Auf keinen Fall Liebe

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Inhalt

Nach sechs Jahren kehrt Faith in ihr Elternhaus zurück, um an der Beerdigung ihres Vaters teilzunehmen und in Ruhe über ihre weitere Zukunft nachzudenken.

Von Erholung kann jedoch keine Rede sein, denn der verstorbene Landarzt hat ihr einen äußerst verführerischen Nachfolger hinterlassen …

Themen: Liebesroman, Drama, Doc Romance, Small Town, Single Dad, Forced Proximity, Workplace Romance, Slow Burn, Marriage of Convenience, Return to Hometown

Leseprobe

Kapitel 1

Die Sonne stand schon tief, als das silbergraue Mercedescoupé die Ortseinfahrt von St. Albury passierte. Langsam fuhr Faith Havering die Hauptstraße entlang und stellte auf den ersten Blick fest, dass sich nichts verändert hatte. Vor sechs Jahren war sie das letzte Mal hier gewesen, und alles sah noch genauso aus wie früher.

Wohnhäuser im viktorianischen Stil wechselten sich mit den in Cornwall üblichen Cottages ab, dazwischen gab es kleine Geschäfte, eine Apotheke, eine Bank und natürlich den Pub. In der Mitte des Dorfes lag die Kirche, direkt gegenüber das Rathaus, vor dem wie eh und je der Brunnen mit der Statue des Schutzheiligen von St. Albury plätscherte. Lächelnd dachte sie daran, wie sie als Kinder immer darin herumgeplanscht hatten, und sich im Teenageralter dort abends mit Freunden verabredet hatten.

Wenige Minuten später hatte sie den Ortskern durchquert und hielt vor einer großen, alten Villa, die sich am Ende einer kleinen Seitenstraße befand. Faith stellte den Motor ab und mit einem leichten Druck im Magen ließ sie ihren Blick über die Fassade des Gebäudes gleiten.

Auch hier hatte sich nichts verändert. Wie früher blätterte die Farbe von den Wänden, die Fensterläden vor den Scheiben hingen schief in den Angeln, die Stützbalken der umlaufenden Veranda wirkten morsch.

Mit einem leisen Seufzer stieg sie aus und ging zögernd auf den Eingang zu.

‚Elliot Havering, M.D.‘ stand auf dem kleinen Messingschild neben der Türglocke.

Faith schluckte, fuhr wehmütig mit den Fingerspitzen über das kühle, blank polierte Metall.

Rasch schob sie die aufsteigenden Erinnerungen beiseite und drückte den Türgriff herunter. Die schwere Holztür mit der bunten Bleiglasscheibe schwang auf, der vertraute Geruch von Bohnerwachs und Desinfektionsmitteln schlug ihr entgegen.

Langsam betrat sie den großräumigen Flur mit den langen Bänken an den Wänden. Im Haus war es vollkommen still, es schien niemand da zu sein.

»Tante Polly? Tante Molly?«, rief sie unsicher, während sie den Kopf in die Küche steckte.

Alles war ordentlich und sauber, auf dem großen Esstisch stand eine Schale mit Schokoladencookies, die einen herrlich aromatischen Duft verströmten.

Faith lächelte. Es hatte sich wirklich nichts verändert; nach all den Jahren wussten ihre Tanten immer noch ganz genau, wie sehr sie diese Plätzchen liebte. Bestimmt würden die beiden gleich auftauchen, sie konnten nicht weit sein, sonst hätten sie die Haustür verschlossen.

Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. Sie überquerte den Flur und öffnete zaghaft die Tür zum Untersuchungszimmer. Der Raum lag im Halbdunkel. Durch die zur Hälfte heruntergelassene Jalousie des großen Fensters fiel ein breiter Streifen Sonnenlicht herein, in dessen Strahl Abertausende von winzigen Staubkörnchen tanzten.

Auf wackeligen Beinen machte sie ein paar Schritte vorwärts.

Erneut prasselten die Erinnerungen auf sie ein. Sie sah ihren Vater am Schreibtisch sitzen, den zerknitterten, weißen Arztkittel nachlässig zugeknöpft, die Lesebrille mit dem Goldrand auf der Nasenspitze, den Kopf über eine Patientenakte gebeugt.

Tränen stiegen ihr in die Augen, blinzelnd starrte sie auf den Stuhl mit dem abgeschrammten, grünen Lederbezug.

»Die Praxis ist geschlossen«, hörte sie im gleichen Augenblick eine tiefe Stimme hinter sich.

Erschrocken fuhr sie herum, wischte sich hastig mit dem Handrücken die Feuchtigkeit von der Wange.

»Das ist mir bekannt«, erwiderte sie kühl, während sie den Mann musterte, der in der Tür stand.

Ein Paar lange Beine und schmale Hüften, die in einer ausgeblichenen Jeans steckten. Eine dunkelblaue Sweatjacke, darunter ein weißes Polohemd, das sich über einem muskulösen Brustkorb und ebenso kräftigen Schultern spannte. Dunkles, kurzes Haar, eine kleine, widerspenstige Haarlocke, die ihm in die Stirn fiel. Ein energisches Kinn, sinnlich wirkende Lippen, ungewöhnlich hellgraue Augen, die sie aufmerksam und abschätzend taxierten.

Obwohl sie ein gutes Stück voneinander entfernt standen, nahm sie deutlich seine maskuline Ausstrahlung wahr, die Ausstrahlung eines Mannes, der genau wusste, welche Wirkung er auf Frauen hatte. Unwillkürlich hielt sie die Luft an.

»Dr. Edwards im West Cornwall Hospital in Penzance betreut im Moment die Patienten von Dr. Havering«, erklärte er, nachdem er eine Weile äußerst selbstsicher ihrem Blick begegnet war. »Oder handelt es sich um einen Notfall?«

Faith runzelte die Stirn. »Notfall?«, wiederholte sie verständnislos.

»Haben Sie Schmerzen? Sind Sie verletzt?«, fragte er, eine leichte Ungeduld schwang in seiner Stimme mit.

In diesem Augenblick tauchte ein zweites, hellgraues Augenpaar neben ihm auf.

»Ich will hier nicht bleiben.«

Tränen schimmerten in den Augen des etwa sechsjährigen, braun gelockten Mädchens. Sie drückte einen alten Teddybären an sich und schaute den Mann kläglich an, ohne Faith zu beachten.

Die Überlegenheit in seinem Blick verschwand, eine Mischung aus Wärme, Schmerz und Hilflosigkeit trat an ihre Stelle.

»Emily, bitte, ich habe doch versucht, es dir zu erklären«, sagte er leise.

Sein Selbstbewusstsein war plötzlich wie weggewischt, er sah mindestens genauso unglücklich aus wie die Kleine.

