Cowboyküsse unterm Weihnchtsbaum

Ebook & Taschenbuch

Inhalt

Ein kleines Mädchen. Zwei einsame Herzen. Und ein Weihnachtsfest, das alles verändert.

Seit dem Tod ihrer Schwester kümmert Megan Winslow sich um ihre Nichte Emily – die Sechsjährige ist ihr Ein und Alles.
Doch kurz vor Weihnachten steht plötzlich Clint Cantrell vor der Tür, Emilys Onkel. Ihr Vater ist verstorben und Clint will das Mädchen zu sich auf seine Ranch holen.
Um einen Rechtsstreit zu vermeiden, lässt Megan sich widerstrebend auf einen Deal ein: Sie verbringen die Vorweihnachtszeit gemeinsam – danach soll Emily selbst entscheiden, wo sie bleiben möchte.
Eigentlich rechnet Megan damit, Clint schnell wieder loszuwerden. Dumm nur, dass der Cowboy ganz anders ist, als sie erwartet hat: kinderlieb, fürsorglich, humorvoll – und verdammt sexy obendrein.
Und während draußen der Schnee fällt, schmelzen drinnen langsam die Herzen …

Themen: Liebesroman, Single Mom, Enemies to Lovers, Christmas Romance, Small Town Romance, Cowboy Romance, Found Family, Protective Hero, Forced Proximity

Leseprobe

Prolog

Dicke Regentropfen prasselten auf das Dach des bronzefarbenen GMC Canyon. Das Wasser strömte die Scheiben hinunter und nahm den beiden Insassen die Sicht auf das Apartmenthaus, vor dem der Wagen geparkt war.

»Bringen wir es hinter uns«, sagte Clint Cantrell schließlich.

Sein jüngerer Bruder Blake nickte schweigend.

Sie stiegen aus, nahmen jeder ein großes Paket von der Ladefläche und strebten dann mit langen Schritten zur Außentreppe, die sie bis zur zweiten Etage erklommen.

Nachdem Blake die Tür zu Apartment 3B aufgeschlossen hatte, tastete er nach dem Lichtschalter, und Sekunden später flammte die Deckenlampe auf.

»Ich war noch nie hier«, murmelte Clint, während er sich umschaute.

Ein weicher Teppichboden zog sich durch den großen Wohnraum. Neben der Eingangstür befand sich ein Kamin, darüber hing ein flacher Bildschirm. Ein breites Ledersofa mit passendem Couchtisch bildete den Mittelpunkt. Durch eine Glastür gelangte man auf den Balkon mit Blick auf die Wohnanlage und den zentral gelegenen Pool. Die Küche war halboffen gestaltet und durch eine Theke abgegrenzt; im angrenzenden Erker befand sich ein kleiner Esstisch mit vier Stühlen. Ein schmaler Korridor verband den Wohnbereich mit den übrigen Räumen.

Einen Moment lang verharrten die beiden Männer schweigend, dann stieß Clint einen leisen Seufzer aus. »Lass uns anfangen.«

Sie öffneten eines der Pakete, nahmen einige der Umzugskisten heraus, falteten sie zusammen und begannen, die Schränke auszuräumen und den Inhalt in den Kartons zu verstauen. Nach und nach arbeiteten sie sich durch den Wohnraum und die Küche, dann betraten sie das Schlafzimmer.

Clint sah, wie Blake versonnen das Kingsize-Bett mit Fuß- und Kopfteil aus stabilen, gedrechselten Holzstäben betrachtete.

»Du machst ein Gesicht, wie die Katze, die von der Sahne genascht hat. Was ist los?«

Blake lächelte verschmitzt. »Hier haben Cathy und ich das erste Mal …«

»Stopp«, unterbrach Clint ihn und hob die Hände, »zu viel Info. Ich will das gar nicht wissen.«

 »Ist doch nix dabei. Du weißt sicher noch, wie spinnefeind Dad und Cathys Mutter sich waren, oder? Also mussten wir uns heimlich treffen, und da Garth sowieso immer unterwegs war und ich den Zweitschlüssel hatte, wurde das hier unser Liebesnest.«

Kopfschüttelnd schaltete Clint das Licht in dem begehbaren Kleiderschrank ein. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal tun müsste«, sagte er mit belegter Stimme.

