen Sie. Mein Wagen steht ein paar Meter weiter, durch das Ausweichmanöver bin ich ein ganzes Stück gerutscht.«

Langsam stapften sie auf den Sierra zu, der schräg am Straßenrand stand. Höflich öffnete Morgan die Beifahrertür, half der Frau beim Einsteigen, und setzte sich dann hinters Steuer.

»Sie hatten Glück, dass ich Sie nicht überfahren habe«, sagte er, nachdem er das Fahrzeug gewendet hatte und in Richtung Arco losgefahren war. »Bei diesem Schneesturm kann man kaum fünf Yards weit sehen. Was machen Sie denn mitten in der Nacht alleine auf dem Highway?«

Die Frau gab keine Antwort, sondern starrte angestrengt aus dem Fenster, und er bemerkte, dass sie ihre Hände am Sitz festgeklammert hatte.

»Schon gut«, beruhigte er sie, »ist nicht so wichtig. Hauptsache, Sie werden erst einmal verarztet.«

Er drehte die Heizung bis zum Anschlag auf und konzentrierte sich dann auf die Straße. Der Zwischenfall hatte sich kurz vor Darlington ereignet, und normalerweise hätte er etwa fünfzehn Minuten gebraucht, um nach Arco zu gelangen. Bedingt durch das Wetter dauerte die Fahrt jedoch fast eine halbe Stunde, die sie schweigend zurücklegten.

Am Lost Rivers Medical Center angekommen stellte Morgan den Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab und führte die Fremde fürsorglich zum Eingang des einstöckigen Backsteinbaus. Drinnen brachte er sie zu einem Stuhl im Wartebereich und trat dann an die Rezeption.

»Ich habe diese Frau auf dem Highway gefunden«, erklärte er. »Sie hat eine Kopfverletzung, die versorgt werden muss.«

Die Schwester reichte ihm ein Klemmbrett mit einem Formular. »Füllen Sie das bitte aus.«

»Ich habe keine Ahnung, wer sie ist und wie sie heißt«, sagte Morgan, nachdem er einen raschen Blick auf die Unterlagen geworfen hatte, »es sieht so aus, als hätte sie Probleme, sich an etwas zu erinnern.«

»Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, ob sie versichert ist oder wer für die Behandlung zahlt?«, fragte die Schwester abweisend.

»Ich komme für alles auf«, erwiderte er spontan, woraufhin ihre Miene etwas freundlicher wurde.

»Na schön«, sagte sie, nachdem sie ihn kurz gemustert hatte, »dann tragen Sie Ihre Daten in die entsprechenden Felder ein, den Rest können Sie offen lassen.«

Morgan füllte die Papiere aus, gab sie ab, und die Schwester deutete auf eine Tür. »Sie können reingehen.«

Er nickte, trat zu der Unbekannten, half ihr auf und führte sie in den Behandlungsbereich, wo sie von einem Arzt in Empfang genommen wurden.

»Ich bin Dr. Brown«, stellte er sich vor, während sie einen Untersuchungsraum betraten. Er zog sich Handschuhe an, dirigierte die Frau behutsam zur Untersuchungsliege und inspizierte dann die Kopfverletzung. »Nur eine oberflächliche Wunde«, konstatierte er, »das haben wir gleich.«

»Ich fürchte, es ist mehr als das«, sagte Morgan. »Sie ist desorientiert und weiß weder ihren Namen, noch kann sie sich an andere Dinge erinnern.«

Der Arzt warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Sind Sie der Ehemann?«

Morgan wusste genau, welcher unterschwellige Verdacht in dieser Frage mitschwang, und hob die Hände. »Um Himmels willen, nein, und ich habe auch nichts mit ihrer Verletzung zu tun.«

Er schilderte kurz, was auf dem Highway geschehen war, und Dr. Brown schüttelte den Kopf.

»Verrückte Geschichte. Aber da Sie die Dame nicht kennen und weitere Untersuchungen nötig sind, muss ich Sie bitten, draußen zu warten, bis wir hier fertig sind.«

Nach kurzem Zögern nickte Morgan. »Okay.«

Als er sich umdrehte, griff die Fremde nach seiner Hand.

»Bitte gehen Sie nicht weg.«

Beruhigend drückte er ihre Finger. »Das werde ich nicht«, versicherte er ihr, »ich bleibe im Warteraum, bis ich weiß, dass alles in Ordnung ist, versprochen.«

Ihre Miene war immer noch skeptisch, doch sie ließ ihn los.

