Lügen haben hübsche Beine

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Inhalt

Mit gemischten Gefühlen begibt sich Jillian Moore zum Casting der neuen Staffel »Das Super-Model«, um hinter den Kulissen im Fall eines verschwundenen Mädchens zu ermitteln. Ehe sie sich versieht, stolpert sie in einen turbulenten Strudel aus Glamour, Ehrgeiz und dubiosen Machenschaften. Als sie sich zu allem Überfluss auch noch verliebt und sich von einer Lüge zur nächsten hangeln muss, scheint ihr Leben völlig aus den Fugen zu geraten …

Themen: Liebesroman, Romantic Suspense, Undercover Love, Forbidden Romance, Secrets and Lies, Slow Burn, Whodunit, Glamour World vs. Real World, Moral Dilemma, Secret Identity

Leseprobe

1

Es war Zeit für das allmorgendliche Meeting. Walter Abbott, der Chef der Sonderermittlungsgruppe, betrat den Raum und trommelte alle zusammen. Die Ermittler versammelten sich rund um eine Gruppe Schreibtische, rückten ein paar Stühle heran und die Besprechung begann. Zunächst wurden die aktuellen Fälle diskutiert, dann machte Walter ein ernstes Gesicht.

»Wie ihr vielleicht wisst, findet in den kommenden Tagen das Casting für die nächste Staffel dieser Sendung ‚Das Super-Model‘ statt. Letztes Jahr in Bartonville ist dabei auf unerklärliche Weise ein Mädchen verschwunden und bis heute nicht mehr aufgetaucht. Der Fall wurde auf Eis gelegt, weil sich nirgends ein konkreter Anhaltspunkt finden ließ. Jetzt beginnt die neue Staffel, und da das Ganze dieses Mal hier in Lakeside stattfindet, haben wir die Sache auf dem Tisch. Wir sollen die Ermittlungen wieder aufnehmen, und nach Möglichkeit verhindern, dass erneut etwas Derartiges passiert.«

Walter Abbott, von den Ermittlern liebevoll ‚Walt‘ genannt, machte eine kleine Pause, und sie schauten ihn gespannt an.

»Obwohl es sich nur um einen regionalen Abklatsch handelt, steht diese Model-Show im Mittelpunkt des Medieninteresses. Daher können wir natürlich nicht einfach da reinstürmen und alles auf den Kopf stellen, wir werden also einen Ermittler einschleusen müssen.«

Tom Steward, der dafür bekannt war, dass er bei den Frauen nichts anbrennen ließ, grinste breit. »Ich melde mich freiwillig, die ganze Zeit unter hübschen Models, das ist mein Traumjob.«

Schmunzelnd schaute Walt ihn an. »Das glaube ich dir aufs Wort, aber wir brauchen jemanden, der ermittelt, und nicht jemanden, der mit den Mädels flirtet und sich ablenken lässt.« Er wurde wieder ernst. »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, Jillian Moore den Auftrag zu geben. Ich denke, sie ist aufgrund ihres jungen Alters am besten geeignet, sich unauffällig in diesen Kreisen zu bewegen. Außerdem dürfte es ihr als Frau leichter fallen, Kontakt zu den Mädchen herzustellen und deren Vertrauen zu gewinnen.«

Jillian Moore, die einzige weibliche Ermittlerin in der Männerrunde, zuckte zusammen. Sie war erst vor Kurzem hierher versetzt worden, und war sozusagen grün hinter den Ohren. Bisher hatte sie noch keinen Alleineinsatz gehabt und ihr gefiel der Vorschlag des Chefs in keiner Weise.

Walt bemerkte ihr erschrockenes Gesicht. »Jill, ist das ein Problem für dich?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Nein, nein, natürlich nicht«, murmelte sie hastig.

Es war sowieso schon schwer genug, sich gegenüber den männlichen Kollegen durchzusetzen. Nach wie vor war dieser Job eine Männerdomäne, und sie wollte sich jetzt auf keinen Fall die Blöße geben, zu kneifen und wie ein Idiot dazustehen.

»Gut«, nickte Walt zufrieden, »komm dann gleich mit in mein Büro, ich werde noch die Einzelheiten mit dir besprechen. – Okay Männer, das war es für heute, an die Arbeit!«

Männer, wiederholte Jill in Gedanken resigniert und folgte ihrem Chef in den kleinen Glaskasten am hinteren Ende des Raumes.

»Setz dich!«, forderte er sie auf und ließ sich auf der Kante seines Schreibtischs nieder. »Ich weiß, dass du Bedenken hast, und ich kann das verstehen. Aber du musst dir keine Sorgen machen, der Einsatz ist völlig ungefährlich. Wir werden dich als Reporterin dorthin schicken, es werden etliche Journalisten da herumwimmeln, du wirst also kaum auffallen. Hör dich um, versuche, etwas herauszubekommen, und behalte die Mädchen im Auge. Am Donnerstag ist es soweit, bis dahin bekommst du deinen Presseausweis und wir organisieren alles, was nötig ist. Und noch was – keine Alleingänge! Wenn dir irgendetwas auffällt oder komisch vorkommt, meldest du dich sofort.«

Jill nickte, sie hatte nicht die Absicht sich unnötig in Gefahr zu bringen.

»Gut, dann geh jetzt nach Hause, du hast heute den restlichen Tag frei und morgen ebenfalls, damit du dich in Ruhe auf deinen Einsatz vorbereiten kannst. Hier sind die Informationen über das verschwundene Mädchen. Schau sie gründlich durch, vielleicht ist etwas dabei, das dir weiter hilft.«

Walt drückte ihr eine Mappe in die Hand, erhob sich, und gab ihr so zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.

»Kopf hoch, du schaffst das«, nickte er ihr noch väterlich zu, als sie aufstand.

»Ja sicher«, sagte sie, ohne wirklich überzeugt zu klingen, und wünschte sich zum ersten Mal seit ihrer Versetzung, sie wäre bei ihrem Streifendienst geblieben.

***

Jill beschloss die freie Zeit zu nutzen, um sich mit weiteren Informationen zu versorgen. Zunächst besorgte sie die DVD der vorhergehenden Super-Model-Staffel, und verbrachte den ganzen restlichen Tag damit, sich die Folgen anzusehen. Natürlich hatte sie vorher schon in etwa gewusst, worum es ging, der Hype der Medien war auch an ihr nicht spurlos vorübergegangen. Aber als sie sich jetzt die Bilder der zickigen, teilweise hysterisch wirkenden Mädchen anschaute, wurde ihr flau im Magen. Der Gedanke, Stunden in der Gesellschaft solch abgedrehter, post-pubertierender Halb-Teenies zu verbringen, gefiel ihr überhaupt nicht, und sie verfluchte Walt, dass er ihr das angetan hatte.

Sie versuchte, die Models zu ignorieren, und sich mehr auf die Personen drum herum zu konzentrieren. Die meisten von ihnen würden auch in dieser Staffel wieder dabei sein, und es wäre gut, sich vorab ein Bild zu machen.

Irgendwann schaltete sie den Fernseher aus, und wollte gerade in die Küche gehen, um sich ihr Abendessen zuzubereiten, als ihr Handy klingelte.

»Hallo Jill.«

»Simon«, entfuhr es ihr überrascht.

»Ich … ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.«

Sie seufzte. »Danke, es geht mir gut.«

»Eigentlich würde ich dich gerne fragen, ob du Lust hast, mit mir essen zu gehen.«

»Tut mir leid, heute ist es schlecht«, lehnte sie ab.

»Vielleicht in den nächsten Tagen?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ich glaube nicht, ich bin im Moment sehr beschäftigt«, wich sie aus. »Ich melde mich bei dir, wenn ich Zeit habe, einverstanden?«

»In Ordnung«, stimmte er zu, und sie konnte die Enttäuschung in seiner Stimme deutlich hören. »Dann noch einen schönen Abend.«

»Danke, dir auch.«

Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens legte sie den Hörer auf. Sie hatte keinesfalls die Absicht, sich nochmals mit ihm zu treffen, und eigentlich wäre es besser gewesen, ihm reinen Wein einzuschenken. Aber sie brachte es nicht übers Herz, vor allem ihrer Mutter zuliebe.

Ständig lag sie Jill in den Ohren, dass sie sich Enkelkinder wünschte, und dass es nicht ‚normal‘ sei, dass Jill mit ihren sechsundzwanzig Jahren immer noch unverheiratet war. Wochenlang schwärmte sie ihr in den höchsten Tönen vor, was für ein anständiger, netter Mann Simon doch sei, und dass er der ideale Schwiegersohn wäre.

Vor einer Woche schließlich hatte Jill es nicht mehr ausgehalten, und sich um des lieben Friedens willen mit ihm verabredet. Bereits nach der Vorspeise wusste Jill, dass Simon keineswegs der Mann war, mit dem sie ihr restliches Leben verbringen würde.

Der Abend war eine einzige Tortur gewesen, zumindest für Jill. Simon erzählte fast ausschließlich von sich und seiner Firma, so trocken und langweilig, dass Jill Mühe hatte, wach zu bleiben. Die restliche Zeit über malte er lang und breit aus, wie er sich eine Ehe vorstellte, und was er von seiner zukünftigen Gattin erwartete. Es dauerte nicht sehr lange, bis Jill feststellte, dass sie auf gar keinen Fall die Frau war, die er beschrieb. Als er sie beim Abschied fragte, ob sie sich wiedersehen würden, antwortete sie mit einem vagen »Vielleicht«. Sie wollte ihn nicht verletzen, und hoffte, er würde ebenfalls bemerkt haben, dass sie keinesfalls zusammenpassten.

Doch offenbar sah er das anders, und ihre Mutter wohl auch, denn nur von ihr konnte er Jills Handynummer bekommen haben.

Ich bin viel zu gutmütig, dachte sie kopfschüttelnd, während sie sich ein Sandwich belegte und dann mit ihrem Teller ins Wohnzimmer hinüber ging.

Sie zappte noch eine Weile durchs Fernsehprogramm, aß dabei ihr Brot, und eine knappe Stunde später lag sie im Bett.

2

Am nächsten Morgen setzte Jill sich an den PC und suchte alle Informationen zusammen, die sie über die Super-Model-Crew finden konnte. Es war fast Mittag, als sie alles gesammelt hatte, was ihr wichtig erschien. Mit den Notizen kuschelte sie sich auf die Couch und ging die einzelnen Personen durch.

Da war natürlich als Erste die Hauptjurorin und Produzentin des Labels, Harriet Grumb. Sie war selbst ein sehr erfolgreiches Model gewesen, doch mit ihren vierunddreißig Jahren hatte sie ihre besten Zeiten bereits weit hinter sich. Nun nutzte sie die Unerfahrenheit und Naivität der Mädchen aus, um sich eine goldene Nase zu verdienen. Angeblich sprang sie sowohl mit den Models als auch mit ihren Mitarbeitern nicht gerade besonders sanft um. Es gab genügend Berichte, in denen geschildert wurde, wie sie die Leute zu schikanieren pflegte.

An ihrer Seite und ebenfalls in der Jury waren zwei Männer, Michael Fairgate und Craig Peters.