Blake räusperte sich. »Ich auch nicht. Aber wer hätte es denn sonst machen sollen? Dad, der sowieso nur noch Magentabletten einwirft? Oder Tammy, die sich die Augen aus dem Kopf heult?«

Statt einer Antwort nahm Clint schweren Herzens einen Stapel T-Shirts und stopfte sie in eine Umzugskiste. Schweigend ging Blake ihm zur Hand, und wenig später hatten sie sämtliche Habseligkeiten ihres jüngeren Bruders verpackt.

»Was ist mit den Möbeln?«, fragte Clint, als sie fertig waren.

»Gehört alles zum Apartment – bis auf die kleine Kommode da, die stammt noch von Mom.«

»Dann nehmen wir sie mit.«

Sie traten an das Schränkchen aus poliertem Nussbaumholz, rückten es von der Wand weg und wollten es gerade anheben, als Clints Blick auf einige Briefumschläge fiel, die auf dem Boden lagen.

»Warte mal.« Er bückte sich nach den Kuverts, hob sie auf und betrachtete sie. »Alle ungeöffnet, und laut dem Poststempel über sieben Jahre alt. Offenbar sind sie hinter die Kommode gefallen, ohne dass Garth es bemerkt hat.«

»Etwas Wichtiges?«

Clint zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Denkst du, wir sollten nachsehen?« Als Blake zustimmend nickte, begann er, die Umschläge zu öffnen. »Werbung. Werbung. Eine Rechnung. Werbung. Und …«, er runzelte die Stirn, »ein persönlicher Brief.«

»Worum geht es?«

»Keine Ahnung, es steht kein Absender darauf.«

Rasch öffnete Clint das Kuvert und überflog den Inhalt. Es waren nur wenige Zeilen, doch sie ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren. »Heilige Scheiße«, stieß er schockiert hervor.

»Was ist?« Blake trat näher und griff nach dem Schreiben. Sekunden später wurde er ebenso blass wie sein Bruder. »Das kann doch nicht sein … Ich fasse es nicht …«

Eine Weile starrten sie beide sprachlos auf den Brief, der in zierlicher Handschrift auf schlichtem weißen Papier abgefasst war.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Blake schließlich.

Clint schob das Blatt in den Umschlag zurück, faltete ihn einmal und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Ich werde mich darum kümmern. Aber kein Wort zu Dad, bevor wir nicht genau wissen, was da los ist.«

Kapitel 1

 Ungeduldig rieb Clint die kalten Hände aneinander, um sie ein wenig aufzuwärmen. Es war Anfang Dezember, die Temperaturen bewegten sich um den Gefrierpunkt, und er saß bereits seit drei Stunden in seinem Wagen und beobachtete das kleine Haus mit der maroden Holzverkleidung.

Selbst ein Blinder hätte bemerkt, wie heruntergekommen es war, ebenso wie die übrigen Gebäude in der Umgebung. Riverbend war nicht gerade das vornehmste Viertel von Idaho Falls, darüber konnten auch die bunt glitzernden Weihnachtsdekorationen an den größtenteils flachen, eingeschossigen Wohnhäusern nicht hinwegtäuschen.

Der leichte Schneeregen, der schon den ganzen Tag den Himmel trübte, ließ alles noch trister wirken. Rechts und links der schmalen, grob asphaltierten Straße reihten sich schmutzig-braune Schneehaufen aneinander, deren Schmelzwasser den unbefestigten Fußweg völlig aufgeweicht hatte. Es dämmerte bereits, die Straßenlampen flackerten auf und beleuchteten eine Gruppe Halbwüchsiger, die johlend und eine leere Coladose vor sich her kickend an ihm vorüberzogen. Direkt vor ihm lud ein Mann einen Weihnachtsbaum aus einem rostigen Pick-up, ein paar Meter weiter streunte eine herrenlose Katze um eine Mülltonne herum. Nach und nach gingen überall die Lichter an, nur das Haus, das ihn so brennend interessierte, blieb dunkel.