Nachdem er ihr aufmunternd zugenickt hatte, verließ er den Behandlungsraum und kehrte in den Wartebereich zurück. Er hockte sich auf einen der abgenutzten Holzstühle, die in einer Reihe entlang einer Wand standen. Sein Blick wanderte durch den Raum, der von einer grellen Neonlampe erhellt wurde, deren Licht das Beige der Wände schmutzig und verblasst aussehen ließ. Außer einem Tisch mit Zeitschriften gab es zwei Automaten mit Snacks und Getränken, und er stand auf, um sich einen Kaffee zu holen.

Mit dem dampfenden Pappbecher in der Hand setzte er sich wieder hin, streckte die Beine aus und trank vorsichtig einen Schluck. Er spürte, wie die heiße Flüssigkeit in seinen Magen rann, gefolgt von einer angenehmen Wärme, die sich in seinem Körper verteilte und seine Lebensgeister weckte. Während er nach und nach an dem Becher nippte, glitten seine Augen immer wieder zu den Schiebetüren des Behandlungsbereichs.

Dabei fragte er sich unablässig, wer die Unbekannte war, wie sie in diese Situation geraten war und was ihr widerfahren sein mochte, bevor er sie auf dem Highway gefunden hatte. Eine Mischung aus Mitgefühl und Sorge durchströmte ihn, als er ungeduldig darauf wartete, dass die Türen sich öffneten und jemand ihm Antworten auf die vielen Fragen lieferte, die in seinem Kopf herumspukten.

So saß er eine gefühlte Ewigkeit, bis das Geräusch der Schiebetüren ihn aufschreckte. Er sprang auf und ging dem Arzt entgegen, der ihm seine Jacke reichte.

»Das hier soll ich Ihnen geben.«

»Und?«, fragte er gespannt, während er danach griff.

»Es ist soweit alles in Ordnung«, beruhigte Dr. Brown ihn. »Die Kopfwunde ist versorgt, und außer einer leichten Gehirnerschütterung sowie ein paar Schürfwunden und Prellungen konnten wir keine anderen Verletzungen feststellen, das MRT ist unauffällig.«

»Ist ihre Erinnerung zurück?«

»Leider nicht, aber Gedächtnisverlust ist bei Kopfverletzungen nicht ungewöhnlich. Normalerweise erholt sich die Erinnerung mit der Zeit. Wir werden sie für einige Tage zur Beobachtung hierbehalten und bei Bedarf weitere Untersuchungen durchführen.«

Morgan nickte. »In Ordnung. Kann ich zu ihr?«

»Jetzt besser nicht mehr. Sie wurde bereits auf die Station gebracht, und wir haben ihr ein Schlafmittel verabreicht. Kommen Sie am besten morgen wieder vorbei.«

Es gefiel Morgan nicht, einfach wegzufahren und die Unbekannte ihrem Schicksal zu überlassen. Doch ihm war auch klar, dass er momentan nichts weiter für sie tun konnte, also bedankte er sich bei dem Arzt, verabschiedete sich und verließ die Klinik.

***

Es war früher Morgen als Morgan Elkpoint erreichte. Der weiße Kirchturm ragte majestätisch in die Höhe, im Hintergrund hoben sich die schroffen Umrisse der schneebedeckten Rocky Mountains ab.

Die Fassaden der zweistöckigen Gebäude entlang der menschenleeren Hauptstraße wurden nur schwach vom Schein der Straßenlaternen erhellt. Langsam steuerte er den Sierra die Mainstreet hinauf, vorbei am Barbershop, an Salingers Store und dem kleinen Kino. Auf der Höhe des Rathauses fingen die Lichter des gegenüberliegenden Polizeireviers kurz seinen Blick ein, dann hatte er den Ort auch schon hinter sich gelassen und Dunkelheit umgab ihn.

Er bog auf eine unbefestigte Seitenstraße ein, die sich am Fuße der Berge zwischen Bäumen hindurch schlängelte. Beharrlich kämpfte sich der Sierra durch die dicke Schneedecke auf dem von Kiefern und Fichten gesäumten Weg. Nach etwa dreißig Minuten tauchten die Konturen seines Hauses im Licht der Scheinwerfer auf. Er stellte den Wagen ab, stapfte zum Eingang und schloss die Tür auf.

Nachdem er den Schnee von den Schuhen geklopft hatte, trat er in den Wohnraum und wurde von einer angenehmen Wärme empfangen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war halb fünf. Um sechs Uhr begann sein Dienst, also machte es wenig Sinn, sich jetzt noch einmal hinzulegen.