Irritiert beobachtete Faith die beiden, sah, wie er krampfhaft nach den richtigen Worten suchte, um das Kind zu beruhigen. Spontan machte sie ein paar Schritte vorwärts, unterdrückte den Impuls, ihm tröstend über den Kopf zu streichen. Sie ging vor dem Mädchen in die Hocke, ohne zu bemerken, dass ihr enger Rock dadurch ziemlich weit nach oben rutschte.

»Das ist aber schade, dass du nicht hierbleiben willst«, lächelte sie, »dabei habe ich in der Küche noch so viele Geheimkekse, ich weiß gar nicht, was ich damit machen soll.«

Mit einem scheuen Blick schaute die Kleine sie an, an ihren langen dunklen Wimpern klebten die Tränen. »Geheimkekse? Wonach schmecken die?«, fragte sie zögernd, schwankend zwischen Misstrauen und Neugier.

»Hm, ich habe keine Ahnung, deswegen sind sie ja auch so geheim«, erwiderte Faith mit gespielter Ratlosigkeit. »Ich müsste sie noch mal probieren. – Magst du mir vielleicht dabei helfen? Irgendetwas sagt mir, dass du eine ganz tolle Geheimkeksprobiererin bist.«

Nach einem längeren Zögern nickte Emily schließlich. »In Ordnung.«

Faith lächelte zufrieden, stand wieder auf und hielt der Kleinen die Hand hin. »Na dann komm, gehen wir hinüber in die Küche und sehen mal nach.«

Vertrauensvoll schob Emily ihre Finger in Faiths Hand und folgte ihr aus dem Raum.

Während Faith mit ihr den Flur durchquerte, spürte sie, wie sich der Blick des Mannes in ihren Rücken bohrte, und ihre Nackenhaare richteten sich auf.

Sekunden später saß Emily kauend am Küchentisch, einen Teller mit Schokoladencookies vor sich.

»Und?«, fragte Faith schmunzelnd, »was meinst du? Was für eine Sorte ist es?« Sie nahm sich ebenfalls ein Plätzchen und biss hinein. »Ich kann es einfach nicht feststellen.«

»Schokolade«, erklärte Emily vergnügt.

»Hm – stimmt, du könntest recht haben«, lachte Faith.

Genießerisch leckte sie sich den klebrigen Schokoladenguss von den Fingern. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann, der in der Küchentür stehen geblieben war und sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen beobachtete. Abrupt hielt sie inne, ein Schauer lief ihr über den Rücken. Hastig drehte sie sich um, öffnete den Wasserhahn am Spülbecken und wusch sich ausgiebig die Hände, während sie überlegte, was sie nun tun sollte.

Sie hatte erwartet, ihre Tanten anzutreffen. Stattdessen standen nun ein fremder Mann und ein Kind in ihrem Elternhaus, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Mit Sicherheit stammten die beiden nicht aus St. Albury; Faith war hier aufgewachsen und kannte beinahe jeden.

Bevor sie dazu kam, sich weitere Gedanken zu machen, hörte sie das Getrappel von Schritten im Flur. Sie drehte sich um und sah die zwei Schwestern ihrer Mutter, Polly und Molly Graham,  hereinkommen.

Die grauhaarigen, älteren Damen glichen sich wie ein Ei dem anderen, es war unverkennbar, dass sie Zwillingsschwestern waren. Sie strahlten über ihre rundlichen, rosigen Gesichter und fielen ihr nacheinander um den Hals.

»Faith, wie schön, dass du da bist, auch wenn es ein trauriger Anlass ist«, sagte Molly und drückte sie liebevoll an sich.

Faiths Miene verhärtete sich. »Schon gut«, wehrte sie ab und warf an Mollys Schulter vorbei einen fragenden Blick in Richtung des Mannes, der das ganze Szenario schweigend betrachtet hatte.

»Oh Faith«, nickte Polly sogleich hastig, »das ist Dr. Lucian Clarke. – Dr. Clarke, unsere Nichte Faith Havering.«

»Dr. Clarke«, murmelte Faith gedehnt, während sich eine ungute Vorahnung in ihr ausbreitete. »Was …?«

»Und du musst Emily sein«, fiel Polly ihr augenblicklich ins Wort und wandte sich der Kleinen zu. »Schön, dass du nun auch da bist, dein Dad hat uns bereits viel von dir erzählt.«

Faiths Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, verstärkte sich noch. Sie runzelte die Stirn, kam jedoch nicht dazu, etwas zu sagen, denn Emily verschränkte jetzt abweisend die Arme vor der Brust.

»Er ist nicht mein Dad«, betonte sie anklagend und ihre großen, hellgrauen Augen schwammen erneut in Tränen.

Himmel, was ist hier bloß los?, schoss es Faith entnervt durch den Kopf.

Sie hatte knapp sieben Stunden im Auto gesessen, war von London hierher gefahren, um an der Beerdigung ihres Vaters teilzunehmen. Anschließend wollte sie den Nachlass regeln, ein paar Tage ausspannen und überlegen, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Eigentlich hatte sie vorgehabt, alles in Ruhe mit ihren Tanten zu besprechen.

Stattdessen sah sie sich nun mit einem Mann konfrontiert, der aussah, als wäre er einem Titelblatt von Men‘s Health entsprungen und dessen Blicke reichlich provozierend waren. Seine kleine Tochter – denn das war sie ohne jeden Zweifel – behauptete, er sei nicht ihr Vater und schien mehr als verstört zu sein.

Obendrein versuchten Polly und Molly ganz offensichtlich, irgendetwas vor ihr zu verbergen, und ihr war klar, dass es irgendwie mit diesem Dr. Clarke zu tun haben musste.

»Warum essen wir nicht erst einmal zu Abend?«, schlug Molly jetzt fröhlich vor und nahm eine Schüssel mit Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank. »Alles Weitere können wir später besprechen.«

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Polly zu. Sie lächelte Emily freundlich an. »Willst du mithelfen?«

Die Kleine schniefte leise, nickte dann aber zustimmend und krabbelte vom Stuhl. Während sie zusammen mit Polly ein paar Würstchen aufwärmte, beobachtete Faith entgeistert, wie Lucian Clarke mit allergrößter Selbstverständlichkeit an den Küchenschrank ging und Teller herausnahm.

Dass er als Mann den Tisch deckte, fand sie dabei weniger erstaunlich als vielmehr die Tatsache, dass er sich benahm, als wäre er hier zu Hause.

Ein Anflug von Ärger stieg in ihr auf, doch dem Kind zuliebe verkniff sie sich jeglichen Kommentar.

Kurz darauf saßen sie alle gemeinsam am Tisch und aßen.

