Lichterglanz und Sternenstaub
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Inhalt
Eigentlich sollte die Tänzerin Candy Williams nur für ein paar Tage ihre Freundin beim Blumengießen vertreten. Doch ein heimliches Schaumbad führt zu einer spontanen Notlüge und schon steckt sie mitten in der Rolle ihres Lebens. Anstatt eine gemütliche Weihnachtszeit zu verbringen, hat Candy plötzlich den staubtrockenen Astrophysiker Maximilian Vanderbrook am Hals. Mit mehr Herz als Verstand hangelt sie sich von einer Lüge zur nächsten, doch der scharfsinnige Max ahnt längst, dass mit der vermeintlichen »Nichte Erin« irgendetwas nicht stimmt …
Inmitten der glitzernden Weihnachtslichter New Yorks kommen Candy und Max sich näher. Doch was passiert, wenn er herausfindet, wer sie wirklich ist?
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Prolog
Als Candy Williams das vornehme Marriott Marquis Hotel am Times Square betrat, waren ihre Handflächen feucht vor Aufregung. Monatelang hatte sie für diesen Moment geprobt, hatte jede freie Minute dem Tanzen gewidmet. Nun stand sie kurz davor, Walter Berry persönlich zu treffen – den bekannten Produzenten etlicher Broadwayshows.
Irgendwie gelang es ihr trotz ihrer Nervosität, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen. Mit jedem Schritt durch die opulente Hotellobby wuchs ihre Entschlossenheit. Sie würde ihm zeigen, dass sie die ideale Besetzung für die Hauptrolle seiner neuen Show war.
Das Restaurant war ein Meer aus gedämpftem Licht und sanfter Musik. Candy gab ihre Jacke an der Garderobe ab und ließ dann den Blick über die Gäste gleiten, bis sie Walter Berry entdeckte. Er saß allein an einem Tisch am Fenster, sein Gesicht halb verdeckt von der Speisekarte.
Langsam ging sie auf ihn zu und holte dann noch einmal tief Luft. »Mr. Berry?« Ihre Stimme klang selbstbewusster, als sie sich fühlte.
Er blickte auf. »Ah, Miss Williams. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.«
Candys Magen zog sich zusammen, als Walter Berry aufstand. Er war groß und sein teurer Anzug betonte seine bullige Gestalt. Mit einem charmanten Lächeln trat er um den Tisch herum und zog ihren Stuhl zurück.
»Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte er mit einer einladenden Geste.
Als sie sich setzte, spürte sie Berrys Hand auf ihrer Schulter. Seine Finger gruben sich leicht in den Stoff ihrer Bluse, und ein unangenehmer Schauer lief ihr über den Rücken.
Die Berührung dauerte nur einen Moment, doch für Candy schien es eine Ewigkeit zu sein. Sie kämpfte gegen den Impuls an, seine Hand wegzuschieben, und zwang sich stattdessen zu einem höflichen Lächeln. In ihrem Kopf hallten die Worte ihrer Mutter wider: »Manchmal muss man die Zähne zusammenbeißen, um seine Träume zu verwirklichen.«
Berry kehrte zu seinem Platz zurück, sein Blick glitt dabei unverhohlen über Candys Körper. »Sie scheinen viel Talent und noch mehr Entschlossenheit mitzubringen. Genau so jemanden suche ich«, erklärte er und nippte an seinem Drink.
Sie unterdrückte ein Schaudern. »Danke, Mr. Berry. Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit, mit Ihnen zu sprechen.«
Ein Kellner erschien wie aus dem Nichts. Berry bestellte den teuersten Wein auf der Karte, ohne Candy nach ihren Wünschen zu fragen.
»Also«, begann er, nachdem der Ober verschwunden war, »erzählen Sie mir von sich.«
Candy holte tief Luft. Dies war ihre Chance, ihn von ihrem Talent zu überzeugen. Enthusiastisch berichtete sie von den unzähligen Trainingsstunden, von ihrer Leidenschaft für das Tanzen und Singen, und von den kleinen Engagements, die sie bisher gehabt hatte.