Michael Fairgate, von allen nur ‚Mick‘ genannt, war der Inhaber einer der führenden Modelagenturen. Die Siegerin jeder Staffel erhielt, zusätzlich zu 500.000 Dollar Siegerprämie, von ihm einen zweijährigen Model-Vertrag. Er war zweiunddreißig Jahre alt, verheiratet, hatte zwei Kinder und eine leicht hausbacken wirkende Frau. Es gab etliche Fotos, die ihn als stolz lächelnden Vater im Kreise seiner Familie zeigten.

Craig Peters war mit dreißig Jahren das jüngste Jurymitglied und auf den ersten Blick ein unbeschriebenes Blatt, über ihn hatte sie kaum etwas gefunden. Er war in der letzten Staffel erst kurz vor dem Ende dazu gekommen, als Ersatz für einen Modedesigner, der kurzfristig ausgestiegen war. Scheinbar war er ziemlich reich, es hieß, er sei der Alleinerbe einer größeren Hotelkette. Die Peters-Holiday-Ressorts waren Jill nicht unbekannt, und wenn er tatsächlich zu diesem Familienimperium gehörte, war er mehrere Millionen schwer. Es gab ein paar kleinere Berichte über Frauengeschichten sowie einige Fotos, die ihn an der Seite eleganter und prominenter Frauen zeigten. Sonst war nichts weiter zu erfahren, offensichtlich verstand er es gut, sein Privatleben aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.

Seit der ersten Staffel dabei war Ewan Miller, zweiunddreißig Jahre alt, Visagist, Stylist, und laut den einschlägigen Internetseiten genauso zickig und hysterisch, wie die Models, die er zu schminken pflegte. Es wurde gemunkelt, er würde sich mehr für Männer als für Frauen interessieren, doch das war in dieser Branche absolut nicht ungewöhnlich.

Dann war da noch Joel Benson, der Starfotograf, gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt, aber bereits international bekannt. Es gab kaum einen Promi, der sich nicht von ihm schon hatte ablichten lassen. Seine Bilder waren brillant, er verstand es meisterhaft, selbst die unscheinbarsten Personen in strahlende Persönlichkeiten zu verwandeln. Über sein Privatleben war ebenfalls nicht viel in Erfahrung zu bringen, außer dass er seit einer geraumen Weile mit einer bekannten Schauspielerin liiert war.

Das war also die Stammbesetzung, darüber hinaus gab es noch etliche andere Leute, die im Hintergrund an der Sendung mitwirkten und ständig wechselten.

Den ganzen Nachmittag war Jill damit beschäftigt, sich alle Details einzuprägen. Anschließend nahm sie die Mappe, die Walter ihr gegeben hatte, und sah sie durch.

Lucy Hollister war mit siebzehn Jahren die jüngste Kandidatin der letzten Staffel gewesen.  Üblicherweise mussten die Teilnehmerinnen mindestens achtzehn sein, doch in Ausnahmefällen wurde es akzeptiert, wenn die Eltern eine schriftliche Einverständniserklärung abgaben. Die Fotos zeigten ein äußerst hübsches und gutgebautes Mädchen mit braunen Haaren und dunklen Augen, das fröhlich in die Kamera lächelte. Sie hatte es bis ins Finale geschafft, hatte den zweiten Platz belegt, direkt danach war sie auf unerklärliche Weise verschwunden. Da sie nach dem Ende der letzten Sendung nicht mehr aufgetaucht war, vermutete man, dass ihr Verschwinden mit der Show zusammenhing. Beweise dafür gab es keine, und auch sämtliche Befragungen der Beteiligten hatten keinerlei diesbezügliche Anhaltspunkte ergeben.

Irgendwann gegen Abend legte Jill leise seufzend die Unterlagen beiseite. Sie fragte sich, ob es überhaupt einen Sinn machte, sich hinter den Kulissen der Show umzusehen. Genauso gut hätte man eine Stecknadel in einem Heuhaufen suchen können, das war ebenso aussichtslos.

Nach wie vor war sie nicht begeistert davon, sich in den Trubel dieser Fernsehshow zu begeben, aber jetzt hatte sie diesen Job am Hals und es gab kein Zurück mehr.

***

Am nächsten Mittag fuhr Jill zum Präsidium und holte ihren Presseausweis ab. Sie musste sich von den Kollegen noch ein paar gut gemeinte Ratschläge anhören, dann machte sie sich auf den Weg zur Stadthalle von Lakeside.

Schon von Weitem war eine unüberschaubare Menschenmenge zu erkennen, bestehend aus lauter jungen Frauen aller Altersklassen, von Teenagern bis hin zu reifen Endzwanzigern war alles vertreten. Alle schnatterten und wuselten mehr oder weniger aufgeregt durcheinander, und am liebsten hätte Jill auf dem Absatz kehrtgemacht.

Resigniert bahnte sie sich einen Weg durch das Gewühl, bis sie endlich vor dem Eingang stand. Nachdem sie ihren Presseausweis vorgezeigt hatte und sofort hinein gelassen wurde, sah sie sich unschlüssig um.

Überall war hektische Betriebsamkeit, und sie wusste nicht so recht, wo sie anfangen sollte. Offenbar hatte das Casting schon begonnen, denn ab und an kamen Mädchen an ihr vorbei, die sich entweder vor Freude überschlugen oder hysterisch heulten.

Neugierig ging sie die Gänge entlang, bis sie irgendwann einen Raum erreichte, der nach der Umkleidekabine der Models aussah.

Also gut, dachte sie genervt, dann rein in die Höhle des Löwen.

Jill quetschte sich an ein paar heulenden Mädchen vorbei und schaute sich staunend um. Etliche junge Frauen sprangen wild durcheinander, manche halb nackt und im Umziehen begriffen, einige völlig aufgelöst auf der Suche nach passenden Schuhen oder Accessoires. Wiederum andere saßen vor großen Spiegeln, legten Make-up auf oder versuchten, ihre Haare zu irgendwelchen grotesken Frisuren zu formen. Dazwischen eilten Assistenten herum, verteilten Nummern, gaben Anweisungen und bemühten sich, das Chaos unter Kontrolle zu behalten.

Kopfschüttelnd blieb Jill stehen und beobachtete, was sich hier abspielte, als plötzlich eine der Assistentinnen auf sie zuschoss und ihr ein Kleid in die Hand drückte.

»Nummer 132, los umziehen, du bist gleich dran!«

»Aber … aber …«, stotterte Jill verwirrt, »das ist ein Irrtum, ich …«

»Jetzt mach voran Schätzchen, wir haben nicht ewig Zeit«, unterbrach die ältere Frau sie vehement, und riss ihr förmlich die Bluse vom Leib.

»Nein, ich …«

»Sei nicht so zimperlich, das kannst du dir gleich abgewöhnen«, fuhr die Assistentin sie an, und zerrte ihr das Kleid über den Kopf, zog es zurecht und schloss den Reißverschluss.

»Los jetzt, die Jeans aus und ab nach draußen.«

Jill merkte, dass sie gegen diese Frau keine Chance hatte, wenn sie nicht unnötig Aufsehen erregen wollte, also fügte sie sich resigniert in ihr Schicksal.

Wenige Sekunden später wurden ihre Füße in ein Paar passende Schuhe gestopft und sie bekam ein Schild mit der Nummer 132 an die Brust geheftet. Danach wurde sie durch eine Tür in einen Nebenraum geschoben.

Dann ging alles so schnell, dass Jill kaum noch etwas mitbekam. Mehrere Mädchen standen in einer Reihe neben einem großen Vorhang, und ein weiterer Assistent schob eine nach der anderen dahinter.

»Hören Sie«, wandte Jill sich verzweifelt an den Mann, »ich …«

»132«, rief in diesem Moment eine Stimme jenseits des Vorhangs und Jill bekam einen Schubs.

Sie stolperte vorwärts, und blinzelte eine Sekunde später in das unbarmherzig grelle Licht der Scheinwerfer.

3

Wie angenagelt stand Jill da und versuchte, irgendetwas zu erkennen, doch die gleißende Helligkeit blendete sie zu sehr. Der Raum lag völlig im Dunkeln, lediglich der vor ihr liegende Laufsteg war von den Scheinwerfern in ein weißliches Licht getaucht.

»Lauf!«, zischte eine Stimme hinter ihr, und unsicher stöckelte sie ein paar Schritte nach vorne.

»Wird das heute noch was?«, schrillte eine Frauenstimme irgendwo vor ihr aus der Schwärze des Saals und übertönte das leise Summen der Kameras. »Willst du da Wurzeln schlagen?«

Hilflos setzte Jill sich wieder in Bewegung, stakste langsam und wenig graziös auf den Stilettos mit den ungewohnt hohen Absätzen vorwärts. Konzentriert bemühte sie sich darum, nicht auszurutschen, was angesichts des spiegelglatten Bodens keine leichte Aufgabe war. Ein paar Mal geriet sie bedrohlich ins Wanken, aber irgendwann hatte sie es schließlich geschafft, das Ende des Podests zu erreichen. Erleichtert blieb sie stehen, zwinkerte angestrengt in die Dunkelheit.

»Ein bisschen alt, oder?«, hörte sie eine Männerstimme.

Die Frau schrillte wieder los. »Jetzt steh doch nicht da wie ein Klotz, beweg dich, dreh dich mal um!«

Völlig entnervt folgte Jill dieser Aufforderung, verlor bei der Drehung fast das Gleichgewicht, konnte sich jedoch gerade noch abfangen.

»Das ist ja unmöglich«, quäkte es erneut, und Jill war inzwischen klar, dass es sich vermutlich um Harriet Grumb handelte.

»Ich weiß nicht, ich finde, sie hat etwas«, erklang die amüsierte Stimme eines anderen Mannes.

»Ja, hässlich ist sie nicht, und ihre Figur ist auch super«, sagte der Erste wieder.

Jill kam sich vor wie ein Stück Fleisch in der Theke beim Metzger um die Ecke. Am liebsten hätte sie die Schuhe ausgezogen und nach vorne in die Dunkelheit geworfen, in der Hoffnung, zumindest einem der Jurymitglieder damit eine tödliche Stichwunde zuzufügen. Doch angesichts der laufenden Kameras wollte sie sich nicht noch mehr blamieren. Also machte sie gute Miene zum bösen Spiel und zauberte mit letzter Kraft ein schiefes Lächeln auf ihr Gesicht.

»Gut, sie kriegt eine Chance«, gab Harriet mit genervter Stimme nach. »132, du bist weiter –  Abgang – die Nächste!«

»Äh … was?«, fragte Jill irritiert, in der festen Überzeugung sich verhört zu haben.

»Bist du schwerhörig?«, zischte Harriet giftig. »Du bist weiter. Und jetzt raus mit dir, du hältst den ganzen Betrieb auf.«

Weiter, schoss es Jill ungläubig durch den Kopf, ich bin weiter.

Damit hatte sie nicht gerechnet, das war eindeutig zu viel für ihre Nerven. Voller Panik drehte sie sich um, stolperte den Laufsteg entlang zurück, und stieß dabei mit dem nächsten Mädchen zusammen, das ihr bereits entgegenkam. Die etwas pummelige Brünette fiel wie ein Mehlsack zu Boden und quietschte vor Schreck laut auf. Erschrocken blieb Jill stehen und beugte sich zu ihr herunter, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

»Kannst du nicht aufpassen, du Trampel?«, fauchte das Mädchen sie wütend an und schlug ihre Hand weg.