Es war eine Schnapsidee gewesen, hierherzukommen, dachte er missmutig, während er erneut die Handflächen aneinander rieb. Er hätte es seinem Anwalt überlassen sollen, die Sache zu regeln, anstatt hier in der Kälte zu sitzen und seine Zeit zu vertrödeln.

Ein Wagen rollte die Straße entlang, ein hellblauer, uralter Honda Civic. Das Auto verlangsamte die Fahrt und bog in die Einfahrt ein, die zu Clints Zielobjekt gehörte.

Angespannt krampfte er seine klammen Finger um das Lenkrad und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Person, die aus dem Fahrzeug ausstieg. Trotz der spärlichen Beleuchtung konnte er erkennen, dass es sich um eine Frau handelte, die zielstrebig auf das Nachbarhaus zuging und darin verschwand.

Kurz darauf kam sie wieder heraus, und Clints Puls beschleunigte sich, als er das kleine Mädchen an ihrer Hand sah, das fröhlich auf und ab hopste.

Die beiden leerten den Briefkasten, nahmen ein paar Einkaufstüten aus dem Kofferraum des Honda und strebten auf den Eingang ihres Hauses zu. Sekunden später flammte eine Lampe auf, die Frau hantierte mit dem Schlüssel, schob das Kind ins Innere, dann schloss sich die Tür.

Sein erster Impuls war, aus dem Wagen zu springen und ihnen zu folgen. Doch er mahnte sich zur Ruhe und beschloss, noch eine Weile zu warten. Zum einen würde sein Besuch sicher nicht auf große Begeisterung stoßen, zum anderen hatte er sich bisher überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, was er eigentlich sagen sollte. Wie brachte man einer fremden Frau bei, dass der Mann, mit dem sie einst ihr Glück gesucht hatte, nicht mehr lebte – und dass das kleine Mädchen an ihrer Seite vielleicht die letzte Verbindung zu ihm war?

***

Müde stellte Megan Winslow ihre Einkäufe auf der Küchentheke ab, die den Kochbereich vom Wohnraum trennte. Den ganzen Tag hatte sie schon ein ungutes Gefühl im Bauch, das sich jetzt verstärkte, ohne dass sie sich erklären konnte, warum.

Vielleicht müsste ich nur mal richtig ausschlafen, ging es ihr durch den Kopf, während sie Jacke und Schuhe auszog. Kaum hatte sie die Theke umrundet, zuckte sie zusammen.

»Verdammt«, stieß sie hervor, als sie bemerkte, dass sie inmitten einer riesigen Wasserlache stand, die sich über den gesamten Linoleumboden der Küche erstreckte. Dass sich die Überschwemmung nicht auf das Wohnzimmer ausgeweitet hatte, war nur der kleinen, flachen Stufe von wenigen Zentimetern zu verdanken, welche den niedriger gelegenen Küchenbereich vom Rest des Raums abtrennte.

»Man darf nicht fluchen, Mom«, erinnerte Emily sie mit kindlichem Ernst und reckte neugierig den Hals. »Was ist passiert?«

Megan seufzte. »Ich glaube, die Waschmaschine ist kaputt.«

Rasch zog sie ihre Socken und ihren dicken Sweater aus, krempelte die Hosenbeine hoch und watete auf das Gerät zu, an dem eine Kontrollleuchte rot blinkte. Probeweise öffnete sie die runde Tür an der Vorderseite, was zur Folge hatte, dass sich ein kalter Wasserschwall auf ihre Beine ergoss.

Einen Moment lang stand sie reglos da und betrachtete verzweifelt das Desaster. Das hatte ihr gerade gefehlt. Ausgerechnet jetzt. Sie hatte mit Müh und Not ein paar Dollar für Weihnachtsgeschenke beiseitelegen können, und Emily hatte in wenigen Tagen auch noch Geburtstag. Eine Reparatur konnte sie sich eigentlich nicht leisten, von einer neuen Maschine ganz zu schweigen.