Allerdings hörte Walter Berry ihr kaum zu. Seine Augen wanderten immer wieder über ihren Körper, blieben an ihrem Ausschnitt hängen. »Faszinierend«, unterbrach er sie dann mitten im Satz. »Sagen Sie, Miss Williams, hier ist es doch ein wenig laut – wollen wir uns nicht vielleicht in meine Suite zurückziehen? Dort können wir uns viel ungestörter unterhalten.«
Candy blinzelte irritiert. In seine Suite? Sollte das ein Scherz sein? Man hörte ja so oft Geschichten über Produzenten und ihre »Besetzungscouch«, aber so etwas würde ihr doch nicht passieren, oder?
»Mr. Berry, ich …«, setzte sie an, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie plötzlich seine Hand auf ihrem Oberschenkel spürte.
Die Berührung brannte wie Säure durch den dünnen Stoff ihres Kleides. Übelkeit stieg in ihr auf und ihr Puls raste, während sie versuchte, ihre Fassung zu bewahren. Ihr Körper versteifte sich, unfähig zu reagieren. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, das gedämpfte Stimmengewirr des Restaurants verschwamm zu einem dumpfen Rauschen in ihren Ohren.
Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, erwachte sie aus ihrer Starre. Jetzt war es genug. Was glaubte dieser Kerl denn, mit wem er es hier zu tun hatte? Ja, sie war eine Tänzerin, doch das hieß noch lange nicht, dass er sie einfach betatschen durfte.
»Was bilden Sie sich eigentlich ein?«, rief sie erbost und sprang auf. »Ich glaube, Sie brauchen eine Abkühlung!«
Ohne zu überlegen, griff sie nach der gläsernen Blumenvase auf dem Tisch und kippte den Inhalt mit einer schwungvollen Geste über Walters Berrys Kopf. Wasser und Blumen ergossen sich über sein überraschtes Gesicht, Blütenblätter blieben in seinen Haaren hängen, sein teurer Anzug war in Sekundenschnelle durchnässt.
In derselben Sekunde flammte ein Blitzlicht auf. Irritiert sah Candy sich um und bekam einen Schreck. Überall im Restaurant hatten Gäste ihre Smartphones gezückt und filmten die Szene. Einige kicherten hinter vorgehaltener Hand, andere tuschelten aufgeregt miteinander.
O Gott. Was hatte sie bloß getan? Tränen stiegen ihr in die Augen und sie griff mit zitternden Fingern nach ihrer Handtasche. Sie musste hier raus, sofort.
»Das werden Sie bereuen!«, zischte Walter Berry ihr hinterher, während er sich das nasse Haar aus dem Gesicht strich.
Candy hörte ihn kaum. Ihre Absätze klackerten auf dem Marmorboden, als sie zur Tür eilte. Die sensationslüsternen Blicke der anderen Gäste brannten auf ihrer Haut. Nachdem sie der Garderobenfrau ihre Jacke regelrecht aus der Hand gerissen hatte, stürmte sie durch das Foyer. Ohne auf den herbeispringenden Pagen zu warten, stieß sie die schweren Glastüren auf und stolperte hinaus in die kühle Nachtluft.
Erst als sie um die Ecke gebogen war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Sie lehnte sich gegen eine raue Hauswand und schluchzte hemmungslos. Alles, wofür sie so hart gearbeitet hatte, war in einem einzigen Augenblick ruiniert worden.
Nachdem Candy sich ein wenig beruhigt hatte, machte sie sich auf den Heimweg. Bereits in der Subway begann ihr Handy ununterbrochen zu vibrieren, doch sie ignorierte es geflissentlich.