»Tut mir leid«, entschuldigte Jill sich zerknirscht, und setzte dann ihren Weg in Richtung Vorhang fort. In ihrem Rücken konnte sie das Getuschel der Jury hören. Harriet schien ziemlich aufgebracht zu sein, einer der Männer gab ein amüsiertes, leises Lachen von sich. Kurz vor dem Ende des Laufstegs wurde sie seitlich eine kleine Treppe hinuntergezogen und stand wenig später wieder in der Garderobe.

Vollkommen aufgelöst machte sie sich auf die Suche nach ihrer Kleidung, fand sie schließlich auch in einer Ecke und zog sich eilig um.

Nichts wie weg hier, dachte sie fassungslos, während sie den Umkleideraum verließ. Draußen holte sie tief Luft und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Völlig entgeistert legte sie den Kopf in die Hände und versuchte zu begreifen, was da gerade passiert war.

Die Tatsache, dass man sie für ein Model gehalten und auf diesen Laufsteg genötigt hatte, war an sich schon schlimm genug. Aber jetzt drang es nach und nach in ihr Bewusstsein, dass vermutlich Hunderttausende von Zuschauern vor den Fernsehern ihren peinlichen Auftritt live verfolgt hatten. Ihr wurde übel, und sie fragte sich, wie sie das Walt beibringen sollte. Worte wie ‚diskret‘ und ‚unauffällig‘ schossen ihr durch den Kopf, und ihr war klar, dass sie die Sache wohl ziemlich verbockt hatte.

»Hi«, sagte plötzlich eine leise Stimme und riss sie aus ihren Gedanken.

»Hallo«, antwortete sie abwesend.

»Ich bin Mandy«, erklärte die blonde junge Frau neben ihr und reichte ihr die Hand. »Ein ganz schöner Wirrwarr hier, was? – Bist du weiter?«

Jill verzog das Gesicht und nickte. »Ja, bin ich«, bestätigte sie unglücklich.

»Du scheinst dich nicht sehr zu freuen.« Mandy lächelte. »Aber das kann ich verstehen, es ist alles so neu und aufregend, ich habe auch ziemliche Angst.«

»Ja«, seufzte Jill, »Angst ist genau das richtige Wort.« Sie dachte wieder an Walt und an den Ärger, den sie sicher bekommen würde, und stand auf. »Ich muss jetzt weg.«

»Oh, okay – machs gut, wir sehen uns.«

Das glaube ich kaum, dachte Jill lakonisch, dann sagte sie laut: »Ja, du auch, bis dahin.«

Sie verließ das Gebäude, blieb einen Moment vor der Tür stehen und überlegte, ob sie nicht doch wieder hineingehen und sich noch ein wenig umsehen sollte. Durch ihren unfreiwilligen Auftritt hatte sie ja bisher kaum Gelegenheit dazu gehabt. Aber sie verwarf den Gedanken genauso schnell, wie er gekommen war, keine zehn Pferde würden sie mehr in diesen Hexenkessel bringen. Außerdem war das jetzt sowieso egal, sie hatte den Einsatz vermasselt und Walt würde ihr den Fall garantiert abnehmen, also trat sie frustriert den Heimweg an.

***

Mit gemischten Gefühlen betrat sie am nächsten Morgen das Präsidium. Dass sämtliche Kollegen, die ihr auf dem Gang begegneten, sie angrinsten oder leise pfiffen, machte die ganze Sache nicht unbedingt besser. Mit hochrotem Kopf stürzte sie in den Besprechungsraum.

»Hey Jill, tolle Show gestern«, begrüßte Tom Steward sie sofort mit einem breiten Grinsen.

»Ja, ganz toll«, gab sie genervt zurück, »Walt wird bestimmt auch begeistert sein.«

Nach und nach trudelten die anderen Kollegen ein, und Jill musste sich allerlei belustigte Kommentare gefallen lassen.

»Also wenn ich gewusst hätte, dass sich unter diesen Klamotten so ein Leckerbissen versteckt, hätte ich …« Weiter kam Tom nicht, denn in diesem Moment betrat Walt den Raum.

»Da ist ja unser Super-Model«, grinste er ebenfalls erheitert, und Jill wäre am liebsten im Erdboden versunken.

»Ich – es tut mir leid, ich hab es wohl verbockt«, murmelte sie unglücklich und machte sich innerlich auf die bevorstehende Standpauke gefasst.

»Wieso denn verbockt, etwas Besseres hätte gar nicht passieren können«, erklärte Walt jedoch zu ihrer Überraschung. »Wenn du jetzt noch die nächste Auswahl überstehst, wirst du zusammen mit den übrigen neun Models und der Crew in diese sogenannte ‚Model-Villa‘ einziehen. Dort bist du Tag und Nacht mittendrin im Geschehen, eine perfektere Tarnung könnten wir uns gar nicht wünschen.«

Entsetzt starrte Jill ihn an. »Du verlangst doch wohl nicht, dass ich diesen Zirkus mitmachen soll?«

»Wie gesagt, eine bessere Chance für unsere Ermittlungen werden wir nicht finden«, unterstrich ihr Chef noch einmal, und sein Ton machte deutlich, dass er keinen Widerspruch erwartete.

»Aber … aber …«, stotterte Jill, während vor ihrem inneren Auge Bilder von halb nackten Mädchen auftauchten, die sich lasziv vor einer Kamera rekelten. »Ich werde doch bestimmt nicht weiterkommen«, gab sie hastig zu bedenken.

»Mit der Figur?«, amüsierte Tom sich erneut. »Natürlich wirst du das, es sei denn, die Jury hat Tomaten auf den Augen.«

Walt warf ihm einen strengen Blick zu, wandte sich dann wieder zu Jill. »Mir ist klar, dass das keine hundertprozentige Sache ist, aber es ist einen Versuch wert. Streng dich ein bisschen an, es wird schon klappen.«

Sie diskutierten noch eine Weile, Jill versuchte sich mit Händen und Füßen gegen Walters Vorschlag zu wehren, doch zu guter Letzt blieb ihr nichts anderes übrig als nachzugeben.

»Kopf hoch, das wird bestimmt«, klopfte Walt ihr im Hinausgehen noch mal väterlich auf die Schulter, »gib einfach dein Bestes.«

4

Eine Woche später fand die zweite Auswahlsendung statt, und mit Magenschmerzen machte Jill sich auf den Weg zur Stadthalle. Je näher sie kam, desto zögernder wurden ihre Schritte, sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht.

Diesmal waren es weitaus weniger Mädchen, der größte Teil war bereits beim ersten Casting ausgeschieden, aber die Hektik im Umkleideraum war deswegen nicht geringer als beim letzten Mal. In einer Ecke entdeckte sie Mandy. Im Vergleich zu den anderen Mädchen war sie ihr doch relativ ruhig und vernünftig erschienen, und erleichtert steuerte sie auf sie zu.

»Hi«, lächelte Mandy sie an, »schön dich zu sehen, wenigstens ein bekanntes Gesicht.«

Jill nickte. »Ja, geht mir genauso. – Hast du eine Ahnung wie das heute hier abläuft?«

»Also wenn ich das richtig mitbekommen habe, gibt es drei Durchgänge. Einmal in normaler Kleidung, einmal in Abendgarderobe und einmal im Bikini.«

»Im Bikini«, wiederholte Jill verstört, und bei dem Gedanken, dass sie so spärlich bekleidet von etlichen Zuschauern begafft werden würde, drehte sich ihr erneut der Magen um. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was sie sich anschließend von den Kollegen auf dem Revier anhören durfte. Hundertprozentig saßen die doch heute Abend alle vor der Mattscheibe und warteten auf Jills Auftritt.

Mandy schmunzelte. »Ja, mir ist auch nicht so wohl dabei, aber es ist mein größter Traum Model zu werden, also beiße ich die Zähne zusammen«, erklärte sie.

Jill betrachtete sie genauer und stellte fest, dass Mandy wirklich ausgesprochen hübsch war. Sie hatte langes, blondes Haar, große blaue Augen, einen schön geschwungenen Mund. Ihr Teint war wie aus Porzellan, und – soweit Jill das im Sitzen sehen konnte – sie besaß eine perfekte Figur.

»Du hast das richtige Aussehen um es zu schaffen«, sagte Jill aufrichtig, »ich drücke dir ganz fest die Daumen.«

»132!«, rief in diesem Moment eine Assistentin, diesmal eine jüngere Ausgabe der alten Furie vom letzten Mal, und Jill erinnerte sich dunkel daran, dass das ihre Nummer gewesen war.

»Bis dann«, seufzte sie unglücklich und stand auf, sie fühlte sich wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.

»Ich drücke dir auch die Daumen«, winkte Mandy ihr noch zu, da wurde Jill bereits in eine andere Ecke gezerrt und bekam irgendwelche Kleidung gereicht. Nervös zog sie sich um, irgendein Stylist fummelte noch schnell in ihrem Gesicht und an ihren Haaren herum, und schon stand sie wieder in dem Nebenraum.

Wie beim letzten Mal erhielt sie irgendwann erneut einen kleinen Schubs und schob sich an dem Vorhang vorbei hinaus auf den Laufsteg. Sie bemühte sich um einen lässigen Gesichtsausdruck und stöckelte das Podest entlang, blieb dann vorne stehen.

»Drehen!«, quakte die ihr nur allzu gut in Erinnerung gebliebene Stimme von Harriet Grumb ihr entgegen.

Vorsichtig drehte sie sich einmal um die eigene Achse, starrte angestrengt in die Schwärze vor sich, versuchte etwas zu erkennen, doch auch dieses Mal vergeblich.

Leises Gemurmel erklang, dann wurde sie zurückgeschickt.

In der Garderobe reichte man ihr sofort ein Abendkleid und gab ihr den Befehl, sich umzuziehen. Widerwillig tat sie wie befohlen, ein Stylist steckte ihr die Haare hoch und zog ihr den Lippenstift nach. Anschließend musste sie sich setzen und warten, bis sie wieder an der Reihe war.

Es erfolgte die gleiche Prozedur – Vorhang, laufen, drehen, stehen, Gemurmel, zurücklaufen.

Erleichtert ließ sie sich im Umkleideraum auf einen Stuhl sinken, sie war froh, dass sie diese beiden Runden ohne größere Katastrophen hinter sich gebracht hatte. Wenn Mandy recht hatte, war jetzt der Bikini dran. Als Jill gerade überlegte, ob sie sich das wirklich antun sollte, warf ihr eine der Assistentinnen auch schon zwei winzige Stofffetzen zu.

»Auf, auf, umziehen!«

Völlig hilflos starrte sie den Bikini an, das Ding war so mickerig, dass es vermutlich mehr entblößte als verdeckte, und schmerzhaft krampfte sich ihr Magen zusammen.

»Was ist los, schlaf nicht ein!«, fuhr die Assistentin sie an, und zerrte ihr das Abendkleid herunter.