Mit einem leisen Seufzen zog er seine Stiefel aus und hängte seine Jacke an die Garderobe neben der Tür. Dann betrat er das Bad, zog sich aus und setzte sich auf den Hocker in der ebenerdigen Duschkabine. Mit geübten Handgriffen entfernte er die Unterschenkelprothese an seinem linken Bein, stand mit einer Geschicklichkeit auf, die er langem Training verdankte, und drehte das Wasser an. Nachdem er seine Dusche beendet hatte, cremte er den Stumpf ein und legte die Prothese wieder an. Anschließend rasierte er sich und putzte sich die Zähne. Im Schlafzimmer nahm er frische Wäsche aus der Kommode und wenig später saß er komplett uniformiert wieder in seinem Sierra und war auf dem Rückweg nach Elkpoint.

Langsam fuhr er die Mainstreet hinab und bog dann auf den Parkplatz des Polizeireviers ab. Er stieg aus, betrat das flache Gebäude und grüßte im Vorbeigehen Frank Robins, der Dienst am Servicedesk hatte und dösend in seinem Stuhl saß.

Zielstrebig steuerte er auf das Büro des Polizeichefs zu und trat mit dem gewohnten Spruch »Aufwachen, Dornröschen, dein Prinz ist da« hinein.

Chief Glenn McKenna, der an seinem Schreibtisch saß und irgendein Formular ausfüllte, hob den Kopf und grinste. »Du bist aber früh dran – bist du aus dem Bett gefallen?«

Morgan zog Jacke und Kappe aus und hängte beides an den Garderobenständer hinter der Tür. »Ich habe die halbe Nacht in Arco in der Klinik verbracht«, erklärte er und berichtete dann, was sich auf dem Highway zugetragen hatte.

»Und sie hatte nichts bei sich?«, fragte Glenn, nachdem Morgan geendet hatte. »Keine Handtasche, gar nichts?«

»Nein, und es war auch kein Fahrzeug zu sehen. Aber das könnte vielleicht ein Stück entfernt gestanden haben, durch den Schneesturm war kaum die Hand vor Augen zu erkennen.«

Nachdenklich rieb Glenn sich das Kinn. »Komische Sache. Vielleicht hatte sie einen Unfall, oder sie wurde überfallen.«

»Ja«, stimmte Morgan zu, »irgendetwas in dieser Art wird wohl passiert sein, schließlich muss die Kopfverletzung ja irgendeine Ursache haben. Wenn heute nichts los ist, werde ich mich mal am Highway umschauen. Vielleicht habe ich Glück und finde irgendetwas. – Wie war die Nacht?«

»Ruhig, bis auf eine Einbruchsmeldung von Mrs. Harris, aber die erwies sich als falscher Alarm. Der Wind hatte ein Brett umgeworfen und dabei ging eine ihrer Fensterscheiben zu Bruch.«

Morgan seufzte. »Die Leute sind hypernervös wegen dieser ständigen Einbrüche. Ich wünschte, wir würden die Mistkerle endlich fassen.«

»Ja, das wünsche ich mir auch. Aber dafür müssten wir durchgehend Patrouille fahren, und dafür fehlen uns einfach die Leute. Mit drei Mann pro Schicht sind wir sowieso schon total unterbesetzt.«

»Ich weiß. Und wenn einer Urlaub hat oder krank ist, sieht es noch beschissener aus.«

Glenn zuckte mit den Achseln. »Bei der nächsten Gemeinderatssitzung werde ich noch einmal mit dem Bürgermeister reden. Wir brauchen dringend Geld für drei weitere Posten, da geht kein Weg dran vorbei. Ich weiß allmählich nicht mehr, wie wir den Dienstplan noch schieben sollen, damit hier nicht alles den Bach runtergeht.«

»Denkst du, Beacham wird sich davon überzeugen lassen?« Morgan zog seinen Waffengurt aus und legte ihn auf den Schreibtisch. »Er wird wieder mit unseren freien Tagen argumentieren, wobei wir da ja im Prinzip nicht wirklich frei haben, sondern auf Abruf parat stehen. Ich will mich nicht beklagen, es ist selten etwas los, aber trotzdem ist das nicht der Sinn der Sache.«

»Wie wäre es, wenn du mitkommst? Zu zweit können wir vielleicht ein bisschen mehr Druck machen.«

Morgan nickte. »Ja, warum nicht.«

»Gut.« Glenn warf einen Blick auf die Uhr. »Viertel vor sechs – ist es okay, wenn ich Feierabend mache?«

»Klar, hau schon ab und genieß deine freien Tage.«

Mit einem dankbaren Nicken erhob Glenn sich, klopfte Morgan auf die Schulter, nahm seinen Waffengurt, zog Jacke und Kappe an und verabschiedete sich. »Bis Samstagabend.«

»Ja, bis dann.«

Wenig später verließ Morgan das Büro und trat an die kleine Pantryküche, die sich in einer Nische im Flur befand. Er nahm sich einen Becher und füllte Kaffee aus einer Kanne hinein, die auf einer Warmhalteplatte stand.