Während sie krampfhaft versuchte, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, hatte Emily ebenfalls Stiefel und Socken ausgezogen und begann, mit Feuereifer in der trüben Brühe zu planschen.

Megans erster Impuls war, mit ihr zu schimpfen, doch die Kleine war dabei so fröhlich, dass sie es nicht übers Herz brachte. Stattdessen spritzte sie eine Handvoll Wasser in Emilys Richtung, diese quietschte vergnügt, und Sekunden später lieferten sie sich eine ausgelassene Wasserschlacht.

Nach einer Weile waren sie beide nass bis auf die Haut, und lachend hob Megan die Hände.

»Okay, das reicht, ich ergebe mich.«

Sie holte einen Eimer und ein Wischtuch unter dem Spülbecken hervor, kniete sich auf den Boden und begann aufzuwischen.

Im selben Augenblick klopfte es, und bevor sie reagieren konnte, war Emily bereits zur Tür geflitzt und riss sie auf.

»Mom, da ist ein Mann«, rief sie lautstark.

Megan rappelte sich auf. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht einfach aufmachen sollst?«, sagte sie tadelnd, während sie vergeblich versuchte, sich die Hände an ihrer nassen Jeans abzutrocknen.

Sie durchquerte den Wohnraum und hielt inne, als sie den Mann sah, der abwartend in der Tür stehengeblieben war. Mit seinem teuer aussehenden Maßanzug, der seine große, schlanke Gestalt bestens zur Geltung brachte, wirkte er wie ein Covermodel von Men’s Health und völlig deplatziert in der schäbigen Umgebung. Noch auffälliger als seine Kleidung waren jedoch sein markantes Gesicht sowie seine grauen Augen, die sie kühl und durchdringend musterten.

Ein Frösteln durchlief sie, von dem sie nicht sagen konnte, ob es durch den kalten Luftstrom kam, der von draußen hereinzog, oder von dem intensiven Blick des Fremden.

Hastig verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ja?«

»Sind Sie Miss Winslow?«, wollte er wissen, und seine tiefe Stimme ließ sie erneut erschauern.

»Ja. Was …?«

»Mein Name ist Clint Cantrell.«

Es dauerte einen Moment, bis Megan die Bedeutung seines Satzes erfasste, dann wurde sie blass. Offenbar war die defekte Waschmaschine ihr geringstes Problem.

***

Wie angewurzelt stand Megan da und starrte Clint an, bis sie schließlich ihre Sprache wiederfand.

»Was …« Ihre Stimme klang brüchig, und sie räusperte sich. »Was wollen Sie?«

»Kann ich einen Augenblick hereinkommen? Wir müssen uns unterhalten, und ich denke, das sollten wir nicht zwischen Tür und Angel tun.«

Der Wunsch, abzulehnen, war beinahe übermächtig, doch dann sah sie kurz zu Emily, die Clint aus großen, grauen Augen neugierig anschaute, und nickte.

»Meinetwegen.« Sie trat beiseite, damit er vorbeigehen konnte, schloss die Tür hinter ihm und schob Emily mit sanftem Druck zur Treppe. »Geh nach oben, zieh dir etwas Trockenes an und mach deine Hausaufgaben. Ich rufe dich, sobald das Essen fertig ist.«

»Ich habe meine Aufgaben aber schon bei Tante Susan gemacht.«

»Dann schau dir ein Buch an«, erwiderte Megan und gab ihr einen liebevollen Klaps auf den Po. »Ab mit dir.«

Die Kleine zog eine Schnute, trabte jedoch folgsam die Treppe hinauf.

Megan sah ihr nach, bis sie verschwunden war, um sicher zu sein, dass sie von dem nun folgenden Gespräch nichts mitbekommen würde. Als sie sich schließlich Clint zuwandte, bemerkte sie, dass er seinen Blick durch den Raum schweifen ließ, und ihr wurde bewusst, was er denken musste.