Wenig später hatte sie den Bikini an, schlüpfte in ein Paar hochhackige Schuhe, deren Anblick allein reichte, um ein Schwindelgefühl auszulösen, und stand anschließend wieder angespannt im Nebenraum am Vorhang.

Als sie dran war, machte sie zögernd ein paar Schritte hinaus, hielt dann inne und zupfte verschämt an ihrem Oberteil herum.

»Du kannst ruhig näherkommen, wir beißen nicht«, tönte eine amüsierte Stimme aus der Dunkelheit, zur Abwechslung mal nicht die von Harriet, sondern scheinbar von einem ihrer Mitjuroren.

Langsam stakste sie nach vorne, blieb stehen und starrte verlegen auf den Boden.

»Drehen!«, befahl Harriet wieder, hörbar genervt.

Hastig vollführte sie eine Drehung, schlang dann schützend die Arme um sich.

»Gut, du kannst gehen.« Harriet klang keineswegs begeistert.

Erleichtert drehte Jill sich um und stürmte, so schnell es mit den hohen Absätzen ging, auf den Vorhang zu.

»Sie hat eine tolle Figur«, hörte sie im Weggehen noch den Kommentar des Einen, und der Andere fügte hinzu: »Ja, und sie ist wirklich niedlich.«

Mehr bekam sie nicht mit, sie stürzte fluchtartig in die Garderobe, griff nach ihren Sachen und zog sich im Eiltempo um. Am liebsten wäre sie jetzt verschwunden, aber sie mussten alle warten, bis die Jury sich beraten und geeinigt hatte, also blieb ihr nichts anderes übrig, als auszuharren.

Irgendwann tauchte Mandy wieder an ihrer Seite auf. »Und, wie ist es gelaufen?«

»Keine Ahnung«, erklärte Jill achselzuckend, während sie sich im Stillen wünschte, dass sie sich so ungeschickt angestellt hatte, dass man sie in hohem Bogen hinauswerfen würde. Lieber würde sie künftig jeden Tag auf irgendeiner Kreuzung den Verkehr regeln, als sich noch mal so angaffen zu lassen.

»Und bei dir?«, wollte sie dann von Mandy wissen.

»Ich glaube ganz gut, aber lassen wir uns mal überraschen. – Ich hoffe, wir kommen beide weiter.«

»Ja«, nickte Jill mit einem schiefen Lächeln, und schickte tausend Stoßgebete zum Himmel, dass es nicht so sein würde.

Irgendwann waren alle Mädchen durch, es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Jury sich ihr Urteil gebildet hatte, danach bat man sie alle in den Saal. Sie gruppierten sich an einer Seite des Raums, wurden dann einzeln aufgerufen, mussten vor den Jurytisch treten und bekamen dort die Entscheidung mitgeteilt. Dadurch, dass die Scheinwerfer jetzt auf diesen Punkt des Saales gerichtet waren, war das Blenden weg. Die Schwärze im Raum wich einem Halbdunkel, sodass Jill nun zum ersten Mal die Personen hinter dem Jurytisch erkennen konnte.

Tatsächlich waren es Harriet Grumb, Mick Fairgate und Craig Peters, die da saßen. Langsam ließ Jill ihren Blick über die drei Juroren gleiten.

Selbst auf diese Entfernung sah sie, dass Harriet ziemlich aufgedonnert und stark geschminkt war. Ihr knallrot gefärbtes Haar war zu einer seltsamen Frisur aufgetürmt, und man erkannte deutlich die schwarzen Stellen am Haaransatz. Mick Fairgate sah durchschnittlich aus. Er hatte dunkelblondes, krauses Haar, war ein bisschen fülliger und machte einen fröhlichen Eindruck. Im Gegensatz zu ihm sah Craig Peters mit seinen dunklen Haaren und dem Dreitagebart zwar umwerfend gut aus, doch sein Gesicht wirkte ernst und relativ desinteressiert.

Jill war so eingehend damit beschäftigt, die Drei zu beobachten, dass sie überhaupt nicht mitbekam, wie ihre Nummer aufgerufen wurde.

»132!«, wiederholte Harriet schrill und ungeduldig, und Jill eilte nach vorne.

»Zum Teufel Mädchen, was ist nur mit dir los? Also wenn du Model werden willst, musst du dir ein bisschen mehr Mühe geben. Was du bis jetzt hier abgeliefert hast, ist unter aller Kanone«, nörgelte Harriet, und Jill rieb sich im Stillen die Hände. Das war sehr gut, noch ein paar Minuten, und sie würde glücklich und entspannt nach Hause gehen können.

»Du bist weiter«, hörte sie in diesem Moment Harriets Stimme und entgeistert riss sie die Augen auf.

»Was?«, fragte sie ungläubig.

»Ja, ich verstehe es auch nicht, du kannst dich bei den beiden Herren hier bedanken«, putzte Harriet sie herunter. »Die Nächste, 137!«

Ohne wirklich zu sehen, wo sie hinlief, schwankte Jill wieder zurück in die Gruppe, wurde dort von einigen Mädels freundschaftlich umarmt, andere starrten sie neiderfüllt an. Sie bekam nichts mehr mit, dachte nur noch voll Entsetzen daran, dass das ganze Drama für sie jetzt wohl erst richtig losgehen würde.

5

Natürlich hatten die Kollegen alle die Sendung angeschaut, offenbar hatten sie sich zu einem gemütlichen ‚Männerabend‘ getroffen, und sich gemeinsam über Jills Glanzleistung amüsiert. Und wie bereits beim letzten Mal wurde sie mit Pfiffen, Johlen und anzüglichen Kommentaren empfangen, als sie einen Tag später ins Präsidium kam.

Den Tränen nahe flüchtete sie in Walters Büro. »Ich gehe da nicht mehr raus«, erklärte sie energisch anstelle einer Begrüßung.

Walt grinste. »Na komm Mädel, ist doch halb so wild. Du hast deine Sache gut gemacht, und die Jungs werden sich in den nächsten Tagen bestimmt beruhigen«, tröstete er sie. »Hauptsache es hat geklappt, was sind da schon ein paar dumme Sprüche.«

»Du musst dir das ja nicht anhören«, sagte Jill frustriert.

»Das legt sich wieder. Du wirst ja jetzt erst einmal für eine Weile in dieser Model-Villa sein, und bis du zurückkommst, haben die Kollegen garantiert ein anderes Thema gefunden.«

»Oder auch nicht«, murrte Jill genervt, denn ihr war klar, dass die Männer sich mit Sicherheit jede weitere Folge anschauen würden.

»Ich gehe mal davon aus, dass du noch nicht großartig dazu kamst, irgendwelche Ermittlungen anzustellen?«, kam Walt auf die eigentliche Sache zu sprechen. »Ist dir irgendetwas aufgefallen?«

»Nein, außer dass man sich in diesen Stöckelschuhen sehr schnell die Beine brechen kann«, erwiderte sie trocken.

»Gut, ist nicht schlimm, du wirst ja jetzt genug Zeit haben, dich in Ruhe umzuhören und umzusehen. Aber ich betone es noch mal, keine eigenmächtigen Aktionen, ich will über alles auf dem Laufenden gehalten werden.«

Jill nickte. »Ja, ist schon klar.«

»Wann geht es los?«

»Am Montag ziehen wir dort ein«, erklärte Jill seufzend.

»Okay, du hast bis dahin frei, damit du dich vorher noch ein bisschen ausruhen kannst. Ich wünsche dir viel Glück und Erfolg.«

Unglücklich gab Jill ihm die Hand, dann lief sie hinaus und hastete so schnell wie möglich über den Gang, bevor das Gepfeife erneut losging.

***

Es war der Abend vor dem Umzug in die Villa. Jill lag auf der Couch und versuchte, sich auf ein Buch zu konzentrieren. Ihr Koffer war bereits gepackt, und ihr war klar, dass das hier für mindestens eine Woche die letzten Stunden sein würden, die sie in Ruhe genießen konnte.

Sie ging in die Küche und holte sich ein Glas Wein, wollte damit gerade wieder ins Wohnzimmer zurückgehen, als es an der Tür läutete.

Wer ist das denn nun?, dachte sie, überhaupt nicht begeistert von der Störung.

Sie öffnete und zu ihrer Überraschung war es ihre Mutter, die sich aufgeregt an ihr vorbei schob.

»Jill, wieso tust du mir so etwas an?«, legte Alice Moore entrüstet los, bevor Jill auch nur ein Wort sagen konnte. »Wie kannst du dich nur so nackt im Fernsehen zeigen?«

Beschwichtigend hob Jill die Hände. »Mom, jetzt beruhige dich doch.«

»Wie soll ich mich beruhigen, wenn ich von Phyllis darauf angesprochen werde, dass sie dich beinahe hüllenlos in dieser Model-Sendung gesehen hat? Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Jill schob sie zur Couch. »Setz dich erst mal hin, ich mache uns einen Kaffee und dann sprechen wir in Ruhe darüber.«

Sie verschwand in der Küche, und während die Kaffeemaschine lief, überlegte sie fieberhaft, was sie jetzt erzählen sollte. Normalerweise schaute ihre Mutter sich solche Shows nicht an, und eigentlich hatte Jill gehofft, spätestens bei der nächsten Sendung auszuscheiden und zurück zu sein, bevor sie etwas bemerken würde.

Doch offenbar hatte Phyllis Atkins, die alte Klatschtante von nebenan, mal wieder nicht den Mund halten können. Seit Jill hier eingezogen war, ließ die Nachbarin keine Gelegenheit aus, um hinter ihr her zu spionieren und anschließend jede Kleinigkeit brühwarm ihrer Mutter zu berichten. Scheinbar hatte sie zufällig die letzte Sendung gesehen, und danach nichts Besseres zu tun gehabt, als sofort die Buschtrommeln in Gang zu setzen.

Jetzt erwartete ihre Mutter eine Erklärung. Auf keinen Fall konnte Jill ihr den wahren Grund für ihre Teilnahme an der Show nennen, sie durfte nicht über ihre Einsätze sprechen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ihrer Mutter einzureden, dass sie auf das Preisgeld spekulierte.