»Bah«, stieß er angewidert hervor, als er den ersten Schluck getrunken hatte, »wie lange steht diese Brühe denn schon hier?«

»Glenn hat irgendwann um Mitternacht herum den letzten Kaffee gekocht«, rief Frank ihm vom Empfang zu.

»Ja, so schmeckt er auch.« Morgan leerte das Gebräu in den Ausguss, spülte die Kanne aus, füllte die Kaffeemaschine, schaltete sie ein und kehrte ins Büro zurück.

Dort begann er, einige Berichte in den PC einzugeben, die Glenn liegengelassen hatte. Zwar war dessen Umgang mit dem Computer sicherer geworden, seit er seine Verlobte Violet, eine Computerspezialistin, kennengelernt hatte, doch er war immer noch froh, wenn Morgan die leidigen Eingaben ins System übernahm.

Als er damit fertig war, holte er sich endlich seinen Kaffee. Dabei stellte er fest, dass statt David Whitehead, der eigentlich mit ihm zusammen Tagdienst hatte, immer noch Frank am Servicedesk saß. Stirnrunzelnd schaute Morgan auf die Uhr. Beinahe halb sieben. Es war das dritte Mal in den letzten vier Wochen, dass Whitehead sich verspätete.

Im Prinzip war der Umgang untereinander hier recht locker, doch Pünktlichkeit wurde großgeschrieben. Aufgrund der spärlichen Besetzung galt es, Zwölfstundenschichten abzuleisten, und es gab nichts Ärgerlicheres als einen Kollegen, der zu spät zur Ablösung kam, vor allem nach einer Nachtschicht.

»Wo ist Whitehead?«, rief er Frank zu.

Der zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wird bestimmt gleich hier aufschlagen.«

»Er soll zu mir kommen, sobald er da ist.«

»In Ordnung.«

Morgan goss sich Kaffee ein und kehrte dann in sein Büro zurück. Dort nahm er sich die Akte vor, in der sie sämtliche Berichte und Notizen zu den Einbrüchen sammelten, und vertiefte sich in den Inhalt.

Es vergingen etwa fünfzehn Minuten, ehe es an die Tür klopfte und Whitehead seinen Kopf hereinsteckte.

»Sie wollten mich sprechen, Deputy Chief?«

»Ja. Kommen Sie rein und setzen Sie sich.«

Whitehead, ein vierschrötiger Mann mit rotblondem Bürstenschnitt, folgte der Aufforderung und ließ sich auf einen der Besucherstühle vor dem Tisch fallen. »Was ist los?«

»Das würde ich auch gerne wissen. Ich will kein großes Fass aufmachen, aber Sie sind innerhalb kürzester Zeit drei Mal zu spät zum Dienst gekommen – gibt es vielleicht irgendein Problem, bei dem ich Ihnen helfen kann?«

Whitehead verzog das Gesicht. »Es waren doch nur ein paar Minuten.«

»Mag sein, aber Sie wissen doch selbst, wie beschissen es ist, wenn man nach einer langen Nachtschicht auf die Ablösung wartet.«

»Wenn ich länger bleiben muss, kräht auch kein Hahn danach«, murmelte Whitehead und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wir sind alle hin und wieder gezwungen, Überstunden zu machen, und trotzdem lassen wir keinen Kollegen unnötig auf den Schichtwechsel warten«, erklärte Morgan ruhig und warf Whitehead einen eindringlichen Blick zu. »Nochmals, ich will keine große Sache daraus machen. Kann ich darauf zählen, dass Sie ab jetzt wieder pünktlich zum Dienst erscheinen?«

Der Officer presste die Lippen zusammen. »Klar«, murmelte er dann in einem Ton, der nicht sehr überzeugend klang. »War es das?«

»Ja.«

Ohne ein weiteres Wort sprang Whitehead auf, verließ den Raum und zog mit Nachdruck die Tür hinter sich zu.

Morgan seufzte. Er kam mit den Männern hier prima zurecht, nur das Verhältnis zu Whitehead war angespannt. Glenn hatte ihm erzählt, dass Whitehead auf den Posten des stellvertretenden Polizeichefs gehofft hatte, als dieser frei geworden war. Doch dann war er, Morgan, hierher versetzt worden, und da er der Dienstältere und kurz vor seiner Beförderung zum Captain gewesen war, hatte man ihm die Stelle gegeben. Whitehead nahm es ihm übel, dass er ihm den Posten »weggeschnappt« hatte, und wenn er auch nicht offen rebellierte, ließ er ihn doch immer wieder deutlich spüren, dass er ihm keinerlei Respekt entgegenbrachte.