Erst als sie endlich in ihrer winzigen Wohnung angekommen war, wagte sie einen Blick auf das Display. Ihr Herz setzte für einen Moment aus. Unzählige Benachrichtigungen und verpasste Anrufe flimmerten ihr entgegen.
Mit zitternden Fingern öffnete sie die erste Nachricht. Es war ein Link zu einem Artikel mit der Schlagzeile: ›Broadway-Hoffnung übergießt Produzenten – Karriere-Selbstmord live im Restaurant!‹
Sie klickte auf den nächsten Link und sah sich selbst, wie sie Walter Berry den Blumenstrauß über den Kopf kippte. Das Video war bereits tausendfach geteilt worden.
Kommentare prasselten auf sie ein.
›Was glaubt sie, wer sie ist?‹
›So wird sie nie wieder einen Job am Broadway bekommen!‹
›Typisch verwöhnter Möchtegern-Star!‹
Candy ließ das Smartphone sinken und stieß die Luft aus. Na super. Was für ein Shitstorm, und das alles nur, weil sie sich gegen einen Typen gewehrt hatte, der sie für Freiwild hielt. Sie hatte das Richtige getan, verdammt nochmal! Dieser schmierige Kerl hatte es nicht anders verdient.
Mit großen Schritten lief sie in ihrem Apartment auf und ab. Am liebsten hätte sie die ganze Welt angeschrien, jedem Einzelnen die Wahrheit ins Gesicht gebrüllt. Doch was würde das bringen? Die Leute wollten keinen differenzierten Blick auf die Situation, sie wollten Unterhaltung, einen Skandal zum Mitfiebern. Selbst in Zeiten von #metoo schien es den meisten Menschen wichtiger zu sein, sich über eine »hysterische Möchtegern-Diva« zu amüsieren, als nach den Hintergründen zu fragen.
Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, ein Statement zu veröffentlichen und ihre Sicht der Dinge darzulegen. Doch was würde das ändern? Walter Berry hatte Connections, er war bekannt und beliebt in der Branche. Gegen sein Wort und seinen Einfluss hatte sie keine Chance.
Candy ließ sich auf ihr schmales Bett fallen und seufzte tief. All ihre Träume, all die harte Arbeit – alles umsonst. Sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte. Aber manchmal reichte es eben nicht aus, im Recht zu sein. Die Welt war nicht fair, das Broadway-Business schon gar nicht. Niemand würde ihre Version der Geschichte hören wollen, und damit war ihre Karriere beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Kapitel 1
Zwei Jahre später
Ein Gefühl der Aufregung durchflutete Candy, während sie auf der harten Holzbank saß und die anderen Tänzerinnen beobachtete. Der Warteraum des Theaters war erfüllt von nervösem Getuschel und dem Rascheln von Kleidung. Überall um sie herum streckten und dehnten sich die Mädchen, zupften an ihren Outfits oder übten noch einmal ihre Choreografien.
Sie atmete tief durch und versuchte, ihre zitternden Hände zu beruhigen. Nach dem Desaster mit Walter Berry, der ihre Karriere ruiniert hatte, war dies der x-te Versuch, eine Rolle zu bekommen. Noch immer hing ihr die Geschichte nach, ebenso wie der Klatsch, der danach verbreitet worden war, und sie ahnte, dass auch dieses Vorsprechen enden würde wie alle anderen zuvor. Doch sie wollte nicht aufgeben, und so war sie hier und bereit, sich für eine Rolle in einem Remake des Klassikers Singin’ in the Rain die Seele aus dem Leib zu tanzen.
Unauffällig musterte Candy die anderen Bewerberinnen. Einige von ihnen erkannte sie aus früheren Auditions oder Tanzklassen. Ihr Blick blieb an einem Mädchen mit feuerrotem Haar hängen, das gerade einen perfekten Spagat auf dem Boden vollführte. Candy unterdrückte ein Seufzen. Die Konkurrenz war hart.