»Mom, sieh mal«, begann sie vorsichtig, nachdem sie die Tassen ins Wohnzimmer gebracht hatte, »ich hatte schon immer vor, mich irgendwann einmal selbstständig zu machen. Mit dem Geld, das es dort in der Sendung zu gewinnen gibt, könnte ich mir diesen Wunsch erfüllen.«

»Aber doch nicht, indem du dich splitternackt ausziehst«, sagte Alice Moore empört. »Meine Tochter präsentiert sich unbekleidet im Fernsehen – so eine Schande.«

»Ich war nicht nackt«, widersprach Jill und dachte mit Unbehagen daran, dass sie sich genau so gefühlt hatte, »ich hatte einen Bikini an.«

»Als ob das einen großen Unterschied machen würde«, ereiferte ihre Mutter sich weiter. »Und überhaupt, was wird Simon dazu sagen? Denkst du etwa, er wird sich jemals wieder mit dir verabreden wollen, wenn er davon erfährt?«

Jill verdrehte die Augen. »Mom, was Simon darüber denkt, ist mir eigentlich so ziemlich egal. Ich lege keinen Wert darauf, noch einmal mit ihm ausgehen.«

»Aber Jill, er ist so ein netter Mann und eine gute Partie obendrein.«

»Das mag ja sein, doch er ist auch furchtbar langweilig, und ich glaube nicht, dass ich Lust habe, für ihn das Heimchen am Herd zu spielen.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen?« Alice Moore schüttelte verständnislos den Kopf. »Du solltest froh sein, dass er dir den Hof macht, es wird langsam Zeit, dass du heiratest und Kinder bekommst.«

»Mom, bitte«, seufzte Jill genervt, »wie oft soll ich es dir noch erklären? Ich bin grade mal sechsundzwanzig und habe es nicht eilig zu heiraten, und schon gar nicht einen Mann, der aus mir ein Hausmütterchen machen will. Also hör endlich damit auf, ich will von Simon und generell von diesem Thema nichts mehr hören.«

»Gut, dann eben nicht«, sagte ihre Mutter spitz. »Aber komm mir bloß nicht in ein paar Jahren an und jammere mir die Ohren voll, weil alle deine Freundinnen verheiratet sind und du nicht. – Und was ist mit dieser Show? Du wirst da sicher nicht weiter mitmachen, oder?«

»Doch Mom, das werde ich.«

»Und was sagt dein Chef dazu? Er kann unmöglich damit einverstanden sein, dass eine Polizeibeamtin sich so in der Öffentlichkeit zeigt.«

»Im Gegenteil, er hat mich sogar in meinem Entschluss bestärkt und mir unbezahlten Urlaub gegeben, bis ich wieder zurück bin«, schwindelte Jill hastig. Als sie das unglückliche Gesicht ihrer Mutter bemerkte, setzte sie sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Mom, bitte mach dir nicht so viele Gedanken darüber, es ist absolut nichts dabei. Vielleicht komme ich ja auch gar nicht sehr weit, und das Ganze erledigt sich schneller, als du glaubst.«

Alice Moore schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich verstehe dich wirklich nicht. Aber du bist alt genug, um zu wissen, was du tust, es ist dein Leben, das du dir ruinierst. – Ich werde jetzt gehen und hoffen, dass du eventuell doch noch zur Vernunft kommst, bevor es zu spät ist.«

Mit einem schlechten Gewissen begleitete Jill sie zur Tür.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ging sie seufzend ins Schlafzimmer und stellte sich vor den großen Wandspiegel.

Kritisch musterte sie ihr Spiegelbild und fragte sich zum wiederholten Male, was die Juroren bewogen hatte, ausgerechnet sie auszusuchen.

Sicher, sie war keineswegs hässlich. Ihre langen, kastanienfarbenen Haare fielen ihr in sanften Wellen über die Schultern bis zur Mitte ihres Rückens, ihre grünen Augen waren leuchtend und von langen, dunklen Wimpern umsäumt. Die Nase war vielleicht ein wenig zu schmal, dafür waren ihre Lippen voll, die Konturen fein geschwungen. Auch ihre Figur konnte sich durchaus sehen lassen, ihre Beine waren lang und wohlgeformt, die Taille schmal, ihre Brüste voll und straff.

Obwohl sie im Großen und Ganzen mit sich zufrieden war, konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie es bis ins Finale schaffen würde, geschweige denn, den Wettbewerb zu gewinnen.

Sie schloss die Augen und begann zu träumen, versuchte, sich vorzustellen, was sie mit dem Geld tun würde, wenn sie tatsächlich gewinnen sollte. Vielleicht würde sie ihren Job aufgeben und eine eigene, kleine Detektei oder eine Security-Firma eröffnen. Ganz sicher würde sie sich zuerst einmal einen ausgedehnten Urlaub gönnen, von ihrem schmalen Gehalt hatte sie sich das bisher nicht leisten können.

Weiße Strände tauchten vor ihrem inneren Auge auf, in sanften Wellen plätscherte das Meer ans Ufer. Palmen wiegten sich leicht im Wind, sie lief in einem Bikini – über einen Laufsteg, grelle Scheinwerfer beleuchteten unbarmherzig jeden Zentimeter ihres Körpers. Abrupt riss sie die Augen wieder auf, schüttelte den Kopf, und fragte sich zum wiederholten Male, auf was sie sich da eingelassen hatte.

6

Schweren Herzens schleppte Jill am nächsten Mittag ihren Koffer zur Stadthalle. Dort war der Treffpunkt, sie würden alle mit einem Bus abgeholt und in die Villa gebracht werden.

Einige der anderen neun Mädchen waren bereits da, als sie ankam, und auch ein Kamerateam war anwesend, welches die Abfahrt in Lakeside und die Ankunft in der Villa filmen sollte. Nach und nach trudelte der Rest ein und zu ihrer Freude entdeckte Jill Mandy unter den Nachzüglern.

Diese kam sogleich auf sie zu und umarmte sie glücklich. »Schön, dass du ebenfalls da bist, da fühle ich mich nicht ganz so alleine«, erklärte sie, und Jill nickte.

»Ja, ich freue mich auch.«

Schweigend standen sie da und warteten auf das Eintreffen des Busses. Jill ließ unterdessen ihren Blick über die anderen Mädchen schweifen, die aufgeregt schnatternd herumtänzelten.

Na das kann ja was werden, seufzte sie im Stillen und war jetzt schon genervt. Sie hoffte inständig, dass es keine Mehrbettzimmer geben würde, mit einem ganzen Rudel von diesen affektierten Gänsen würde sie es nicht aushalten.

Schließlich fuhr der Bus vor, der Fahrer verstaute ihr Gepäck und nacheinander stiegen sie ein. Jill setzte sich gleich neben Mandy, sie schien die einzig Ruhige und Vernünftige in diesem Hühnerhaufen zu sein.

Ein Assistent, der geduldig darauf gewartet hatte, dass alle Mädchen vollzählig anwesend waren, lief durch den Gang und reichte jedem Mädchen ein Formular.

»Wir benötigen noch eure persönlichen Daten, unter anderem für die Versicherung. Also füllt das Blatt bitte sorgfältig und leserlich aus, ich sammle es gleich wieder ein.«

Mit leisem Gemurmel begannen die Mädchen, die erforderlichen Angaben auf dem Zettel einzutragen. Rasch kritzelte Jill ihren Namen, ihre Adresse sowie ihr Geburtsdatum und ein paar andere Dinge auf das Papier. Beim Feld mit der Bezeichnung ‚Beruf‘ zögerte sie. Auf keinen Fall konnte sie hineinschreiben, dass sie Polizistin war, niemand durfte das erfahren. Sie überlegte einen Moment, dann trug sie kurz entschlossen ‚Kassiererin‘ ein. Das war ein durchschnittlicher, weit verbreiteter Job, und keiner würde sich etwas dabei denken. Je weniger sie auffiel, desto besser.

Nach einer Weile lief der Mann wieder durch den Bus und sammelte die Blätter ein, danach ging es endlich los.

Die Fahrt dauerte eine knappe Stunde, und schließlich erreichten sie eine große Villa, die ein bisschen außerhalb eines kleinen Orts namens Oceanview lag. Davor parkten bereits einige Autos, alles teure und elegante Wagen, offensichtlich waren sie nicht alleine im Haus.

Sie stiegen aus, griffen sich ihre Koffer und gingen dann hinein, acht Mädels aufgeregt und kichernd vorneweg, Mandy und Jill ruhig und zurückhaltend hinterher.

Drinnen schaute Jill sich um. Sie befanden sich in einer größeren Eingangshalle, eine Treppe führte nach oben, vorne und seitlich zweigten mehrere Türen ab.

»In Ordnung meine Damen, lasst euer Gepäck stehen und kommt einen Augenblick hier rein«, schrillte Harriets Stimme durch die Halle.

Sie folgten ihr in einen großflächigen, luxuriös eingerichteten Wohnraum. Deckenhohe Fenster ließen viel Licht herein, draußen schimmerte ein Swimmingpool in der Sonne. Mehre weiße Plastikliegestühle standen um den Pool herum, im hinteren Bereich des weitläufigen, gepflegten Gartens konnte man einen Pavillon und einen Geräteschuppen erkennen.

Ein paar der Mädchen quietschten entzückt auf, Jill schaute Mandy an, sie verdrehten beide belustigt die Augen.

Hinter Harriet entdeckte Jill Mick Fairgate auf der Couch, er grinste fröhlich, Craig Peters lehnte mit unbewegtem Gesicht am Kamin.

»Ihr werdet also die nächsten Wochen mit uns hier in der Villa verbringen, und ihr braucht nicht zu denken, dass das ein Entspannungsurlaub wird«, erklärte Harriet. »Es wird tägliche Trainings geben, zwischendurch werden Fotoshootings gemacht, und einige von euch werden vielleicht auch Aufträge bei Modeschauen bekommen. Außerdem werden sporadisch Kamerateams anwesend sein, um zusätzliches Material für die Shows zu filmen. Das Ganze ist also harte Arbeit und kein Ponyhof. Wer nicht mitzieht oder versucht, sich zu drücken, kann gleich wieder seine Koffer packen, wir werden keine Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten nehmen.«

Die Mädchen hatten aufgehört zu kichern und starrten Harriet schweigend an.

»Ihr habt heute und morgen noch Schonzeit, um euch einzugewöhnen, danach geht es los. Die Zimmeraufteilung ist wie folgt: Hier im Erdgeschoss gibt es diesen Wohnraum, eine Küche und einen Speiseraum, der gleichzeitig als Aufenthaltsraum genutzt werden kann. Den Pool und die Terrasse draußen könnt ihr in eurer Freizeit jederzeit benutzen. Ihr müsst euch selbst versorgen, das heißt, einkaufen und kochen, es wird niemand bedient. Fürs Putzen seid ihr ebenfalls selbst zuständig, denn wir haben auch kein Reinigungspersonal. Außerdem gibt es hier unten noch einen Geräteraum sowie einen Raum, den wir für das Lauftraining verwenden. Die Crew schläft ganz oben, eure Zimmer sind in der ersten Etage. Es sind Zweibettzimmer, ihr könnt euch also jetzt absprechen, wer mit wem zusammen wohnen will, und dann hinaufgehen und eure Sachen auspacken.«

Sofort brach unter den Mädchen ein wilder Tumult aus, heiße Diskussionen um die Zimmerbelegung entbrannten. Jill und Mandy schauten sich rasch an, nickten sich unauffällig zu und verschwanden in die Halle. Schnell nahmen sie sich ihre Koffer und stiegen die Treppe hoch, warfen einen Blick in jeden Raum.

»Es gibt nur ein Zimmer mit einem Balkon«, stellte Mandy fest und schaute Jill fragend an.

»Dann gehört es jetzt uns«, grinste Jill, und kurz darauf ließen sie sich zufrieden auf die weichen Betten fallen.

Nach und nach kamen die anderen hinauf gestapft, und Mandy zog den Kopf ein. »Das wird bestimmt Ärger geben«, sagte sie ängstlich, doch Jill winkte ab.

»Selbst schuld, wenn sie ewig brauchen, um sich zu einigen, haben sie eben das Nachsehen.«

Tatsächlich erschien bereits wenig später eine etwas pummelige Brünette mit großer Oberweite in der Tür, eine Rothaarige stand hinter ihr und lugte ihr über die Schulter.