Mit einem leichten Kopfschütteln stand Morgan auf, holte Whiteheads Personalakte aus einem der Aktenschränke und machte einen Vermerk über das Gespräch.

Anschließend fuhr er fort, die Berichte zu studieren, und legte die Unterlagen schließlich frustriert zur Seite. Wenn sie nicht bald irgendeinen verwertbaren Hinweis auf die Einbrecher fanden, würden die Einwohner von Elkpoint Glenn und ihn in kleine Stücke zerreißen und an die Fische im Deep Lake verfüttern.

2

Gegen Mittag nahm Morgan seine Jacke und seinen Hut und verließ das Büro.

»Ich bin für eine Weile unterwegs«, meldete er sich bei Lee Ellis am Servicedesk ab, »funken Sie mich an, falls etwas sein sollte.«

»In Ordnung.«

Er ignorierte den abschätzigen Blick, den Whitehead ihm von seinem Schreibtisch aus zuwarf, und verließ die Wache. Er stieg in einen der beiden Dodge Durango, die als Dienstfahrzeuge dienten, fuhr vom Parkplatz und die Mainstreet hinunter.

Inzwischen war hier wieder Leben eingekehrt. Einige Touristen schlenderten an den Schaufenstern entlang, Wayne Bynum, der Postbote, schob seinen Handwagen mit den Briefen vor sich her, Harold Salinger befreite den Gehsteig vor dem Store vom Schnee und winkte ihm zu.

Er hob die Hand zum Gruß und lenkte den Durango dann aus Elkpoint hinaus und auf den Highway 93 in Richtung Arco. Hinter Darlington verringerte er seine Geschwindigkeit und schaltete die Warnblinkanlage ein. Im Schritttempo rollte er weiter und hielt dabei rechts und links Ausschau nach einem verlassenen Fahrzeug, entdeckte jedoch nichts.

Schließlich stoppte er am Straßenrand, stellte den Motor ab und stieg aus. Nachdem er in der vorgeschriebenen Entfernung gut sichtbar sein Warndreieck platziert hatte, schritt er an der Fahrbahn entlang und versuchte, irgendetwas zu finden, das Aufschluss über die Identität der Unbekannten oder die Ursache ihrer Kopfverletzung geben konnte. Fast zwei Stunden suchte er die Umgebung ab, doch seine Mühe war vergeblich, es gab nicht die geringste Spur.

Schließlich stieg er wieder in seinen Wagen und entschied, kurz in der Klinik vorbeizufahren und sich nach dem Befinden der jungen Frau zu erkundigen. Vielleicht war ihre Erinnerung inzwischen ja zurückgekehrt, und sie wusste, wer sie war und was sich zugetragen hatte.

Zwanzig Minuten später stellte er den Durango auf dem Parkplatz des Medical Center ab und erkundigte sich am Empfang nach dem Zimmer der Unbekannten.

»Ah, Sie meinen Jane Doe«, lächelte die ältere Frau, nachdem er erklärt hatte, wen er suchte. »Zimmer Neun im hinteren Flügel, gehen Sie den Gang dort drüben entlang und dann links.«

»Danke.«

Es dauerte nicht lange, bis er den entsprechenden Raum gefunden hatte, und als auf sein Klopfen hin ein gedämpftes »Ja« ertönte, trat er hinein.

Die Luft in dem kleinen Zimmer war muffig und angefüllt mit den Körperausdünstungen der drei Frauen, die sich darin aufhielten.

Er nickte grüßend, ignorierte die neugierigen Blicke der beiden älteren Patientinnen und trat an das Bett der Unbekannten. Sie schien zu schlafen und er betrachtete sie eingehend.

Ihr Gesicht war blass und wurde umrahmt von dunklen Locken, die sich wirr über das Kissen ringelten. Lange Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangen, die Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst und verliehen ihr ein gequältes Aussehen. Unter der Decke zeichnete sich eine zierliche Gestalt ab, ein Arm lag obenauf, daran war eine Infusion befestigt.

Einen Moment lang stand er unschlüssig da, und während er überlegte, ob er wieder verschwinden sollte, schlug sie die Augen auf.

»Hey«, sagte sie leise.