Polly und Molly kümmerten sich rührend um Emily, während Faith missmutig auf ihrem Teller herumstocherte. Immer wieder spürte sie Lucian Clarkes Blick auf sich und nahm sich vor, sofort nach der Mahlzeit in Erfahrung zu bringen, was hier eigentlich vor sich ging.

***

»Also gut«, begann Faith nach dem Essen zielstrebig. »Möchtet ihr mich denn jetzt bitte mal über den Grund für Dr. Clarkes Anwesenheit aufklären?«, fragte sie in Richtung ihrer Tanten, als wäre der Mann überhaupt nicht vorhanden.

Polly und Molly schauten sich kurz an, unbehaglich und verlegen.

»Ich werde die Praxis übernehmen«, ergriff Lucian Clarke nun das Wort.

»Was?« Entgeistert starrte Faith ihn an.

»Ich werde die Praxis Ihres Vaters übernehmen«, wiederholte er ruhig.

»Da habe ich ja wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden«, entfuhr es ihr aufgebracht.

Molly stand auf. »Emily, ich glaube, die Erwachsenen haben etwas miteinander zu besprechen. Vielleicht gehen wir so lange hinüber in unser Haus und ich zeige dir unsere Kaninchen. Sie werden dir bestimmt gefallen.«

»Au ja«, nickte die Kleine begeistert.

Faith wartete mit zusammengepressten Lippen, bis sich die Küchentür hinter den beiden geschlossen hatte, dann fuhr sie abweisend fort: »Es tut mir sehr leid, Dr. Clarke, aber da muss ein Missverständnis vorliegen. Die Praxis steht nicht zur Disposition, ich fürchte, meine Tanten waren da ein bisschen voreilig.«

Kühl erwiderte sie seinen durchdringenden Blick, fest entschlossen, sich von diesen hellgrauen Augen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

»Es gibt doch keinen Grund, das jetzt übers Knie zu brechen«, sagte Polly dann hastig und legte Faith beruhigend die Hand auf den Arm. »Du hattest eine lange Fahrt und morgen ist die Beerdigung. Warum ruhst du dich nicht erst einmal aus und schläfst eine Nacht darüber?«

Ein dumpfes Ziehen in ihrem Nacken kündigte Faith beginnende Kopfschmerzen an, und am liebsten hätte sie den Rat ihrer Tante befolgt und sich ins Bett gelegt. Aber sie spürte, dass da noch irgendetwas war, und außerdem wollte sie die Sache geklärt haben, je eher dieser Kerl hier wieder verschwand, desto besser.

»Nein Tante Polly, ich denke, wir sollten das gleich regeln«, beharrte sie daher. »Ihr hättet nicht einfach über meinen Kopf hinweg solche Versprechungen machen sollen. Ich bin mir sicher, dass ihr es gut gemeint habt, doch das war nicht in meinem Sinne.«

Polly schaute sie unglücklich an. »Wir waren das nicht«, murmelte sie bedrückt. »Dein Vater hat das mit Dr. Clarke vereinbart.«

»Mein Vater«, wiederholte Faith tonlos, ihr Gesicht war blass geworden. Abrupt sprang sie auf. »Ein Grund mehr«, sagte sie dann schroff. »Wie gesagt, es tut mir leid Dr. Clarke, aber Sie haben sich umsonst hierher bemüht.«

Bevor einer von beiden noch etwas sagen konnte, drehte sie sich auf dem Absatz herum und verließ die Küche.

***

Überrascht von Faiths heftiger Reaktion schaute Lucian ihr nach.

»Dr. Clarke, bitte entschuldigen Sie«, versuchte Polly, zu vermitteln. »Der Tod ihres Vaters hat meine Nichte doch mehr getroffen, als sie zugeben will, es ist wohl alles ein bisschen viel für sie gewesen.«

Nachdenklich sah er die grauhaarige Frau an. »Ich nehme an, sie weiß nicht, dass ihr Vater mir das Haus verkauft hat?«

Polly schüttelte den Kopf. »Nein, und es wäre jetzt bestimmt kein günstiger Zeitpunkt, ihr das zu sagen. Bitte behalten Sie es für sich, ich werde mit ihr reden, und ich bin mir sicher, sie wird auch so nichts dagegen haben, dass Sie die Praxis übernehmen.«

»Das hat sich eben aber nicht gerade danach angehört«, kommentierte er trocken.

»Sie hatte in den letzten Jahren kein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater«, erklärte Polly bedrückt. »Doch sie wird einsehen, dass es so die beste Lösung ist, sie lebt in London und ist an der Praxis sowieso nicht interessiert. Lassen Sie ihr einfach ein bisschen Zeit.«

Eindringlich schaute sie ihn an, und schließlich nickte er.

»Also gut, es wird ohnehin noch einen Moment dauern, bis ich so weit bin, dass ich die Praxis eröffnen kann. Ich habe auch nicht die Absicht, mich in irgendwelche Familienangelegenheiten einzumischen.«

»Vielen Dank«, strahlte Polly ihn an, »ich wusste doch gleich, dass Sie ein gutes Herz haben. Wir werden mit ihr sprechen, und ich bin fest überzeugt, dass sich alles finden wird.«

***

Faith saß hinter dem alten Mahagonischreibtisch im Arbeitszimmer ihres Vaters, hatte das Gesicht auf die Arme gelegt und weinte.

Als eine Hand ihr liebevoll und tröstend übers Haar strich, hob sie den Kopf.

»Wie konnte Vater das nur tun?«, fragte sie anklagend.

Polly nahm einen Stapel Akten von einem der herumstehenden Stühle, legte ihn auf den Boden und setzte sich dann zu ihrer Nichte.

»Du bist vor sechs Jahren weggegangen und hast seitdem dein eigenes Leben geführt. Er hat nicht gedacht, dass dir die Praxis noch etwas bedeutet«, erklärte sie beruhigend.

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt«, sagte Faith aufgebracht. »Ich war immer an der Praxis interessiert. Wenn ich damals nicht herausgefunden hätte, was er getrieben hat, wäre ich hiergeblieben. Es war mein sehnlichster Wunsch, das hier eines Tages fortzuführen, und das wusste er ganz genau. Er hat das nur gemacht, um mir heimzuzahlen, dass ich das getan habe, was meine Mutter nicht fertiggebracht hat, nämlich ihn zu verlassen.«

Sanft drückte Polly ihre Hand. »Ich weiß, dass es schlimm für dich ist. Aber willst du Dr. Clarke das nun alles ausbaden lassen? Er ist ein sehr netter Mann, und er hat es auch nicht gerade leicht. Scheinbar hatte er Probleme mit seiner Ex-Frau, und jetzt ist er mit Emily ganz alleine. Dem Kind geht es mit der Situation wohl ebenfalls nicht gut, und offenbar hat er gehofft, hier für sich und die Kleine einen Neuanfang zu finden. Willst du ihn tatsächlich wieder wegschicken?«

»Das tut mir wirklich leid für ihn«, murmelte Faith, »aber ich habe meine eigenen Sorgen und kann darauf keine Rücksicht nehmen.«

»Du wirst doch in ein paar Tagen sowieso nach London zurückkehren, also würde es dich nicht stören, wenn die beiden hier einziehen.«

Faith warf ihrer Tante einen unglücklichen Blick zu. »Ich hatte vor, hierzubleiben, zumindest für eine Weile. Das wollte ich eigentlich nach der Beerdigung mit euch besprechen.«

»Aber – was ist denn passiert? Was ist mit deiner Karriere? Und was ist mit Gabriel?«, fragte Polly entgeistert.