»Hey, wieso habt ihr das Zimmer mit dem Balkon?«, fragte die Braunhaarige aufgebracht und starrte Jill und Mandy verärgert an.

»Ganz einfach, weil wir zuerst hier waren«, erklärte Jill freundlich und lächelte das Mädchen an.

»Das geht aber so nicht, ich finde, wir sollten das auslosen.«

»Tja, das geht schon, wie du siehst. Und ihr könnt gerne auslosen, was ihr wollt, wir packen jetzt unsere Koffer aus.«

Seelenruhig stand Jill auf und fing an, ihre Sachen in die Kommode zu räumen.

Die Brünette warf ihr einen bösen Blick zu. »Du denkst wohl, du kannst dir alles erlauben, was?«, giftete sie los. »Nicht genug, dass du mich auf dem Laufsteg umgerannt und mir beinahe meinen Auftritt versaut hast, jetzt reißt du dir auch noch das beste Zimmer unter den Nagel. Aber weit wirst du hier nicht kommen, das sage ich dir, am besten gehst du gleich wieder zurück auf deinen Bauernhof, du Trampel.«

Im Zeitlupentempo drehte Jill sich zu ihr um und grinste. »Ich bin also ein Trampel, ja? Wenn ich mich richtig erinnere, warst du doch diejenige, die über ihre eigenen Füße gefallen ist.«

Das Mädchen schnappte ein paar Mal empört nach Luft, brachte jedoch keinen Ton heraus. Dann fuhr sie wütend herum, und verschwand mit der Rothaarigen im Schlepptau, allerdings nicht ohne lautstark die Tür hinter sich zuzuwerfen.

»Oh je, ich glaube, die waren ziemlich sauer«, murmelte Mandy, und machte ein bedrücktes Gesicht.

Ernst schaute Jill sie an. »Ganz ehrlich, das ist mir völlig egal. Zwar hat es mir leidgetan, dass ich sie angerempelt habe, doch ich lasse mich von niemandem beschimpfen. Es reicht, wenn ich den ganzen anderen Zirkus hier über mich ergehen lassen muss, da brauche ich nicht noch das Gezicke von diesen Möchtegern-Diven.«

»Du hast ja recht, ich finde dieses ganze Gehabe auch reichlich albern. Aber trotzdem möchte ich mir nicht unbedingt Feinde machen, schließlich müssen wir alle für eine Weile miteinander auskommen«, gab Mandy zu bedenken.

»Mach dir keine Gedanken, die beruhigen sich schon wieder«, lächelte Jill, »Hauptsache wir zwei verstehen uns.«

7

Nachdem sie in Ruhe ihre Sachen ausgepackt und die Koffer unter dem Bett verstaut hatten, gingen sie hinaus auf den Balkon und setzten sich in die beiden Liegestühle. Kopfschüttelnd beobachteten sie, wie die übrigen Mädchen quietschend und schreiend im Pool herumtobten, als hätten sie noch nie in ihrem Leben ein Schwimmbecken gesehen. Harriet und Mick lagen ein Stück vom Pool entfernt in zwei Liegestühlen und unterhielten sich. Sofort war Jill klar, warum die Mädchen schon wieder so aufgeregt waren, sie versuchten natürlich, sich vor den beiden Jurymitgliedern ins rechte Licht zu setzen.

»Oh mein Gott, was für ein Affenzirkus«, murmelte Jill konsterniert, und Mandy lächelte.

»Wir werden aber irgendwann auch nach unten gehen müssen, es sei denn, du willst verhungern.«

»Pff, nee lass mal, ich warte, bis die nachher alle im Bett sind, dann gehe ich runter und schmiere mir ein Brot. Das Theater tue ich mir freiwillig nicht an. – Apropos, was hältst du davon, wenn wir morgen zusammen ein paar Sachen einkaufen?«

Mandy nickte. »Ja klar, einverstanden.«

Schweigend genossen sie die Sonne, hingen ihren Gedanken nach, lediglich die Geräuschkulisse vom Pool trübte das Urlaubsfeeling ein wenig.

Als es anfing zu dämmern, duschten sie nacheinander, machten es sich dann auf ihren Betten gemütlich und sahen fern. Irgendwann kehrte im Haus Ruhe ein, und Jill sah auf die Uhr. »Fast halb zehn, ich glaube wir können uns nach unten wagen.«

Leise verließen sie ihr Zimmer, gingen die Treppe hinunter und begaben sich auf die Suche nach der Küche. Gleich hinter der zweiten Tür wurden sie fündig. Zielstrebig ging Jill auf den Kühlschrank zu. Glücklicherweise war wenigstens für einen Anfangsvorrat gesorgt worden, und sie nahm rasch ein paar Sachen heraus. Sekunden später hatten sie sich Sandwiches belegt und saßen genüsslich kauend an der Theke.

»Ihr wisst aber schon, dass so ein spätes Essen erhebliche Kalorien ansetzt«, tönte plötzlich eine affektierte Stimme von der Tür.

Jill drehte sich um und erkannte Ewan Miller, den Stylisten, der sich jetzt tänzelnd durch die Küche bewegte.

»Och, ich gehe nachher noch ein bisschen schwimmen, da ist das schnell abtrainiert«, winkte sie ab und biss unbekümmert in ihr Sandwich.

Ewan nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. »Trotzdem Chérie, du solltest aufpassen, wenn die Pfunde erst mal drauf sind, gehen sie nur schwer wieder runter«, sagte er geziert. »Gute Nacht, meine Süßen«, flötete er zum Abschied und verschwand.

Mandy kicherte. »Chérie, du solltest auf deine Figur aufpassen«, ahmte sie ihn nach, und sie fingen beide an zu lachen.

In Ruhe aßen sie auf, spülten anschließend ihre Teller ab und gingen nach oben.

Jill kramte in der Kommode herum und Mandy schaute sie fragend an. »Was machst du denn jetzt?«

»Ich suche meinen Badeanzug, ich gehe wirklich noch eine Runde schwimmen«, erklärte Jill. »Kommst du mit?«

Mandy machte große Augen. »Um die Uhrzeit? Nein, ich mache es mir lieber im Bett gemütlich und lese ein bisschen.«

»Okay«, nickte Jill und ging ins Bad, um sich umzuziehen.

Wenig später stieg sie die Treppe hinab und lief durch den Wohnraum hindurch in den Garten.

Der Bereich um den Pool war beleuchtet, und das Wasser schimmerte einladend. Sie legte ihr Handtuch auf einem Liegestuhl ab und hüpfte mit einem eleganten Kopfsprung ins Becken. Zügig schwamm sie ihre Bahnen, kletterte dann hinaus und trocknete sich ab. Kurz darauf war sie wieder im Haus, ohne den Mann zu bemerken, der sie aus dem Schutz der Dunkelheit heraus beobachtete.

***

Am nächsten Morgen machten Jill und Mandy sich bei strahlendem Sonnenschein gemeinsam auf den Weg in Richtung Oceanview. Nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch hatten sie den Ort erreicht, und entdeckten recht schnell ein kleines Bistro, wo sie sich hinsetzten und gemütlich frühstückten.

»Was sollen wir heute den ganzen Tag machen?«, fragte Mandy kauend. »Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust, mit den anderen in der Villa herumzuhängen.«

»Ich auch nicht. – Lass uns ein bisschen die Umgebung erkunden, wenn mich nicht alles täuscht, soll es hier einen tollen Strand geben«, schlug Jill vor.

Nach dem Frühstück bummelten sie entspannt durch den Ort, schauten sich die Schaufenster der Geschäfte an, und schlenderten anschließend zum Strand hinunter. Ein Stück abseits fanden sie eine kleine, ruhige Bucht, dort ließen sie sich im warmen Sand nieder und genossen die Sonne und das sanfte Plätschern der Wellen.

Sie unterhielten sich ein wenig, und während Jill sich etwas bedeckt hielt, erzählte Mandy vertrauensvoll von ihrem Freund Oliver und ihrem Medizinstudium.

Am späten Nachmittag machten sie sich auf den Rückweg, um ihre Einkäufe zu erledigen, bevor die Läden schließen würden. In einem kleinen Lebensmittelgeschäft versorgten sie sich mit einem ausreichenden Vorrat an Essbarem, und kurz darauf standen sie mit ihren Tüten wieder vor der Tür.

»Puh, sollen wir das jetzt den ganzen Weg zurückschleppen?«, seufzte Mandy.

Jill zuckte mit den Schultern. »Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, es sei denn, du willst Geld für ein Taxi ausgeben.«

Mandy schüttelte den Kopf, und so trotteten sie gemächlich die Straße entlang. Als sie ungefähr die Hälfte des Wegs zurückgelegt hatten, hielt ein roter Sportwagen neben ihnen an, Mick Fairgate saß am Steuer.

»Soll ich euch mitnehmen?«, bot er an, und sie nickten erleichtert.

Kurz darauf saßen sie im Auto, Jill hatte sich auf den Rücksitz gequetscht, Mandy saß vorne, und es dauerte nur wenige Minuten, bis sie vor der Villa ankamen.

»Danke«, lächelte Mandy und griff nach den Taschen.

»Keine Ursache, jungen Damen in Not helfe ich doch immer gerne«, gab Mick charmant zurück, und Jill bemerkte, wie er in den Ausschnitt von Mandys Top starrte.

Stirnrunzelnd nahm sie ebenfalls ihre Tüten in die Hand, warf ihm ein knappes »Danke« hin und folgte Mandy ins Haus.

Wenig später standen sie in der Küche, beschrifteten ihre Sachen mit Namen und verstauten sie in den Schränken. Sie belegten sich noch schnell ein paar Sandwiches, und gerade, als sie hinaufgehen wollten, kamen die Brünette und die Rothaarige vom Vortag herein.

Ohne sie eines Blickes zu würdigen, gingen sie an den Kühlschrank und kramten darin herum.

»Ich glaube, ich trinke nur etwas«, erklärte die Braunhaarige und griff nach einem Saft.

»Aber Chloe, der gehört doch gar nicht dir«, gab die Rothaarige zaghaft zu bedenken.

Chloe grinste. »Ist mir egal.«

Jill drehte sich um. »Wenn das nicht dein Saft ist, stell ihn wieder rein!«

»Und falls ich das nicht tue?« Herausfordernd schaute Chloe Jill an. »Was dann?«

»Willst du das wirklich wissen?«, sagte Jill ruhig und trat einen Schritt auf das Mädchen zu.

Ihre Stimme war leise, doch der Unterton darin ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht die Absicht hatte, nachzugeben.

Zuerst schien es so, als wolle Chloe aufbegehren, dann wandte sie sich jedoch abrupt um, riss den Kühlschrank auf und schmiss die Packung mit dem Saft hinein.

»Zufrieden?«, fauchte sie Jill an, krallte die Rothaarige am Arm und zog sie zur Tür. »Komm Ruby, wir gehen.«

Sie warf Jill noch einen bitterbösen Blick zu, Sekunden später krachte die Tür hinter ihnen ins Schloss.

Kopfschüttelnd schaute Jill den beiden nach und Mandy machte große Augen.