Abgesehen davon, dass ihre Einrichtung alt und schäbig war, sah es ausgerechnet heute fürchterlich unordentlich aus. Auf dem Sofa mit dem fadenscheinigen Cordbezug stand ein Korb mit Bügelwäsche, das Bügelbrett lehnte daneben an der Wand. Das Memoryspiel, das sie gestern Abend mit Emily gespielt hatte, lag noch auf dem Couchtisch, ebenso wie ein Stapel Unterlagen und Bücher. Auf dem ausgeblichenen Webteppich vor dem Kamin hatte sie den Karton mit dem Weihnachtsschmuck abgestellt, den sie am frühen Morgen aus der Garage geholt hatte. In der Küche türmte sich das Geschirr vom gestrigen Abendessen und dem heutigen Frühstück, und zu allem Überfluss war der abgewetzte Linoleumboden immer noch mit der trüben Seifenbrühe bedeckt.

Entgegen ihrer sonstigen selbstbewussten Art verspürte Megan auf einmal das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen.

»Ich … es gab ein Problem mit der Waschmaschine«, erklärte sie unbehaglich.

»Das ist nicht zu übersehen«, erwiderte Clint, und sie bemerkte, dass sein Blick kurz über ihr Shirt glitt, das wie eine zweite Haut an ihr klebte.

Plötzlich fühlte sie sich nackt und schutzlos. Gleichzeitig spürte sie, wie die Kälte der nassen Sachen über ihren ganzen Körper kroch.

»Vielleicht sollten Sie sich ebenfalls umziehen«, schlug er vor.

Obwohl es ihr widerstrebte, ihn aus den Augen zu lassen, überwog der Wunsch, sich in etwas einzuhüllen, das ihr Wärme und Geborgenheit bot. Außerdem hätte sie so Gelegenheit, sich zu sammeln und ihre flatternden Nerven ein wenig zu beruhigen, also nickte sie zögernd.

»Ich bin gleich wieder da.«

»Kein Grund zur Eile, ich laufe bestimmt nicht weg.«

»Ja«, murmelte Megan trocken, während sie fluchtartig die Treppe hinaufstürmte, »damit habe ich auch nicht gerechnet.«

In ihrem Schlafzimmer ließ sie sich ungeachtet ihrer nassen Kleidung auf das Bett sinken.

Clint Cantrell. Der älteste Bruder von Garth Cantrell. Der Bruder des Mannes, der vor fast acht Jahren ihre Schwester Janet im Stich gelassen hatte.

Bei der Erinnerung an die damaligen Ereignisse stiegen Megan Tränen in die Augen. Es war eine schreckliche Zeit gewesen. Janets Tod, das winzige Baby im Brutkasten, um dessen Leben sie bangte. Ihre ohnehin bereits kranke Mutter, die kaum über den Verlust der Tochter hinwegkam und kurz darauf ebenfalls starb. Der einzige Halt, den sie damals gehabt hatte, war Emily gewesen, die sie zu sich genommen hatte, als sie endlich stabil genug war, um aus der Klinik entlassen zu werden.

Megan biss sich auf die Lippe. Fast sieben Jahre lebte Emily jetzt bei ihr, sie liebte sie wie ein eigenes Kind, und nun tauchte plötzlich Garths Bruder auf und riss Wunden wieder auf, die längst noch nicht verheilt waren. Ihr war klar, dass er nicht hierhergekommen war, um Small Talk zu halten, und die unbestimmte Angst, die sie erfasst hatte, seit er seinen Namen genannt hatte, fraß sich bohrend durch ihre Eingeweide.

Schließlich stand sie auf, zog die nassen Sachen aus und schlüpfte in eine bequeme Jogginghose sowie ihren Lieblingspullover, ein altes, schlabberiges Ding aus lavendelfarbenem weichem Fleecestoff. Sie holte noch einmal tief Luft und verließ dann das Schlafzimmer, fest entschlossen, sich von Clint Cantrell nicht einschüchtern zu lassen.

Was auch immer der Grund für seinen Besuch sein mochte, sie würde ihm die Stirn bieten, das war sie ihrer Schwester schuldig.