»Meine Karriere habe ich aufgegeben«, erklärte Faith. »Und Gabriel«, sie spuckte den Namen verächtlich aus, »ist Geschichte. Ich will diesen Menschen nie wieder sehen.«

Polly spürte, dass sich hinter dem Zorn ihrer Nichte noch einiges mehr verbarg, deutlich hörte sie einen tiefen Schmerz aus ihren Worten heraus.

»Schon gut Kind, du musst jetzt nicht darüber sprechen«, sagte sie verständnisvoll. »Falls du ein offenes Ohr brauchst, weißt du, dass wir immer für dich da sind.«

»Danke Tante Polly.« Faith brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Und was die Praxis anbelangt …«

»Liebes, auch wenn du eine Weile hierbleibst, es wird sich bestimmt eine Lösung finden lassen«, beschwichtigte Polly sie. »Bitte schlaf erst mal eine Nacht drüber und triff keine voreilige Entscheidung.«

»Also gut«, seufzte Faith nach kurzem Nachdenken, »ich werde es mir bis morgen in Ruhe überlegen.«

Polly nickte zufrieden, und drückte Faith noch einmal an sich. »So kenne ich dich«, lächelte sie. »Dann solltest du Dr. Clarke vielleicht Bescheid sagen, der arme Mann wird froh sein, zu hören, dass du ihn nicht umgehend vor die Tür setzt.«

Zusammen verließen sie das Arbeitszimmer, und im gleichen Augenblick kamen Molly und Emily zur Haustür herein.

Die Kleine hatte vor Aufregung gerötete Wangen und strahlte ihren Vater an, der abwartend am Rahmen der Küchentür lehnte.

»Tante Molly und Tante Polly haben ganz viele Tiere«, berichtete sie ihm begeistert. »Da gibt es Schafe und Küken und Hühner und sogar ein Pony. Tante Molly hat gesagt, ich darf mal darauf reiten, wenn du es erlaubst. Und sobald wir hier im Haus alles fertig haben, bekomme ich ein eigenes Kaninchen«, sprudelte sie aufgeregt heraus.

»Immer langsam junge Dame, noch ist es nicht soweit«, bremste Lucian seine Tochter liebevoll und ging vor ihr in die Hocke. »Erst müssen ein paar Dinge geklärt werden.«

Obwohl Faith von den ganzen Geschehnissen der Kopf schwirrte, konnte sie nicht umhin zu bemerken, wie sich die Jeans um seine muskulösen Oberschenkel spannte. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, mit den Händen darüber zu streichen.

Während sie wie gebannt auf seine Beine starrte, zog er Emily in seine Arme und sah über ihre Schulter hinweg schweigend Faith an.

»Faith?«, riss Pollys Stimme sie aus ihrer Trance.

Irritiert schaute sie Lucian ins Gesicht, bemerkte ein kaum wahrnehmbares Lächeln in seinen grauen Augen und hatte das unbestimmte Gefühl, er würde ganz genau ihre Gedanken kennen.

»Wir unterhalten uns morgen«, sagte sie betont kühl. »Gute Nacht.«

Für einen kurzen Moment hielt sie seinem wissenden Blick trotzig stand, dann wandte sie sich ab und stieg die Treppe hinauf.

Kapitel 2

Nachdem Lucian Clarke sich von Polly und Molly Graham verabschiedet hatte, fuhr er mit Emily ins St. Albury Manor, der kleinen Pension im Ort, wo er sich vorübergehend eingemietet hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Emily eingeschlafen war, doch er selbst war hellwach. Er trat ans Fenster, schaute hinaus in die Dunkelheit und versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

Als Elliott Havering ihm vor ein paar Wochen das Haus verkauft hatte, hatte er weder geahnt, dass Elliott eine Tochter hatte, noch dass er schwer krank war. Sie kannten sich von verschiedenen Kongressen und hatten für kurze Zeit gemeinsam an einem Forschungsprojekt gearbeitet. Als er auf einer dieser Tagungen erwähnt hatte, dass er beabsichtigte, London den Rücken zu kehren, hatte der alte Arzt ihm seine Praxis angeboten.

Es hatte nicht lange gedauert, bis sie sich handelseinig gewesen waren, Elliott hatte ihm alles zu einem Spottpreis überlassen. Nun hatte Lucian das dumpfe Gefühl, dass der Haken an der ganzen Sache aufgetaucht war – ein äußerst attraktiver Haken zugegebenermaßen.

Als er sie dort im Untersuchungszimmer gesehen hatte, hatte er sie sofort erkannt: Faith Havering, Schauspielerin und der Traum aller Männer zwischen neun und neunundneunzig Jahren. Er kannte ein paar ihrer Filme und musste nun feststellen, dass sie in natura noch wesentlich verführerischer aussah als auf der Leinwand.

Was ihm allerdings viel mehr zu schaffen machte, war die Frage, ob sie unter diesem engen Rock Strümpfe trug oder Strumpfhosen. Seit sie da vor Emily in die Hocke gegangen war, verspürte er das Bedürfnis, seine Hände an ihren langen, wohlgeformten Beinen nach oben gleiten zu lassen und es herauszufinden.

Als sie dann in der Küche gestanden und ihre Finger abgeleckt hatte, waren ihm noch ganz andere Dinge durch den Kopf geschossen und es war ihm bis jetzt nicht gelungen, diese Bilder wieder loszuwerden.

Ihre kühle und abweisende Haltung reizte ihn sehr. Nur zu gerne würde er herausfinden, ob er diesen Eisblock in seinen Armen zum Schmelzen bringen könnte, ob sie immer noch so frostig wäre, wenn sie erst mal in seinem Bett liegen würde.

»Idiot«, murmelte er trocken, »du bist zweiunddreißig und benimmst dich wie ein pubertierender Jüngling, dabei hast du weiß Gott genug andere Probleme.«

Er seufzte und schüttelte den Kopf, schüttelte die Gedanken an die blonde, äußerst anziehende Frau mit den smaragdgrünen Augen von sich ab. In seinem Leben gab es keinen Platz für derartige Dinge. Da war Emily, um die er sich kümmern musste, da war die Praxis, die er hier aufbauen wollte, und da waren der Schmerz und die Enttäuschung, mit denen er fertig werden musste.