»Oh Mann, wärst du wirklich auf sie losgegangen, wenn sie nicht auf dich gehört hätte?«

»Mach dir keine Gedanken, mir war klar, dass sie es nicht darauf anlegen würde. Ich kenne die Sorte, notorische Quertreiber und Maulhelden, wenn es eng wird, ziehen sie den Schwanz ein«, grinste Jill. »Und abgesehen davon hätte ihr eine kleine Ohrfeige bestimmt nicht geschadet.«

Mandy kicherte, und zusammen gingen sie hinauf in ihr Zimmer.

Dort ließen sie sich ihre Sandwiches schmecken, und lungerten auf den Betten herum. Gegen zweiundzwanzig Uhr schlüpfte Jill wie am Abend zuvor in ihren Badeanzug.

»Gehst du wieder schwimmen?«, fragte Mandy lächelnd.

Jill nickte. »Ja, ich brauche mein tägliches Training, auch wenn mich das hier vermutlich keinen Meter weiter bringt.«

8

Kurz darauf sprang Jill in den Pool und drehte ihre Runden. Sie hatte bereits einige Bahnen hinter sich, als plötzlich dicht neben ihr das Wasser aufspritzte. Überrascht hielt sie inne, versuchte, durch die schimmernde Oberfläche hindurch zu erkennen, wer da ins Becken gesprungen war. Ein Kopf tauchte ein paar Meter weiter auf, und zu ihrer Überraschung war es Craig Peters, der sich jetzt lächelnd zu ihr umdrehte.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«

»Naja, eine kleine Vorwarnung wäre nett gewesen«, gab Jill missmutig zurück. Sie wollte in Ruhe ihre Trainingsbahnen absolvieren und hatte keine Lust auf Gesellschaft. Doch sie konnte ihm ja schlecht verwehren, den Pool zu benutzen, also seufzte sie nur leise und paddelte in die entgegengesetzte Richtung weiter.

Zu ihrer Erleichterung hatte er anscheinend auch nicht die Absicht sich zu unterhalten, mit ein paar kräftigen Schwimmzügen holte er sie ein und schwamm schweigend neben ihr her.

Gemeinsam legten sie einige Bahnen zurück, dann legte Jill am Beckenrand eine kurze Pause ein. Craig stoppte gleichfalls und grinste sie an. »Schon müde? Schade, ich hatte auf ein kleines Wettschwimmen gehofft.«

»Also gut«, nickte Jill und stieß sich mit den Beinen kräftig von der Beckenwand ab, begann sofort, los zu kraulen.

Sie hörte, wie er sich hinter ihr ebenfalls in Bewegung setzte, und steigerte ihr Tempo ein wenig.

»Zehn Bahnen«, rief er, als er fast auf ihrer Höhe war, und Jill warf ihm ein schnelles »Okay« zu.

Mit größtmöglicher Geschwindigkeit pflügten sie durchs Wasser, lieferten sich ein spannendes Duell, und schließlich gewann Jill mit einem ganz knappen Vorsprung.

»Das ist unfair, du bist zu früh gestartet«, scherzte er.

»Dafür hast du längere Arme«, schmunzelte Jill und schwamm zur Leiter.

Sie kletterte aus dem Pool und trocknete sich ab, Craig folgte ihr und griff nach seinem Handtuch.

»Das war mal eine nette Abwechslung«, lächelte er. »Wie sieht es aus, bekomme ich morgen Abend eine Revanche?«

Jill zögerte. Zwar hatte ihr das Ganze ebenfalls Spaß gemacht, aber vielleicht wäre es besser, wenn sie in Zukunft wieder allein ihre Runden drehen würde. Doch dann dachte sie an ihren Auftrag, eventuell wäre das eine gute Möglichkeit, ein bisschen mehr über Craig Peters in Erfahrung zu bringen, und so nickte sie. »In Ordnung.«

»Gut, also sehen wir uns morgen Abend«, sagte er zufrieden. »Gute Nacht.«

Sie wünschte ihm auch eine gute Nacht und verschwand rasch im Haus. Wenig später lag sie in ihrem Bett, und es dauerte nicht lange, bis sie eingeschlafen war.

***

Am Mittwochmorgen war Jill bereits früh wach. Leise, um Mandy nicht zu wecken, ging sie hinaus auf den Balkon und setzte sich dort in einen Liegestuhl.

Heute würde es mit dem Training losgehen, und der Gedanke daran verursachte ihr schon wieder Magenschmerzen. Dumpf brütete sie vor sich hin, versuchte, sich vorzustellen was sie erwarten würde, während sie ihren Blick abwesend über den Garten schweifen ließ.

Eine Bewegung unter einem Baum erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte Harriet Grumb und Ewan Miller, die sich heftig gestikulierend unterhielten. Auf die Entfernung war es ihr nicht möglich, etwas zu verstehen, doch es sah so aus, als würden sie sich streiten. Interessiert beobachtete sie die beiden. Nach einer Weile sah sie, wie Harriet mit wütenden Schritten durch den Garten aufs Haus zu stampfte, und Ewan sich am Pool in einen Liegestuhl fallen ließ.

Rasch ging Jill hinein und nahm ihr kleines Notizbuch aus dem Nachttisch, notierte sorgfältig Datum und Uhrzeit, und trug ein paar Stichworte zu diesem Vorfall ein. Es musste keine Bedeutung haben, aber jede Kleinigkeit konnte wichtig sein, und sie wollte sichergehen, dass sie nichts übersah.

Langsam setzte im Haus Betriebsamkeit ein. Jill duschte schnell, und als sie aus dem Bad kam, war Mandy ebenfalls wach.

»Heute geht‘s los«, seufzte Mandy und Jill verzog das Gesicht.

Wenig später standen sie beide in ihren Sportsachen unten in der Küche und schmierten sich zusammen im Pulk mit den anderen Mädchen ein Marmeladenbrot.

Während sie noch aßen, tauchte Harriet auf, gefolgt von Mick und Craig.

»Hopphopp, Beeilung, in zehn Minuten beginnen wir mit dem Training«, blökte Harriet durch die Küche.

Jill warf einen kurzen Blick zu Craig, doch er schaute unbeteiligt an ihr vorbei und nahm sich eine Tasse Kaffee. Achselzuckend wandte sie sich wieder ihrem Brot zu und beobachtete das chaotische Treiben ringsherum.

Kurz darauf befanden sie sich alle im Übungsraum und harrten gespannt der Dinge, die da nun kommen würden. Das Kamerateam war ebenfalls schon anwesend, und Jill fragte sich missmutig, ob die beiden Männer wirklich jede Minute hier in der Villa aufzeichnen würden.

Harriet ließ sie in einer Reihe antreten, schritt an ihnen entlang und musterte jede Einzelne von Kopf bis Fuß. Dann deutete sie vier Mädchen heraus, darunter auch die pummelige Chloe.

»Ihr seid weit davon entfernt, Modelmaße zu haben, oder um es mal präzise zu formulieren: Ihr seid zu dick. Ihr werdet mit Craig in den Geräteraum gehen, und dort bis zum Mittag schwitzen. – Abmarsch!«

Mit hängenden Köpfen trotteten die Mädchen hinter Craig her nach draußen.

»So, und der Rest übt jetzt laufen, und zwar so lange, bis ihr es entweder richtig drauf habt, oder euch die Beine abfallen«, kommandierte sie.

Sie deutete auf eine Kiste in der Ecke, in der sich etliche hochhackige Pumps befanden. »Schuhe an, je höher desto besser, und los geht‘s!«

Eilig stürzten sich die Mädchen auf den Karton und schlüpften in die Highheels. Anschließend verbrachten sie den ganzen Vormittag damit, unter den prüfenden Blicken von Harriet und Mick auf und ab zu laufen. Dabei summte im Hintergrund die ganze Zeit leise die Kamera.

Harriet ließ an keinem Mädchen ein gutes Haar, ständig hatte sie etwas zu kritisieren, nichts war ihr gut genug.

»Ich komm mir vor wie auf dem Exerzierplatz«, flüsterte Jill irgendwann Mandy zu, als sie an der Seite standen und darauf warteten, dass sie wieder an der Reihe waren.

»Jill, gibt es etwas, was du uns allen mitteilen möchtest?«, fragte Harriet ungehalten.

»Nein, nicht wirklich«, murmelte Jill, und musste sich dann prompt eine Schimpftirade anhören, als sie erneut dran war.

»Mein Gott, du siehst aus wie eine Kuh, die übers Gurkenfeld stolpert. Gerade halten, Kopf hoch, Schultern zurück und Brust raus – ich frage mich ernsthaft, warum ich mich darauf eingelassen habe, dich mitzunehmen«, schnauzte Harriet.

Endlich war es Mittag, und erleichtert schleppten die Mädchen sich in die Küche, um etwas zu essen. Kurze Zeit später kamen Craig und die übrigen Models herein, ihren Gesichtern nach zu urteilen war ihr Training auch nicht viel stressfreier verlaufen.

»So, dann die anderen vier zum Laufen, und die Gruppe von heute Morgen lässt sich von Ewan in die Mangel nehmen. Er soll schauen, ob er aus dem Unkraut auf euren Köpfen so etwas wie eine vernünftige Frisur zaubern kann«, befahl Harriet direkt nach dem Essen.

Unter Ächzen und Stöhnen folgten Chloe und ihre drei Mitstreiterinnen Harriet und Mick in den Trainingsraum. Die übrigen Mädchen räumten im Esszimmer den Tisch frei und schauten anschließend zu, wie Ewan seine Utensilien darauf ausbreitete.

Jill stand ein wenig abseits und beobachtete skeptisch, wie Ewan ein Mädchen namens Emily in kürzester Zeit von einer langhaarigen Brünetten in einen kurzhaarigen, blonden Vamp verwandelte.

»Ich lasse mir nicht an meinen Haaren rumschnippeln«, murrte sie vor sich hin.

»Chérie, du bist dran«, sagte Ewan irgendwann und deutete mit seinem perfekt manikürten Finger auf Jill.

»Nein, tut mir leid, aber ich möchte das nicht«, erklärte Jill.

Ungläubig starrte Ewan sie an. »Aber Chérie, jedes Mädchen hier muss das Beste aus ihrem Typ machen«, lamentierte er unglücklich.

Jill zuckte mit den Achseln, bemerkte im gleichen Moment über Ewans Schulter hinweg, wie Craig sie anschaute und kaum merklich den Kopf schüttelte. Verwundert sah sie ihn an, doch da hatte er sich schon umgedreht und sah aus dem Fenster.

Sie straffte sich. »Sorry, meine Haare bleiben, wie sie sind«, wiederholte sie kategorisch, und ignorierte Ewans weinerlichen Redeschwall, der auf ihre Weigerung folgte. Er unternahm jedoch keinen Versuch mehr, sie zu überreden, sondern wandte sich dem nächsten Mädchen zu.

»Das wird bestimmt Ärger geben«, flüsterte Mandy ihr zu, die bereits an der Reihe gewesen war, sich aber bis auf wenige Zentimeter Haarlänge kaum verändert hatte.