Er räusperte sich. »Hallo. Ich bin Morgan Sheppard, ich habe Sie heute Nacht gefunden …«

»Ich weiß.« Sie verzog das Gesicht. »Das weiß ich. Nett von Ihnen, dass Sie mich besuchen.«

»Keine Ursache.« Er schob einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. »Wie geht es Ihnen?«

»Mein Kopf tut weh. Und ich kann mich nach wie vor an nichts erinnern. Aber abgesehen davon könnte ich Bäume ausreißen.«

Morgan lächelte. »Damit sollten Sie lieber noch ein bisschen warten.« Dann wurde er wieder ernst. »Ich habe mich auf dem Highway umgesehen, konnte aber weder ein Auto noch sonstige Spuren finden. Allerdings hat es die ganze Nacht geschneit, und es ist möglich, dass sich Ihre Tasche oder andere Sachen irgendwo unter dem Schnee befinden. – Haben Sie denn nicht wenigstens eine vage Ahnung, wie Sie überhaupt auf den Highway gekommen sind?«

Das Gesicht der jungen Frau nahm einen verzweifelten Ausdruck an, Tränen füllten ihre blauen Augen. »Ich denke die ganze Zeit darüber nach, aber da ist nichts, nur eine riesige, schwarze Wand. Es tut mir leid …«

»Das muss es nicht.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie beruhigend. »Machen Sie sich keine Sorgen, es kommt alles wieder in Ordnung.«

Eine Träne lief über ihre Wange. »Ich habe Angst. Ich bin hier mutterseelenallein und weiß nicht, wer ich bin und wohin ich gehöre.«

»Sie sind nicht allein«, versicherte Morgan ihr, »ich werde nach Ihnen sehen. Und Ihr Gedächtnis wird zurückkehren, Sie müssen nur ein wenig Geduld haben.«

»Hoffentlich. Ich möchte nicht für den Rest meines Lebens als Jane Doe herumlaufen.«

Er nickte. »Nun ja, das ist nun mal der übliche Name, mit dem weibliche Personen ohne nachweisbare Identität bezeichnet werden. Aber ich kann Sie verstehen, er ist nicht gerade toll.«

»Das haben wir auch schon gesagt«, mischte die Bettnachbarin, eine etwa siebzigjährige Frau mit grellrot gefärbten Haaren, sich jetzt ein.

»Ja«, stimmte die Patientin im dritten Bett zu, »Patsy oder Dolly klingen doch viel schöner.«

Die Rothaarige schnaubte. »Ach komm schon, Connie. Wer heißt denn heutzutage noch Patsy oder Dolly – außer vielleicht ein geklontes Schaf?«

»Das waren große Country-Sängerinnen«, erwiderte die mit Connie Angesprochene beleidigt. »Hast du einen besseren Vorschlag?«

Die Rothaarige überlegte. »Jill oder Julie – meine Enkeltöchter heißen so.«

»Warum nennen wir sie nicht gleich nach dir?«, brummte Connie.

»Ja, warum eigentlich nicht? Hilda ist ein sehr schöner Name.«

Connie verdrehte die Augen. »Sicher – wenn man fast scheintot ist.«

»Wie wäre es mit Stormy?«, schlug Hilda vor. »Das würde doch perfekt zu der gestrigen Nacht passen.«

»Stormy Night«, platzte Conny heraus, »stürmische Nacht.« Sie warf Morgan einen beifallheischenden Blick zu. »Was meinen Sie denn dazu?«

»Tja«, unsicher schaute er die junge Frau an, »es ist zwar eine ungewöhnliche Namenskombination, aber ich glaube, da gibt es schlimmere Kreationen.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall klingt es besser als Jane Doe.«

»Gut, dann sind Sie jetzt Stormy Night – zumindest, bis sich Ihre Identität geklärt hat.« Morgan schwieg einen Moment, ehe er anbot: »Wenn Sie möchten, kann ich ein paar Nachforschungen anstellen, vielleicht finde ich ja etwas heraus.«

Die Unbekannte nickte. »Ja, bitte tun Sie das.« Dann biss sie sich auf die Lippe und fügte hinzu: »Aber nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht, Sie hatten meinetwegen schon genug Umstände.«

»Das ist kein Problem, sonst hätte ich es ja nicht angeboten.« Er erhob sich. »Ich bin im Dienst und muss jetzt leider gehen, aber ich komme morgen wieder vorbei. Soll ich Ihnen irgendetwas mitbringen? Etwas zum Lesen? Oder Obst?«

»Nein, vielen Dank.«

»Na gut. Also, bis morgen.«

»Bis dann.«

Morgan stellte den Stuhl an seinen Platz zurück, nickte den beiden anderen Frauen zum Abschied zu und verließ das Zimmer.

Draußen blieb er einen Moment stehen und überlegte, dann hielt er eine vorbeigehende Schwester an.

»Wo finde ich den behandelnden Arzt von … Von Jane Doe?«

Sie deutete auf eine offene Tür am Ende des Korridors. »Das ist Dr. Ritter – sie ist in ihrem Büro.«

»Danke.«

Mit ein paar Schritten hatte er den Raum erreicht und sah eine Frau Ende dreißig mit Arztkittel und Brille an einem Schreibtisch sitzen.