Frauen standen nicht auf seiner To-do-Liste, und das würde auch so bleiben.

***

Im Haus der Graham-Schwestern brannte noch Licht. Polly und Molly saßen in ihrem kleinen, behaglichen Wohnzimmer, und natürlich war ihre Nichte Faith das Thema, welches ihre Gemüter bewegte.

»Sie sieht blass aus, ich glaube, Elliotts Tod hat ihr doch mehr zugesetzt, als sie zugeben will«, stellte Molly betrübt fest.

»Vielleicht«, bedächtig wiegte Polly den Kopf hin und her, »aber da sind noch andere Dinge. Sie hat ihre Karriere an den Nagel gehängt, und Gabriel Pendergast wohl gleich dazu.«

Molly sah nicht besonders überrascht aus. »Das wundert mich nicht. Sie klang am Telefon schon so merkwürdig, und ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie diesen aufgeblasenen, arroganten Kerl los ist. Er hat ihr nicht gutgetan, und sie haben überhaupt nicht zusammengepasst. Faith hat etwas Besseres verdient als einen Mann, der sie für seine ehrgeizigen Pläne benutzt.«

»Etwas Besseres – so wie Dr. Clarke zum Beispiel?« Polly kicherte.

»Warum nicht?«, schmunzelte Molly. »Er macht einen netten und anständigen Eindruck, und er ist sehr attraktiv. So wie sie ihn vorhin angestarrt hat, scheint ihr das wohl auch nicht entgangen zu sein.«

»Ich glaube kaum, dass Dr. Clarke im Moment der Sinn nach einer Beziehung steht. Es sieht so aus, als hätte er ein großes Problem mit Emily«, gab Polly zu bedenken.

»Die Kleine ist entzückend, und ich bin mir sicher, dass sich das geben wird, wenn die beiden erst mal eine Weile hier sind. Wir könnten da vielleicht ein bisschen nachhelfen«, Molly blinzelte ihrer Schwester verschwörerisch zu, »und nicht nur mit seiner Tochter.«

Polly lächelte. »Willst du Dr. Clarke und Faith etwa miteinander verkuppeln? Du weißt doch noch gar nicht, ob Faith überhaupt hierbleibt.«

»Wir werden sehen, ich habe da so eine Ahnung«, orakelte Molly. »Zumindest kann sie ihn nicht wegschicken, das Haus gehört ihm.«

»Das darf Faith auf keinen Fall erfahren, das Ganze nimmt sie auch so bereits genug mit. Er hat mir versprochen, nichts zu sagen, und ich hoffe, dass sie sich mit ihm einigt, ohne dass dieses unschöne Detail ans Tageslicht kommt.«

Nachdenklich rieb sich Molly die Nasenspitze. »Ich glaube schon. So wie ich Faith kenne, wird sie es nicht übers Herz bringen, die beiden auf die Straße zu setzen.«

»Das stimmt«, nickte Polly, »sie war noch nie rücksichtslos gegenüber anderen Menschen. –  Und ich muss zugeben, dass sie und Dr. Clarke wirklich ein sehr schönes Paar wären.«

***

Faith saß in ihrem alten Zimmer auf der Bank in dem kleinen Erker und starrte aus dem Fenster.

Sie hatte gewusst, dass es nicht leicht sein würde, nach all den Jahren hierher zu kommen, nicht nach allem, was geschehen war. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Vater ihr nach seinem Tode noch einen weiteren Schock verpassen würde, indem er einem wildfremden Menschen die Praxis vermietete. Und als wäre das nicht genug, handelte es sich nicht um einen älteren Arzt, der väterlich und gütig wirkte, sondern um einen Kerl, dessen Liste von Eroberungen garantiert länger war als die Entfernung von der Erde zum Mond.

Lucian Clarke war zweifellos einer der attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte, und er war gefährlich – gefährlich für ihren Seelenfrieden, das hatte sie bereits nach wenigen Minuten festgestellt. Im Laufe ihrer Schauspielkarriere hatte sie viele gut aussehende Männer getroffen, doch keiner hatte eine so starke erotische Ausstrahlung besessen wie dieser Arzt, dessen graue Augen ungeahnte Sehnsüchte in ihr geweckt hatten.

Selbst Gabriel, mit dem sie eineinhalb Jahre zusammen gewesen war, hatte nicht annähernd eine solche Anziehungskraft auf sie ausgeübt.

Gabriel. Sofort blendete sie diesen Namen aus. Sie wollte ihn nicht mehr hören und nicht mehr daran denken, nie wieder. Er hatte sie benutzt und manipuliert, und das, was sie anfangs für die große Liebe gehalten hatte, hatte sich als die größte Katastrophe ihres Lebens erwiesen.

Deswegen war sie überhaupt hier in St. Albury. Die Beerdigung ihres Vaters war der eine Grund, die Suche nach Vergessen der andere. Sie war regelrecht hierher geflohen, geflohen vor der Oberflächlichkeit ihres glamourösen Rampenlicht-Daseins, und geflohen vor dem Schmerz, den Gabriel ihr zugefügt hatte.

Doch statt die erwartete Ruhe zu finden, sah sie sich jetzt mit einer Situation konfrontiert, die erneut Fluchtgedanken in ihr auslöste.

Ich bin achtundzwanzig, ich kann nicht ewig vor allem davonlaufen, dachte sie resigniert, es wird Zeit, dass ich mein Leben wieder in die Hand nehme.

Mit einem leisen Seufzen stand sie auf, zog sich aus und legte sich in ihr Bett.

Tante Polly hatte recht, es wäre nicht fair, Lucian Clarke und seine kleine Tochter ausbaden zu lassen, was ihr Vater angerichtet hatte. Sollte er eben die Praxis weiterführen, im Prinzip war es egal. Sie würde ein paar Tage hierbleiben, alles regeln, was zu regeln war und sich überlegen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollte. Bis dahin würden sie sich irgendwie arrangieren, und sie war reif genug, um sich nicht von irgendwelchen dummen, körperlichen Reaktionen aus der Bahn werfen zu lassen.

***

Es war mehr das Wetter für einen schönen Ausflug als für eine Beerdigung. Der Frühling hatte bereits begonnen, überall grünte und blühte es, und die Sonne lachte von einem fast wolkenlosen, strahlend blauen Himmel.

Ganz St. Albury sowie unzählige Anwohner aus den umliegenden Ortschaften hatten sich auf dem kleinen Friedhof versammelt, um Dr. Elliott Havering die letzte Ehre zu erweisen.