»Mir egal«, wisperte Jill zurück, »ich lasse mich doch hier nicht verschandeln. Entweder nehmen die mich, wie ich bin oder sie lassen es bleiben.«

9

Der Nachmittag verging, irgendwann kehrte Harriet mit den übrigen Mädchen ins Esszimmer zurück und begutachtete Ewans Werk. Sie gab den ein oder anderen Kommentar ab, schien aber insgesamt zufrieden. Als ihr Blick auf Jill fiel, runzelte sie die Stirn.

»Sie sieht ja noch genauso aus wie vorher«, sagte sie vorwurfsvoll zu Ewan, der sich sofort jammernd verteidigte.

»Tut mir leid Chérie, doch sie wollte einfach nicht.«

»Wenn du dich weiter so widerspenstig benimmst, wirst du hier nicht lange bleiben«, fuhr Harriet daraufhin Jill an.

»Ich finde ihre Haare so völlig in Ordnung«, mischte sich in diesem Moment Craig ein, bevor Jill dazu kam zu antworten. »Sie sind gepflegt und die Farbe ist schön, warum mit Gewalt etwas verändern, das gut aussieht?«

Verlegen senkte Jill den Kopf, es gefiel ihr gar nicht, so im Mittelpunkt zu stehen.

Harriet warf Craig einen kritischen Blick zu, betrachtete danach noch mal Jills Haare und seufzte.

»Also gut, zumindest ist es lang genug, sodass man damit was anfangen an«, gab sie nach. »Aber bilde dir nicht ein, dass das jedes Mal so läuft, ich dulde keine Extrawürste«, raunzte sie Jill dann giftig an. »Okay, ihr könnt gehen, die andere Gruppe bleibt hier und wird noch umgestylt.«

»Ach Mann, das ist ungerecht, wieso haben die Freizeit und wir müssen weiter machen?«, fragte ein Mädchen namens Sophie quengelnd.

Harriet warf ihr einen bösen Blick zu. »Würdest du fünf Kilo weniger auf die Waage bringen, könntest du dich jetzt auch ausruhen«, sagte sie schnippisch, und Sophie wurde rot. »Also, keine weiteren Kommentare, wir sehen uns morgen früh zum Training.«

Jill und Mandy verließen zusammen mit den anderen Mädchen das Esszimmer und gingen nach oben. Völlig fertig ließen sie sich in ihrem Zimmer auf die Betten fallen.

»Mir tun die Beine weh«, seufzte Mandy und kuschelte sich in ihr Kissen. »Wenn das so weiter geht, bin ich in ein paar Tagen ein Wrack.«

»Ja, es war ziemlich anstrengend«, gähnte Jill müde. »Aber ich glaube, man gewöhnt sich irgendwann daran.«

Sie plauderten noch eine Weile, dann schlief Mandy ein, und kurz darauf fielen auch Jill die Augen zu.

***

»So Mädels, Jogging!«, kündigte Harriet am anderen Morgen erbarmungslos an, nachdem sie ihr Frühstück beendet hatten. Allgemeines Stöhnen und Jammern setzte ein und sie fügte hinzu: »Da brauch ihr gar nicht zu winseln, ihr habt alle überhaupt keine Ausdauer, so kann ich mit euch nichts anfangen. Um es euch ein bisschen zu versüßen, bekommen die drei Mädchen, die zuerst wieder hier eintreffen, den Nachmittag frei, der Rest hat Lauftraining.«

Jill war froh, aufgrund ihres Jobs war ihre Kondition einwandfrei, und sie freute sich schon auf die Strecke. Auf jeden Fall gefiel ihr das besser, als stundenlang auf spitzen Absätzen hin und her zu wackeln.

Der Trupp setzte sich langsam in Bewegung, lief ein Stück weit an der Straße entlang und bog dann auf einen ausgeschilderten Rundwanderweg ein. Jill trabte eine Zeit lang gemächlich neben Mandy her, bis diese ihr einen auffordernden Blick zuwarf.

»Ich bin mir sicher, dass du schneller bist als ich, also hau rein – du musst auf mich keine Rücksicht nehmen.«

»Das macht mir nichts aus«, erklärte Jill, obwohl ihr die Aussicht auf einen freien Nachmittag sehr verlockend erschien.

Mandy grinste. »Na komm schon, gib Gas – ich weiß doch, dass du keine Lust aufs Lauftraining hast.«

Jill warf ihr einen zögernden Blick zu, aber als Mandy ihr noch einmal lächelnd zunickte, begann sie ihr Tempo zu steigern. In kürzester Zeit hatte sie sich an die Spitze der Gruppe gesetzt, und wenig später hatte sie alle weit hinter sich gelassen.

Zufrieden pendelte sie sich auf eine mittlere Geschwindigkeit ein und genoss die ruhige Umgebung. Der Weg war nicht zu verfehlen, er führte in einem weiten Bogen durch den Wald und dann wieder in Richtung Villa zurück. Nach ungefähr der Hälfte der Strecke legte Jill eine kurze Pause ein, setzte sich auf eine Bank am Wegrand und atmete tief ein und aus.

Sie saß noch nicht lange, als sie Schritte hörte, und kurz darauf bog Craig um die Ecke.

Im gleichen Moment fiel ihr ein, dass sie am Abend zuvor völlig vergessen hatte, dass sie eigentlich mit ihm zum Schwimmen verabredet gewesen war.

»Wenn das nicht die kleine Wassernixe ist«, grinste er sie an und ließ sich neben ihr auf die Bank fallen. »Wolltest du mir gestern meine Revanche nicht gönnen?«

»Sorry, ich bin eingeschlafen«, erklärte Jill verlegen.

»Jaja, mich einfach so versetzen und sich dann rausreden«, zog er sie auf.

Bevor Jill etwas antworten konnte, war er auch schon wieder aufgestanden. »Laufen wir zusammen weiter?«, fragte er und machte eine auffordernde Bewegung mit dem Kopf.

»Okay«, stimmte Jill zu und erhob sich.

Entspannt und schweigend liefen sie nebeneinander her, folgten dem Weg und erreichten nach einer knappen Stunde die Villa.

»Ich gehe duschen – du wirst wohl auf die anderen warten müssen«, sagte Craig, als sie die Eingangshalle betraten. »Danke für deine Gesellschaft.«

Jill nickte und ging auf die Tür zum Wohnraum zu.

»Sehen wir uns heute Abend?«, hörte sie ihn im gleichen Augenblick hinter sich fragen, und überrascht drehte sie sich um. »Zum Schwimmen«, fügte er hinzu, als er ihren erstaunten Blick bemerkte.

»Vielleicht«, murmelte Jill ausweichend und betrat dann schnell das Wohnzimmer.

Erschöpft ließ sie sich auf eine Couch fallen und schloss die Augen. Sie döste eine Weile vor sich hin, und kam zu sich, als nach und nach der Rest der Gruppe eintrudelte.

Sofort schrillte Harriets Stimme wieder durch den Raum. »Jessica, Jill, Grace – ihr habt den Nachmittag frei. Die anderen haben eine halbe Stunde Pause, danach sehen wir uns im Trainingsraum.«

Zufrieden zog Jill sich in ihr Zimmer zurück, flüsterte Mandy vorher noch einen aufmunternden Kommentar zu. Sie duschte ausgiebig, legte sich dann auf ihr Bett und vertiefte sich in eines der Bücher, die sie von zu Hause mitgebracht hatte.

Gegen Abend ging sie nach unten, um sich ein Brot zu schmieren. Das Lauftraining war bereits beendet, und in der Küche war die Hölle los. Irgendwie schaffte Jill es, sich zum Kühlschrank durchzukämpfen, und wenig später verzog sie sich mit ihrem Teller ins Esszimmer und ließ sich neben Mandy auf einen Stuhl fallen.

»Wie mir dieser Trubel hier auf die Nerven geht«, seufzte sie. »Wie kann es nur sein, dass acht Mädchen so einen Krach machen?«

»Und dann noch die ganze Zeit Harriets sirenenartige Stimme dazwischen«, stimmte Mandy zu.

»Wie war das Lauftraining?«, wollte Jill wissen.

Mandy zuckte mit den Schultern. »Nicht viel anders als gestern, Harriet war nur am nörgeln, und ich bin ziemlich fertig.«

Im gleichen Moment brach in der Küche hysterisches Gequieke aus. Kopfschüttelnd drehten sie sich um, und sahen einen gut aussehenden, blonden Mann in der Tür stehen. Als er die Schar aufgeregt gackernder Mädels sah, zog er sich fluchtartig zurück, und Jill grinste.

»Der arme Kerl, noch ein paar Sekunden länger, und sie hätten ihm die Kleider vom Leib gerissen.«

»Ich glaube, das war Joel Benson, der Fotograf.«

Aufgrund ihrer Recherchen hatte Jill ihn auch sofort erkannt und nickte. »Ja, das war er, und irgendwie tut er mir gerade ziemlich leid.«

Sie versuchten, die Geräuschkulisse aus der Küche zu ignorieren und halbwegs friedlich ihr Abendbrot zu genießen, doch dann schob Jill den Teller weg.

»Mir reicht es, ich geh rauf.«

Mandy schloss sich an, und wie die beiden Abende zuvor machten sie es sich auf ihren Betten bequem und sahen sich etwas im Fernsehen an.

Langsam kehrte im Haus Stille ein, und Jill schaute auf die Uhr. Es war schon nach zehn, und sie überlegte, ob sie wirklich an den Pool gehen sollte.

Einerseits dachte sie an ihren Auftrag, und dass es sicherlich besser wäre, vorsichtig zu sein. Andererseits erschien Craig ihr harmlos, und sie freute sich auch ein wenig darauf, in Ruhe mit ihm zu schwimmen. Entschlossen stand sie auf, ging ins Bad und schlüpfte in ihren Badeanzug.

10

Als sie unten ankam, war Craig bereits im Pool, und als er sie sah, paddelte er in ihre Richtung und schaute ihr vom Beckenrand aus entgegen.

»Komm rein, das Wasser ist herrlich«, lächelte er, und Jill ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem eleganten Kopfsprung glitt sie ins Becken und schwamm dann genüsslich ein paar Runden, während Craig ihr zuschaute.

»Bekomme ich jetzt meine Revanche?«, fragte er neckend, als sie nach einer Weile neben ihm stoppte.

»Einverstanden – wieder zehn Bahnen?«

Er nickte. »Drei – zwei – eins – los!«, zählte er und sie setzten sich fast gleichzeitig in Bewegung.

Jill war eine ausgezeichnete Schwimmerin, und obwohl Craig ihr kaum nachstand, schaffte sie es erneut, mit einem knappen Vorsprung zu gewinnen.

»Ich sehe schon, gegen deine hübschen Beine habe ich keine Chance«, lachte er, und spritzte ihr spielerisch ein wenig Wasser ins Gesicht.

»Hey«, murrte Jill lachend und zahlte es ihm sofort zurück.

Kurz darauf tobten sie vergnügt im Pool herum, tauchten sich gegenseitig unter und balgten sich ausgelassen.

»Schluss jetzt, ich gebe auf«, erklärte Jill irgendwann atemlos, und schwamm auf die Leiter zu.

Sie nahm ihr Handtuch und trocknete sich ab, Craig sah ihr vom Beckenrand aus zu.

»Gute Nacht!«, rief sie ihm leise zu.

Er lächelte. »Bis morgen.«

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