Nervös zupfte sie an ihrem hellblauen Kleid, das sie sich speziell für diesen Anlass von ihrer Freundin Harper geliehen hatte – eine Hommage an Debbie Reynolds’ ikonisches Outfit aus dem Originalfilm. Ob es zu viel des Guten war? Vielleicht hätten die schwarzen Leggins und das schlichte Top doch besser gepasst?
»Nächste bitte!«, rief eine Stimme von der Tür her, und Candy zuckte zusammen. Ein kurzer Schreck durchfuhr sie, als ihr klar wurde, dass sie an der Reihe war.
Sie holte tief Luft und erhob sich. Ihre Finger zitterten leicht, als sie dem Assistenten ihre CD reichte. Mit weichen Knien trat sie auf die Bühne und nahm ihre Ausgangsposition ein. Das grelle Licht ließ sie blinzeln, und für einen Moment verschwamm alles vor ihren Augen.
Dann erklangen die ersten Takte von Good Morning, und Candy spürte, wie die Musik von ihr Besitz ergriff. Mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen begann sie zu tanzen. Ihre Bewegungen waren präzise und voller Energie, während sie über die Bühne wirbelte. Sie gab alles, jeder Schritt, jede Drehung war perfekt einstudiert. Doch als sie einen kurzen Blick in Richtung Jury warf, sah sie nur ausdruckslose Gesichter. Der Regisseur kritzelte auf seinem Notizblock herum, ohne aufzublicken. Der Produzent flüsterte der Choreografin etwas ins Ohr, woraufhin diese kaum merklich nickte.
Candys Selbstbewusstsein begann zu bröckeln. Sie kämpfte gegen das Gefühl der Entmutigung an und zwang sich, weiterzumachen. Ihre Bewegungen wurden größer, energischer, als könnte sie durch pure Willenskraft die Aufmerksamkeit der Jury gewinnen.
Als die letzten Takte verklangen, stand Candy keuchend und mit hochrotem Kopf da. Ihre Brust hob und senkte sich schnell, während sie versuchte, ihr Lächeln aufrechtzuerhalten. Sie suchte in den Gesichtern der Jury nach einem Anzeichen von Anerkennung, einem ermunternden Nicken oder vielleicht sogar einem zaghaften Applaus. Doch nichts dergleichen geschah.
Der Regisseur blickte kurz von seinen Notizen auf und nickte ihr knapp zu. Die Choreografin räusperte sich und sagte mit emotionsloser Stimme: »Danke, wir melden uns.«
Candy biss sich auf die Lippe. Diese Worte waren ihr nur allzu vertraut. Es war die höfliche Art zu sagen: »Tut uns leid, aber du bist raus.« Sie schluckte und zwang sich zu einem tapferen Lächeln. »Vielen Dank für die Gelegenheit«, brachte sie mühsam hervor, ehe sie mit schnellen Schritten die Bühne verließ.
Im Vorraum blieb sie einen Moment stehen. Wie viele Male hatte sie diese Worte schon gehört? »Danke, wir melden uns.« Doch niemand meldete sich je. Was musste sie noch tun, um endlich eine faire Chance zu bekommen?
Sie zwang sich, die Enttäuschung beiseitezuschieben, und sich stattdessen auf das Positive zu konzentrieren. Ihre Performance war gut gewesen – nein, sie war verdammt gut gewesen! Sie hatte alles gegeben, jeder Schritt war präzise, jede Bewegung voller Leidenschaft. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Candys Lippen. Ja, sie war gut gewesen, und das war alles, was zählte, zumindest für den Moment.
Nachdem sie sich umgezogen hatte, nahm sie ihr Handy aus der Tasche, um ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Harper anzurufen und ihr zu erzählen, wie es gelaufen war. Als sie das Gerät einschaltete, sah sie auf dem Display fünf verpasste Anrufe und drei Nachrichten – alle von Harper. Stirnrunzelnd tippte sie auf ihren Namen. Das Freizeichen ertönte, einmal, zweimal, dreimal, dann sprang die Mailbox an.