Faith, die flankiert von ihren Tanten direkt am Kopfende des Grabes stand, war darüber nicht sonderlich erstaunt.

Ihr Vater hatte den gesamten Bezirk rings um St. Albury medizinisch betreut, und alle waren über seinen plötzlichen Tod mehr als betroffen gewesen. Die Leute kannten ihn zum größten Teil von Kindesbeinen an und hatten ihm rückhaltlos ihre Gesundheit anvertraut. Seine ruhige und besonnene Art, sein Sinn für Humor und sein ausgeprägter Charme hatten ihn bei seinen Patienten sehr beliebt gemacht – bei einigen zu beliebt, wie Faith jetzt zynisch dachte.

Sie schob diesen Gedanken wieder beiseite, konzentrierte sich mit versteinertem Gesicht auf die Trauerrede von Reverend Oakland.

Es entging ihr nicht, dass sie von allen Seiten aufmerksam beobachtet wurde. Das lag jedoch weniger an ihrem Bekanntheitsgrad als Schauspielerin, sondern mehr daran, dass alle Einheimischen über ihre schwierige Beziehung zu ihrem Vater im Bilde waren. In einem kleinen, verschlafenen Dorf wie St. Albury gelang es niemandem, irgendwelche Dinge geheim zu halten, selbst wenn sie noch so privat waren. Allerdings fand der Tratsch und Klatsch hier nur selten aus Neugier oder zur allgemeinen Unterhaltung statt, fast immer steckten aufrichtige Anteilnahme und der Wunsch nach Zusammenhalt dahinter.

Nachdem der schwere Eichensarg hinabgelassen war, nahm sie geduldig die Kondolenzwünsche entgegen und schüttelte unzählige Hände. Als der Friedhof sich langsam leerte, bat sie ihre Tanten, sich um die Trauergäste zu kümmern, die in der Villa erwartet wurden, und sie für einen Augenblick am Grab allein zu lassen.

Faith setzte sich auf eine Holzbank, die ein paar Schritte entfernt stand, und starrte nachdenklich auf den Grabstein, der bereits den Namen ihrer Mutter trug.

»Ach Mom«, flüsterte sie unglücklich, »ich vermisse dich so sehr.«

Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit, als ihre kleine, heile Welt zerbrochen war.

Sie war in der Geborgenheit eines liebevollen Elternhauses aufgewachsen, und soweit sie sich erinnern konnte, hatten ihre Eltern immer eine glückliche Ehe geführt.

Dann kam das Wochenende, als sie von der Universität nach Hause kam, und ihre Mutter weinend in der Küche vorfand. Sie war damals einundzwanzig gewesen, hatte ein Medizinstudium begonnen und war beflügelt von dem Wunsch, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten.

Obwohl sie ihre Mutter mit Fragen bestürmte, wollte diese ihr natürlich nicht erzählen, was ihr solchen Kummer machte, dass sie vor dem Herd stand und bittere Tränen vergoss. Doch es hatte nicht lange gedauert, bis Faith es selbst herausgefunden hatte.

Bereits zu diesem Zeitpunkt half sie ihrem Vater in den Semesterferien und, so oft es möglich war, auch zwischendurch in der Praxis. Sie koordinierte die Termine, erledigte die anliegenden Büroarbeiten und unterstützte ihn mit kleineren Handreichungen.

Es bedurfte keiner besonderen Intelligenz, um zu bemerken, dass eine bestimmte Patientin immer wieder in der Praxis erschien, stets mit irgendwelchen fadenscheinigen Beschwerden. Anfangs hatte Faith sich nichts dabei gedacht, es gab schließlich viele Leute, die sich alle möglichen Krankheiten einbildeten oder wegen jeder Kleinigkeit zum Arzt liefen. Doch als Faith sie eines Nachmittags in inniger Umarmung mit ihrem Vater im Untersuchungszimmer überraschte, war ihr klar, was hier vor sich ging.

Voller Zorn stellte sie ihren Vater zur Rede, und dieser machte sich nicht einmal die Mühe, es abzustreiten.

»Es hat nichts mit deiner Mutter und mir zu tun«, erklärte er ihr, »es ist rein körperlich. Ich liebe deine Mutter, doch ich bekomme von ihr nicht das, was ich brauche.«

»Aber sie ist deine Patientin, du hast einen Eid geschworen«, schrie Faith ihn an. »Wie kannst du nur so etwas tun? Und hast du überhaupt eine Ahnung, was du Mom damit antust?«

Ihr ganzes Weltbild lag innerhalb weniger Sekunden in Scherben, und auch ihre Mutter hatte sich von diesem Schock nicht wieder erholt. Sie wurde krank, verfiel immer weiter, bis sie schließlich in ein Sanatorium gebracht werden musste, wo sie kurze Zeit später starb.

Noch am gleichen Tag hatte Faith ihr Studium hingeworfen, hatte ihre Sachen gepackt und war nach London gegangen. Seitdem hatte sie ihren Vater nie mehr wiedergesehen. Er hatte alles getan, um sie zur Rückkehr zu bewegen, doch sie hatte ihm nie verziehen, was er ihrer Mutter angetan hatte.

Tränen rollten über Faiths Wangen, als sie daran dachte, wie sehr sie ihn früher geliebt und bewundert hatte.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, riss sie abrupt in die Gegenwart zurück. Hastig wischte sie sich das Gesicht ab und schaute auf.

Zwei graue Augen sahen sie forschend an. »Alles in Ordnung?«

Lucian Clarkes Stimme klang weich und mitfühlend, doch sie wollte kein Mitleid, schon gar nicht von dem Mann, den ihr Vater ihr als Denkzettel vor die Nase gesetzt hatte.

Verärgert schüttelte sie seine Hand ab, ignorierte die Wärme, die seine Berührung hinterlassen hatte, und sprang auf. »Natürlich ist alles in Ordnung«, erwiderte sie schroff.

»Es tut mir aufrichtig leid für Sie, Ihr Vater war ein netter Mann«, sagte er leise.

Ihr Ärger verstärkte sich, sie schnaubte wütend. »Was wissen Sie denn schon? Sie kannten ihn doch gar nicht«, fuhr sie ihn an. »Hören Sie Dr. Clarke, sparen Sie sich Ihre Worte, ich werde mich durch Ihr Mitgefühl garantiert nicht in meiner Entscheidung beeinflussen lassen.«

Sie drehte sich um und strebte auf das Friedhofstor zu, ohne weiter auf ihn zu achten.

Einen Moment blieb er überrascht stehen und sah ihr nach. Dann folgte er ihr, hatte sie mit wenigen, großen Schritten eingeholt. Schweigend liefen sie nebeneinander zur Villa zurück, wo bereits reger Trubel herrschte.