Höflich klopfte er gegen den Türrahmen. »Entschuldigung, darf ich Sie einen Moment stören?«

Die Ärztin hob den Kopf und zuckte beim Anblick von Morgans Uniform zusammen. »Ist etwas passiert? Mit meinem Mann? Oder meinen Eltern?«

»Nein«, beeilte er sich zu sagen, »nein, ich bin nicht Ihretwegen hier. Ich wollte mich nach der Patientin mit der Kopfverletzung erkundigen, die heute Nacht eingeliefert wurde.«

»Ach so.« Deutlich erleichtert stieß Dr. Ritter den Atem aus. »Sie meinen wohl Jane Doe. Sind Sie derjenige, der sie gefunden und hierher gebracht hat?«

Morgan nickte. »Ja, ich wollte sehen, wie es ihr geht. Offenbar hat sich ihr Zustand nicht gebessert.«

»Leider nicht.« Dir Ärztin nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. »Aber das ist kein Grund zur Besorgnis, ein temporärer Gedächtnisverlust kann schon mal ein paar Tage andauern. Wir könnten natürlich noch weitere Untersuchungen durchführen, aber die Kosten …«

»Tun Sie, was nötig ist. Wie ich heute Nacht bei der Anmeldung schon sagte, komme ich für alles auf, ich habe die entsprechenden Papiere ja auch bereits unterschrieben.«

»Ich weiß, ich wollte das nur noch einmal bestätigt haben.«

»Schon gut.« Morgan nahm Notizblock und Stift aus der Innentasche seiner Jacke und notierte seine Handynummer. »Bitte halten Sie mich auf dem Laufenden«, sagte er, als er den Zettel abriss und ihn der Ärztin reichte.

»Natürlich«, versprach Dr. Ritter, »wenn sich irgendetwas tut, melden wir uns.«

Morgan verabschiedete sich, verließ das Büro und war wenig später auf dem Rückweg nach Elkpoint.

***

Nachdem Morgan gegangen war, tauschten die beiden älteren Frauen im Krankenzimmer ihre Meinungen über ihn aus.

»So ein toller Kerl.« Hilda seufzte sehnsüchtig. »Da möchte man nochmal jung sein.«

»Ich stehe total auf Männer in Uniform«, gestand Connie mit einem Kichern.

»Hast du sein leichtes Hinken bemerkt?«, fragte Hilda.

Connie nickte. »Ja. Bestimmt hat er sich bei irgendeinem Einsatz eine Verletzung zugezogen.«

»Also ich finde ja, dass so etwas einen Mann noch interessanter macht.«

»Auf jeden Fall scheint er sehr fürsorglich zu sein«, stellte Connie fest und lächelte Stormy zu. »Bei ihm bist du gut aufgehoben, Schätzchen, er wird garantiert alles versuchen, um dir zu helfen.«

Eine Schwester kam herein, um Hilda zu einer Untersuchung abzuholen, und es trat Stille ein. Connie griff nach einer Zeitschrift, und Stormy schloss die Augen.

Wie so oft in den letzten Stunden versuchte sie, irgendetwas in ihrem Kopf heraufzubeschwören, das ihr einen Hinweis auf ihre Vergangenheit geben würde, doch da war nichts. Absolut gar nichts. Nur Leere, eine gähnende, beängstigende Leere. Alles, woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie auf dem Highway zu sich gekommen war, im Straßengraben. Sie hatte sich aufgerappelt, war ohne jegliche Orientierung herumgelaufen und dann hatte dieser Polizist sie in die Klinik gebracht.

Verzweiflung breitete sich in ihr aus. Die Ärzte hatten ihr erklärt, so etwas könne nach einer Kopfverletzung durchaus vorkommen und werde sich wieder geben. Aber wie lange es dauern würde, konnten sie ihr nicht sagen.

Und was war, wenn ihr Gedächtnis nicht zurückkehrte? Ihr Krankenhausaufenthalt würde nicht ewig andauern – wohin sollte sie nach ihrer Entlassung gehen? Sie hatte kein Dach über dem Kopf, kein Geld, keine Kleidung, gar nichts. Was würde aus ihr werden?

Erneut stiegen Tränen in ihre Augen, und sie fragte sich, ob es denn niemanden gab, der sie vermisste. Hatte sie eine Familie? Eltern, Geschwister, einen Mann oder gar Kinder? Würde irgendjemand sie suchen oder war sie ganz allein und ihrem Schicksal ausgeliefert?