»Hey«, sagte Candy, nachdem der Signalton verklungen war, »ich bin’s. Was gibt’s denn so Dringendes? Ruf mich zurück, okay?«
Sie beendete den Anruf und starrte auf das Display. Was war los? Harper hinterließ sonst nie so viele Nachrichten. Sie öffnete den Nachrichtenverlauf.
Candy, wo steckst du? Ruf mich sofort an!
Es ist wirklich wichtig. Bitte melde dich!
Okay, du bist wohl noch im Vorsprechen. Ich warte dann zuhause auf dich.
Candy steckte das Handy wieder ein, zog ihre Jacke über, nickte den anderen Tänzerinnen zu und verließ den Raum. Ihre Schritte hallten dumpf durch den leeren Flur, während sie auf den Ausgang zusteuerte. In ihrem Inneren tobte immer noch ein Sturm aus Wut und Enttäuschung. Sie ballte die Fäuste und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Dieser verdammte Skandal! Er verfolgte sie wie ein hartnäckiger Schatten, der sich einfach nicht abschütteln ließ. Hätte sie nur …
Candy schüttelte energisch den Kopf. Nein, sie bereute nichts. Walter Berry hatte bekommen, was er verdiente. Trotzdem nagte der Gedanke an ihr, dass ihre Chancen ohne diesen Vorfall wesentlich besser gewesen wären.
Mit zitternden Fingern öffnete sie die schwere Eingangstür und trat hinaus in den prasselnden Regen. Der glänzende Asphalt reflektierte die bunte Neonreklame des Theaters und vermischte sie mit der fluoreszierenden Weihnachtsbeleuchtung der umliegenden Gebäude. Vorbeifahrende Autos wirbelten Wasser auf, aus den Gullys stiegen Dampfwolken hoch.
Candy zog die Kapuze ihrer Teddyjacke über den Kopf und beeilte sich, zur nächsten Subway zu gelangen. Wenige Minuten später betrat sie den überfüllten Bahnsteig der Station am Times Square. Es dauerte nicht lange, bis ein Zug der Linie 1 in Richtung South Ferry einfuhr. Zusammen mit einem Pulk anderer Fahrgäste schob sie sich in einen der Waggons, und wie durch ein Wunder gelang es ihr, einen Sitzplatz zu ergattern.
Sie nahm ihr Handy heraus und versuchte noch einmal, Harper zu erreichen, doch es meldete sich erneut die Mailbox.
»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sprach sie mit gedämpfter Stimme. »Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes passiert. Bis gleich.«
Unruhig ließ sie ihren Blick durch den Waggon schweifen, wo sich ihr das übliche Bild bot. Die meisten Passagiere starrten mit gesenkten Köpfen auf ihre Smartphones. Ein älterer Herr mit grauem Schnurrbart blätterte in einer Zeitung und murmelte ab und zu etwas vor sich hin, als ob er die Weltprobleme zu lösen versuchte. In einer Ecke knutschte ein Pärchen miteinander herum, als gäbe es kein Morgen mehr, zwei junge Mädchen sahen zu und kicherten leise.
In der Luft lag eine Geruchsmischung von feuchter Kleidung, Parfüm, Schweiß, Knoblauch und Alkohol, die durch jedes Öffnen und Schließen der Türen zu Candy herangetragen wurde.
An der 18th Street stieg ein alter Mann mit Gehstock ein, der sichtlich Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten.
Candy stand auf und deutete auf ihren Platz. »Setzen Sie sich.«
Sie half ihm, bis sie sicher war, dass er nicht umfallen konnte, und er schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
Als die U-Bahn an der Christopher Street Station hielt, stieg sie aus, eilte die 7th Avenue hinunter und bog dann in die Bleecker Street ein. Es dauerte nicht lange, bis sie die Leroy Street erreichte und das Haus mit der Nummer 15 betrat.