In St. Albury war es üblich, dass sich die Trauergemeinde nach einer Beerdigung im Haus des Verstorbenen einfand. Besucher erschienen, brachten eine Kleinigkeit zu essen mit, hielten sich eine Weile auf, beteiligten sich an den allgemeinen Gesprächen über den Verblichenen und verschwanden dann wieder.

Auch im Fall von Elliott Havering war das nicht anders, nur mit dem Unterschied, dass das Wohnzimmer unter dem Andrang der Trauergäste beinahe aus den Nähten zu platzen schien. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, und Faith war regelrecht erschlagen, als sie das Haus betrat.

Polly und Molly waren bereits damit beschäftigt, sich um die Anwesenden zu kümmern, und obwohl sie keine große Lust dazu verspürte, mischte Faith sich unter die Leute. Sie begrüßte alte Bekannte und beteiligte sich höflich, aber mechanisch an den Gesprächen.

Viele der Gäste kannten sie, seit sie ein kleines Kind gewesen war, und natürlich wurde sie mehr als einmal nach ihrem Leben als Schauspielerin gefragt. Sie sprach nicht gerne darüber, es hatte ihr noch nie gefallen, im Mittelpunkt zu stehen. Doch sie stand geduldig Rede und Antwort, denn sie spürte das ehrliche Interesse und die Herzlichkeit hinter all den Fragen.

Schließlich wurde es Abend, und nach wie vor war kein Ende des Besucherstroms abzusehen. Irgendwann bemerkte Faith, dass Emily, die den ganzen Nachmittag aufgeregt zwischen den Gästen herumgelaufen war, sich müde die Augen rieb.

Liebevoll nahm sie die Kleine auf den Arm. »Was hältst du davon, wenn wir nach oben gehen und du dich einen Moment ausruhst?«

Sie rechnete mit Widerspruch, doch Emily nickte nur schläfrig. Nachdem sie Polly kurz Bescheid gesagt hatte, stieg sie mit dem Mädchen auf dem Arm die Treppe hinauf und betrat ihr Zimmer. Als sie das Licht eingeschaltet hatte, sah Emily sich mit großen Augen um.

Seit ihrer Teenagerzeit hatte Faith nie mehr etwas in dem Raum verändert. Die Wände waren in einem pfirsichfarbenen Pastellton gestrichen, die Möbel aus weißem Holz. Auf dem Boden lag ein flauschiger Teppich, an den Erkerfenstern waren helle Gardinen angebracht, über dem Bett gab es einen Himmel aus zartem Voile.

»Das ist ein schönes Zimmer«, sagte sie begeistert. »Wohnst du hier?«

Faith lächelte. »Manchmal.«

»So ein Zimmer habe ich mir auch immer gewünscht«, erklärte Emily traurig. »Aber Mom hat mit mir nur in Hotels gewohnt.«

Ihre Worte erzeugten eine Welle des Mitgefühls, und der verlorene Ausdruck in ihren grauen Augen schnitt Faith ins Herz. Behutsam drückte sie die Kleine an sich.

»Weißt du was?«, sagte sie leise und strich ihr über die dunklen Locken. »Wie würde es dir gefallen, hier zu wohnen?«

»Ehrlich? Für immer?« Emily begann zu strahlen.

»Nun, zumindest solange dein Dad und du es möchten«, nickte Faith.

»Aber es ist doch dein Zimmer, wo wirst du dann schlafen?«

»Es gibt noch mehr Räume, ich werde einen Platz finden«, beruhigte Faith sie, und beschloss sicherheitshalber, nicht zu erwähnen, dass sie sowieso nicht lange hierbleiben würde.

Emily schlang ihr die Arme um den Hals. »Danke«, flüsterte sie glücklich und küsste in kindlichem Überschwang ihre Wange.

Mühsam schluckte Faith den dicken Kloß der Rührung in ihrem Hals herunter. »Dann würde ich vorschlagen, du legst dich jetzt hin und probierst aus, ob du hier überhaupt gut schlafen kannst.«

»Das werde ich bestimmt«, betonte Emily eifrig.

Wenig später lag sie im Bett. Faith setzte sich zu ihr und las ihr aus einem ihrer alten Kinderbücher vor, bis sie eingeschlafen war. Vorsichtig zog sie ihr noch einmal die Decke zurecht, löschte das Licht und ging leise nach draußen.

Vor der Tür blieb sie einen Moment nachdenklich stehen und lächelte schließlich still in sich hinein.

»Damit wäre es dann wohl entschieden.«

Kapitel 3

Weit nach zweiundzwanzig Uhr hatten sich endlich die letzten Gäste verabschiedet und schlagartig kehrte im Haus Ruhe ein.

»Puh, was für ein Rummel«, seufzte Polly, während sie begann, Ordnung zu schaffen.

Lucian nahm ihr das Tablett mit dem Geschirr aus der Hand. »Lassen Sie mich das machen. Es war ein anstrengender Tag für Sie, Sie sollten schlafen gehen.«

»Aber das kommt gar nicht infrage«, wehrte Molly ab.

»Er hat recht«, mischte Faith sich jetzt ein. »Ihr wart den ganzen Tag auf den Beinen, für heute ist Schluss. Ich erledige das hier.« Als Molly erneut widersprechen wollte, fügte sie hinzu: »Außerdem würde ich mich gerne noch mit Dr. Clarke wegen der Praxis unterhalten.«

»Oh«, sagte Molly, »wenn das so ist, wollen wir natürlich nicht stören.«

Sie zwinkerte ihrer Schwester unauffällig zu und kurz darauf waren die beiden verschwunden.

Verlegen griff Faith nach einem Stapel Teller und trug ihn in die Küche. Inzwischen tat es ihr leid, dass sie Lucian Clarke auf dem Friedhof so angefahren hatte. Sie war sicher, dass er es nur gut gemeint hatte, und bedauerte ihre grobe Reaktion.

Während sie die Gläser in die Spülmaschine räumte, überlegte sie, wie sie das Gespräch am besten beginnen sollte.

»Das ist der Rest«, erklärte Lucian, als er mit einem weiteren Tablett voller Geschirr zu ihr in die Küche kam.

Abwartend blieb er stehen und sah ihr zu, wie sie nervös die Essensreste in den Mülleimer kratzte.

Plötzlich trat er zu ihr, nahm ihr den Teller aus der Hand und stellte ihn beiseite. »Was haben Sie mir zu sagen?«

»Was?«, fragte sie irritiert.

»Sie wollten mit mir sprechen«, erinnerte er sie, »also – was haben Sie mir zu sagen?«

Er stand dicht vor ihr, fixierte sie mit einem durchdringenden Blick, und Faith hatte auf einmal das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück, obwohl sie insgeheim den unerklärlichen Drang verspürte, genau das Gegenteil zu tun.