***

Unterdessen nutzte Clint die Zeit, sich etwas genauer in Megans Haus umzusehen.

Er ließ seinen Blick durch den Raum wandern, über die abgenutzten Möbel, die Unordnung im Wohnzimmer und das Chaos in der Küche. Er registrierte jedes Detail, von den verblichenen Tapeten bis zu den zerkratzten Holzstufen der Treppe, vom bröckeligen Putz an der Decke bis zu den windschiefen Küchenmöbeln und dem rostigen Kühlschrank.

Auf dem angeschlagenen Kaminsims entdeckte er eine Reihe von Bildern und trat näher, um sie zu betrachten. Es waren gerahmte Fotos, die fast ausschließlich Emily zeigten. Als er von dem Privatdetektiv, den er mit der Suche nach Janet beauftragt hatte, erfuhr, dass Garth tatsächlich Vater war, hatte er es zunächst nicht glauben wollen. Doch als er das Kind vorhin gesehen hatte, war ihm sofort klargeworden, dass es stimmte. Selbst ohne einen Test gab es keinen Zweifel daran, dass sie eine Cantrell war. Sie besaß die typischen grauen Cantrell-Augen, und als er jetzt die Bilder anschaute, entdeckte er noch mehr Ähnlichkeiten. Emily hatte das dunkle, lockige Haar seines jüngeren Bruders ebenso wie dessen rundliches Kinn, das immer etwas weniger markant gewesen war als sein eigenes.

Den niedlichen Schmollmund musste sie wohl von ihrer Mutter geerbt haben, die er auf einem der Fotos erkannte. Er hatte sie nur einmal kurz gesehen, bei einem Familienessen, zu dem Garth sie damals mitgebracht hatte. Von dem Ermittler wusste er, dass sie bei Emilys Geburt gestorben war und dass ihre Schwester Megan sich an ihrer Stelle um die Kleine kümmerte.

Sein Blick blieb an einem der Bilder hängen. Offenbar war es an Halloween aufgenommen worden. Megan trug ein Kürbiskostüm, hatte ihren Arm liebevoll um Emily gelegt, die als Fee verkleidet war. Beide lachten in die Kamera, und die tiefe Verbundenheit zwischen ihnen war nicht zu übersehen.

Er presste die Lippen zusammen. Eigentlich war er mit der Absicht hierhergekommen, sich mit eigenen Augen von der Existenz dieses Kindes zu überzeugen und festzustellen, ob Garth tatsächlich der Vater war. Da das jetzt zweifelsfrei feststand, musste er nicht lange überlegen, wie es nun weitergehen sollte.

Auf keinen Fall konnte Emily hierbleiben, nicht in dieser Umgebung und in diesen Verhältnissen. Er wollte Megan nicht absprechen, dass sie alles für das Kind tat; es war deutlich zu sehen, wie sehr sie es liebte. Aber es war ebenso wenig zu übersehen, dass sie finanzielle Probleme hatte und ihr nicht viel bieten konnte. Wenn Emily hier aufwuchs, würde sie ein ähnlich ärmliches Leben führen wie Megan, das war vorprogrammiert, und das würde er um keinen Preis zulassen.

Er würde Emily zu sich holen und angemessen für sie sorgen. Sie sollte in einer schönen, friedlichen Umgebung wohnen, eine gute Schulbildung erhalten und alles bekommen, was sie sich wünschte. Das war er seinem toten Bruder schuldig; Garth hätte nicht gewollt, dass sein Kind unter solchen Umständen aufwuchs.

Nachdenklich nahm er das Foto in die Hand und betrachtete es.

Vermutlich würde Megan nicht mit seinem Vorhaben einverstanden sein. Sie hing an Emily und würde sie sicher nicht kampflos hergeben. Zwar konnte sie nicht viel gegen ihn ausrichten, aber ein Kampf war auch nicht in seinem Interesse, allein schon aus Rücksicht auf das Kind. Fast sieben Jahre lang war sie bei ihrer Tante aufgewachsen, und ihm war klar, dass er sie jetzt nicht so einfach aus ihrer gewohnten Umgebung herausreißen konnte, noch dazu, wo sie ihn gar nicht kannte. Sie würde Schaden nehmen, und das war das Letzte, was er wollte.