»Nicht weinen, Schätzchen.« Connie stieg aus ihrem Bett und strich ihr tröstend über den Kopf. »Es wird alles gut. Du musst einfach ein bisschen Geduld haben und den Dingen ihren Lauf lassen. Ruh’ dich aus, und in ein paar Tagen wird dir das alles nur noch wie ein schlechter Traum vorkommen.«

»Ich wünschte, ich hätte Ihre Zuversicht«, schniefte Stormy.

Connie lächelte. »Das kommt mit dem Alter. Irgendwann lernt man, die Dinge anzunehmen und das Beste daraus zu machen.« Sie nahm ein Papiertaschentuch von ihrem Nachttisch und wischte Stormy über die Wangen. »Keine Tränen mehr – konzentriere dich darauf, gesund zu werden, alles Weitere wird sich finden.«

***

Es war beinahe vier Uhr, als Morgan wieder das Polizeirevier betrat. Mit einem frischen Kaffee setzte er sich an seinen Schreibtisch und loggte sich in das NCIC ein, eine Datenbank, die von den Strafverfolgungsbehörden genutzt wurde. Dort wurden neben Informationen über Straftaten, gestohlene Gegenstände und kriminelle Aktivitäten auch Namen und relevante Daten von Personen registriert, die als vermisst gemeldet waren, um bei der Suche und Identifizierung zu helfen.

Morgan gab die Merkmale der Unbekannten in die entsprechende Suchmaske ein und startete einen Datenbankabgleich. Gespannt starrte er auf den Bildschirm und stieß dann einen enttäuschten Laut aus, als ihm ein kleines Pop-up-Fenster mitteilte, dass keine Übereinstimmung gefunden wurde. Er versuchte es noch ein paar Mal, änderte seine Eingaben immer wieder ein wenig ab, seine Bemühungen blieben jedoch ergebnislos.

Frustriert legte er einen neuen Eintrag an und speicherte alle verfügbaren Informationen über die Unbekannte. Viele waren es nicht, aber falls doch noch jemand sie als vermisst meldete, würde das vielleicht dazu beitragen, dass sie gefunden wurde und wieder mit ihrer Familie vereint werden konnte.

Anschließend erledigte er noch ein paar Routineaufgaben, dann war sein Dienst zu Ende. Nachdem er mit Ernest Tillman, der die Leitung der Nachtschicht übernahm, die obligatorische Übergabe durchgeführt hatte, verabschiedete er sich und verließ die Wache.

Er lief ein paar Schritte die Straße hinab zum Diner, wo er sich ein Philly Cheesesteak Sandwich und ein Stück Apfelkuchen mitnahm. Kurz darauf saß er in seinem Pick-up und war auf dem Weg nach Hause. Dort angekommen setzte er sich an den Esstisch, aß einige Bissen, bemerkte dann aber, dass er gar keinen großen Appetit hatte. Das Schicksal der Unbekannten – Stormy – beschäftigte ihn zunehmend. Immer wieder fragte er sich, was mit ihr geschehen würde, wenn sie ihr Gedächtnis nicht wiedererlangte und niemand ausfindig zu machen war, der sie kannte.

Er grübelte eine Weile, dann schob er den Teller von sich und stand auf. Nachdem er seine Uniform gegen eine bequeme Jeans und einen dicken Strickpullover getauscht hatte, verließ er das Haus, umrundete es und betrat das Treibhaus neben dem Schuppen. Ein Hauch warmer, feuchter Luft empfing ihn und er sog tief den Duft von Erde und Blumen ein.

Das Gewächshaus war ein Zufluchtsort voller Leben und Farben, eine Welt, die er selbst geschaffen hatte. Die Regale waren gefüllt mit unterschiedlichen Blumentöpfen, in denen sich Rosen in allen möglichen Stadien des Wachstums befanden, von winzigen Keimlingen bis hin zu kleinen, üppig blühenden Sträuchern.

Morgan griff nach einer Gartenschere und inspizierte die Pflanzen sorgfältig auf Anzeichen von Krankheiten oder Schädlingen. Dabei berührte er immer wieder sanft die zarten Blütenblätter, und seine Gedanken kamen langsam zur Ruhe, wie stets, wenn er sich um seine Rosen kümmerte. Hier fand er Trost und Zuversicht und konnte für eine Weile sämtliche Sorgen vergessen. Vorsichtig schnitt er welke Blüten ab, topfte einige Pflanzen um, begutachtete seine Kreuzungen und nahm Eintragungen in seinem Journal vor.

Dabei verging die Zeit wie im Flug, und als er irgendwann auf die Uhr sah, stellte er fest, dass es bereits auf Mitternacht zuging. Nachdem er die Rosen noch bewässert hatte, kehrte er ins Haus zurück, und es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war.