»Ich … ich …«, begann sie stotternd und hielt dann völlig konfus inne, während ihr hilflos durch den Kopf schoss, wie gut er in der schwarzen Hose und dem dunkelgrauen Hemd aussah.

»Wovor haben Sie eigentlich solche Angst?«, fragte er im gleichen Augenblick unvermittelt.

Sie starrte ihn an, bemerkte die Herausforderung in seinem Blick und ihr Kampfgeist erwachte. Auf gar keinen Fall würde sie sich von ihm einschüchtern lassen.

»Ich habe keine Angst«, betonte sie kühl, »oder sollte ich welche haben?«

In seinen grauen Augen blitzte es kurz auf. »Das müssten Sie besser wissen als ich.«

»Dr. Clarke«, sagte sie jetzt in einem übertrieben nachsichtigen Ton, in dem man üblicherweise mit kleinen Kindern oder demenzkranken Patienten sprach, »lassen wir doch die Spielchen und kommen zur Sache.«

»Gerne«, nickte er, und der Blick, mit dem er sie von Kopf bis Fuß musterte, ließ deutlich erkennen, woran er dachte.

Mit eiserner Selbstbeherrschung ignorierte sie die Hitze, die in ihr aufstieg, und fuhr sachlich fort: »Ich bin damit einverstanden, dass Sie die Praxis übernehmen. Mein Vater hat das so mit Ihnen vereinbart, und ich will Ihren Plänen nicht im Weg stehen. Ich werde noch für eine kurze Zeit hier sein, bis alles geregelt ist, danach haben Sie das Haus für sich. Sie können also so lange hierbleiben, wie Sie möchten.«

Sie hielt inne und schaute ihn abwartend an. Doch er reagierte nicht, lediglich der zufriedene Ausdruck in seinem Gesicht machte ihr klar, dass er mit keiner anderen Entscheidung gerechnet hatte. Fast bereute sie schon wieder, dass sie sich darauf eingelassen hatte, aber jetzt war es zu spät.

»Das war alles, die weiteren Dinge können wir in den nächsten Tagen besprechen, ich denke, wir werden uns da einig.«

»Das denke ich auch«, erwiderte er, und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft sah sie ihn lächeln.

Seine Augen funkelten, und neben seinen Mundwinkeln bildeten sich zwei Grübchen.

Fasziniert starrte sie ihn an, fragte sich, wie es sich wohl anfühlen mochte, von diesem Mund geküsst zu werden.

Abrupt drehte sie sich um und packte die restlichen Teller in die Spülmaschine, gab ihm damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.

»Ihre Tante sagte, dass Sie Emily in Ihr Zimmer gebracht haben?«, wollte er wissen.

»Ja, sie schläft, und wenn Sie einverstanden sind, kann sie ruhig dortbleiben«, bot sie ihm an, ohne sich umzusehen. »Möchten Sie noch mal nach ihr sehen?«

»Nein, ich bin mir sicher, dass sie in Ihrem Bett gut aufgehoben ist.«

Der Ton in seiner Stimme jagte ihr erneut einen Schauer über den Rücken. »Gute Nacht Dr. Clarke«, wünschte sie ihm frostig.

»Bis morgen.«

Sie hörte ihn zur Tür gehen, dann blieb er noch einmal stehen.

»Übrigens – ich spiele nur, wenn ich weiß, dass ich gewinne«, sagte er leise.

Sekunden später fiel die Haustür ins Schloss, und Faith hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, dass ihre Entscheidung ein Fehler gewesen war.

***

Gemächlich spazierte Lucian durch die nächtlichen Straßen zur Pension.

Mit seinen Gedanken war er bei dem vorangegangenen Gespräch, und ein kleines Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

Faith Havering war bei Weitem nicht so spröde, wie sie vorgab, das hatte er deutlich bemerkt, und unbewusst hatte er seine To-do-Liste um einen Punkt erweitert: Er wollte diese Frau erobern.

Ihm war klar, dass es verrückt war, dass er in seiner Situation überhaupt nicht an so etwas denken sollte. Doch Faith weckte Sehnsüchte in ihm, die er seit langer Zeit nicht mehr verspürt hatte. Sie sprach all seine Instinkte an, riss ihn hin und her zwischen dem Wunsch, sie zu beschützen und dem Verlangen, sie zu besitzen.

Noch nie zuvor hatte eine Frau seine Sinne so sehr angeregt wie Faith. Nicht die Mädchen, bei denen er sich in seiner Jugend die Hörner abgestoßen hatte, seine Ex-Frau Alice nicht, und die wenigen, flüchtigen Bettbekanntschaften in den letzten acht Jahren erst recht nicht.

Den ganzen Tag über hatte er kaum an etwas anderes denken können, als ihr das schwarze Kostüm auszuziehen und sie zu lieben, bis sie um Gnade bettelte.

Kopfschüttelnd kickte er einen kleinen Stein in den Straßengraben.

Vielleicht reizt sie mich auch nur so sehr, weil sie nicht so einfach zu haben ist, dachte er pragmatisch.

Es war ihm nie schwergefallen, Frauen für sich zu gewinnen, sein Aussehen und sein Charme hatten es ihm immer leicht gemacht, zu bekommen, was er wollte. Bis er seine Ex-Frau kennengelernt hatte, war er kein Kostverächter gewesen, er hatte seine Erfahrungen gesammelt, wie fast jeder Mann es in seinen jungen Jahren zu tun pflegt.

Mit vierundzwanzig hatte er Alice geheiratet, er hatte geglaubt, sie sei die Richtige und war bereit gewesen, für sie seine Freiheit aufzugeben. Allerdings hatte er sehr schnell festgestellt, dass sie weder seine Vorstellungen von Ehe und Familie teilte, noch seine Gefühle auch nur im Geringsten erwiderte. Ein Jahr später waren sie bereits geschieden, und seitdem hatte er sich auf keine feste Beziehung mehr eingelassen.

Worte wie Liebe, Zuneigung und Vertrauen hatte er aus seinem Sprachgebrauch verbannt, nie wieder würde er einen anderen Menschen so nahe an sich heranlassen, das hatte er sich geschworen.

Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, um sich zu betäuben, um zu vergessen, was Alice ihm angetan hatte. Wenn seine körperlichen Bedürfnisse überhandgenommen hatten, hatte er sich irgendwo eine Frau gesucht, die genau wie er nicht an Gefühlen, sondern lediglich an einem kurzen Vergnügen interessiert war.

Doch jetzt hatte sich plötzlich alles verändert, jetzt war da Emily, die ihn brauchte, und jetzt war da Faith, die er mehr begehrte, als es für ihn gut war.

»Ich hätte nicht hierher kommen sollen«, seufzte er leise, »aber für diese Einsicht ist es nun wohl ein bisschen zu spät.«

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