Er würde etwas vorsichtiger an die ganze Sache herangehen müssen und versuchen, einen Kompromiss mit Megan zu schließen. Bestimmt ließ sich ein Weg finden, damit Emily ihn kennenlernen und sich langsam an ihn gewöhnen konnte. Wenn Megan sich dagegen wehrte, konnte er immer noch zu anderen Mitteln greifen. Vielleicht war sie ja genauso geldgierig wie damals ihre Schwester; dann könnte er sie mit einem großzügigen Scheck überzeugen, dass Emily bei ihm besser aufgehoben war. Und falls das nicht funktionierte, würde er die Sache mithilfe seines Anwalts regeln – kein Familienrichter würde Megan angesichts dieser Zustände hier ein Kind überlassen.

Er stellte das Bild wieder auf den Kamin. So oder so: Emily würde mit ihm nach Elkpoint gehen, dafür würde er sorgen.

Kapitel 2

Als Megan wieder nach unten kam, saß Clint Cantrell auf dem Sofa, entspannt zurückgelehnt, ein Bein lässig über das andere geschlagen – ein Mann, der genau wusste, was er wollte und wie er es bekam. Der Kontrast zwischen seiner eleganten Kleidung und dem schäbigen Cordbezug machte ihr stärker als zuvor klar, mit wem sie es zu tun hatte, und sie wappnete sich innerlich gegen das bevorstehende Gespräch.

Am Fuß der Treppe blieb sie stehen, lehnte sich an das Geländer und verschränkte die Arme vor der Brust. »Bitte machen Sie es kurz, ich muss das Abendessen zubereiten. Hat Ihr Bruder Sie geschickt?«

Clints Miene versteinerte sich. »Garth ist tot. Er starb vor eineinhalb Jahren bei einer Klettertour in den Alpen.«

Für einen Moment war Megan geschockt. »Das tut mir sehr leid«, murmelte sie betroffen. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Dann kommen Sie im Auftrag Ihres Vaters?«

»Nein«, Clint schüttelte den Kopf, »er weiß nicht, dass ich hier bin.«

»Aber …«

»Ich habe durch Zufall von der Schwangerschaft Ihrer Schwester erfahren und einen Privatdetektiv beauftragt, Näheres herauszufinden.«

»Durch Zufall«, wiederholte sie gedehnt. »Nun, dann wissen Sie ja vermutlich, dass Janet ebenfalls tot ist. Was also wollen Sie hier?«

»Mich davon überzeugen, dass das Kind tatsächlich von Garth ist.«

Megan stieß ein verächtliches Zischen aus. »Gut, das haben Sie ja jetzt wohl, also darf ich Sie bitten, zu gehen.«

»Vorher müssen wir über Emily sprechen. Ich möchte sie zu mir holen.«

Obwohl sie schon die ganze Zeit mit etwas Derartigem gerechnet hatte, traf Clints Ankündigung Megan wie ein Fausthieb in die Magengrube. Ihre Knie wurden weich und fingen an zu zittern, doch sie bemühte sich, die Haltung zu bewahren.

Kampfeslustig reckte sie das Kinn nach vorne. »Es tut mir leid, aber da haben Sie sich umsonst herbemüht.«

Er verzog das Gesicht, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. »Seien Sie nicht unvernünftig. Man muss kein Genie sein, um zu bemerken, dass Sie finanziell gerade so über die Runden kommen, und Sie stimmen mir sicher zu, dass Emily etwas Besseres verdient hat, als …«, er machte eine ausholende Handbewegung, »das hier. Ich kann ihr ein sorgenfreies Leben bieten, und …«

»Sparen Sie sich das«, fiel Megan ihm ins Wort. »Wir sind bisher ohne Ihre Hilfe zurechtgekommen und werden es auch in Zukunft.«

Schweigend hob Clint die Augenbrauen und schaute sich demonstrativ in dem kleinen Wohnraum um.

»Von mir aus rümpfen Sie ruhig die Nase, aber Emily hat hier alles, was sie braucht«, fuhr Megan ihn an. »Ich lasse mir von Ihnen nicht mein Kind wegnehmen.«

»Ihr Kind?«, wiederholte er gedehnt.

»Ich habe sie großgezogen.«

»Sie ist die Tochter meines Bruders.«

»Sie ist auch die Tochter meiner Schwester, und ich werde sie nicht hergeben.«

Er seufzte. »Hören Sie, ich weiß, dass die Situation schwierig ist, aber es ist doch in unser aller Interesse, dass wir uns gütlich einigen.«

»Was denken Sie sich eigentlich? Sie kommen hier hereingeschneit, sagen ›Hallo‹, und ich lasse Emily mit Ihnen gehen?« Aufgebracht stemmte Megan die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Haben Sie dabei auch nur eine Sekunde an das Kind gedacht? Wollen Sie Emily einfach aus ihrer gewohnten Umgebung reißen, sie von allem trennen, was sie liebt, und das kurz vor Weihnachten?«

»Nein, das ist nicht meine Absicht. Wie gesagt, ich bin daran interessiert, eine einvernehmliche Regelung zu finden.«

»Und wie soll die aussehen?«

Er zuckte mit den Achseln. »Geben Sie mir die Gelegenheit, ausreichend Zeit mit Emily zu verbringen. Ein paar Wochen, vielleicht bis Weihnachten, damit sie mich kennenlernen kann. Danach soll sie selbst entscheiden, wo sie bleiben möchte.«

»Das ist das Lächerlichste, was ich je gehört habe.« Megan schnaubte. »Was haben Sie vor? Glauben Sie etwa, Sie können Emilys Zuneigung erkaufen, indem Sie sie mit Geld und Geschenken überschütten?«

Abrupt stand Clint auf und trat einen Schritt auf sie zu, und plötzlich schien der Raum zu schrumpfen. Sie wollte zurückweichen, doch das Treppengeländer bohrte sich in ihren Rücken.

Groß und drohend ragte er vor ihr auf, schaute mit blitzenden Augen auf sie herunter. »Eine seltsame Äußerung aus Ihrem Mund«, sagte er zynisch, »es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass jemand aus Ihrer Familie sich kaufen lässt. Vielleicht sollte ich Ihnen ein Angebot machen – was ist Ihnen Emily denn wert? 25.000 Dollar? Oder sind die Preise inzwischen gestiegen?«

Sämtliche Farbe wich aus Megans Gesicht. Für einen Moment drohten ihre Knie unter ihr nachzugeben, doch sie fing sich rasch wieder, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und straffte die Schultern, sodass ihre Nasenspitze beinahe sein Kinn berührte.

»Behalten Sie Ihr lumpiges Geld, ich gebe Emily nicht her«, stieß sie verächtlich hervor. »Und damit Sie es wissen: Meine Schwester hat den Scheck Ihres Vaters nie eingelöst.«

»Da hat er aber etwas anderes erzählt.«

»Dann lügt er.«

Ihre Blicke bohrten sich ineinander, duellierten sich einen Moment, bis Clint abrupt von ihr wegtrat.

»Es liegt bei Ihnen«, sagte er kühl, während er seine Geldbörse aus der Innentasche seines Jacketts zog, eine Visitenkarte herausnahm und sie auf die Frühstückstheke legte. »Sie können auf meinen Vorschlag eingehen und mir Zeit mit Emily ermöglichen, oder wir regeln die Sache über unsere Anwälte. Denken Sie in Ruhe darüber nach und überlegen Sie auch, ob ein längeres Tauziehen vor Gericht in Emilys Interesse wäre. Ich erwarte Ihren Anruf bis morgen Abend.« Er ging zur Tür und drehte sich dort noch einmal um. »Ach ja, und falls Sie auf die Idee kommen sollten, mitsamt Emily zu verschwinden – ich finde Sie.«

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