Drinnen roch es nach Kohl; vermutlich kochte Mrs. Podlaszly aus dem Erdgeschoss wieder einmal Bigos. Candy stieg die Treppe hinauf, begleitet von leisen Saxophonklängen, die immer lauter wurden, je mehr sie sich der zweiten Etage näherte.
Als sie die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss, schallten ihr die jazzigen Klänge in voller Lautstärke entgegen, und sie lächelte, als sie Harper sah, die mit ihrem Saxophon wild improvisierend durch das Apartment tanzte.
Wobei die Bezeichnung »Apartment« schlichtweg übertrieben war. Es handelte sich mehr um eine Schuhschachtel, die aus einem länglichen, schmalen Raum mit Schlafecke, Kochstelle sowie einem winzigen Bad bestand. Candy musste unwillkürlich grinsen, als sie sah, wie Harper es schaffte, in diesem klitzekleinen Zimmer eine ganze Jazzband zu ersetzen.
Als die Freundin sie bemerkte, stellte sie das Instrument in den Halter und eilte auf sie zu. »Endlich. Ich dachte schon, du kommst heute gar nicht mehr nach Hause.«
»Und du trötest hier in aller Ruhe auf deinem Saxophon herum, nachdem du mich mit deinen Nachrichten verrückt gemacht hast«, erwiderte Candy vorwurfsvoll, während sie ihre Jacke auszog. »Aber das erklärt zumindest, weshalb du nicht an dein Telefon gegangen bist.«
Schuldbewusst hob Harper die Schultern. »Sorry, du weißt doch, dass ich nichts höre, wenn ich spiele. – Wie war dein Vorsprechen?«
»Wie immer.« Candy verzog das Gesicht. »Danke, wir melden uns bei Ihnen«, zitierte sie. Dann schüttelte sie den Kopf. »Egal, es wird andere Chancen geben. Verrate du mir jetzt erstmal, was so wichtig ist, dass du mir mit deinen Nachrichten beinahe einen Herzinfarkt verpasst hättest?«
Ein Strahlen glitt über Harpers Gesicht. »Stell dir vor, ich fliege morgen früh für zehn Tage in die Schweiz, um an einer Masterclass beim Montreux Jazz Festival teilzunehmen. Ein Teilnehmer ist kurzfristig abgesprungen und ich habe seinen Platz bekommen.«
»Was? Das ist ja der Wahnsinn!« Stürmisch fiel Candy der Freundin um den Hals. »Ich freue mich so für dich. Das ist eine einmalige Gelegenheit.«
»Und was für eine. Ich werde dort Kontakte zu einigen der besten Jazz-Musiker der Welt knüpfen! Das könnte meine Karriere auf ein ganz neues Level heben.« Harper löste sich aus der Umarmung und seufzte. »Allerdings gibt es da ein kleines Problem.«
Candy runzelte die Stirn. »Welches?«
»Eigentlich sollte ich ab morgen wieder die Wohnung von Professorin Ashman hüten. Theoretisch könnte ich das bei der Agentur canceln, aber sie werden so kurzfristig keinen Ersatz für mich finden, und das könnte unter Umständen bedeuten, dass ich den Job dort verliere.«
»Also möchtest du, dass ich für dich einspringe«, schlussfolgerte Candy.
»Nur, wenn es dir nichts ausmacht. Es ist kein großes Ding, du musst nur ein paar Mal vorbeigehen, den Briefkasten leeren, die Blumen gießen und nach dem Rechten sehen.«
»Okay«, stimmte Candy nach kurzem Überlegen zu, »ist gebongt.«
Erleichtert fiel Harper ihr um den Hals. »Danke, danke, danke – du bist die Beste.« Dann ließ sie Candy wieder los und deutete auf den kleinen Tisch. »Dort liegen die Schlüssel und meine Karte von der Agentur. Die Concierges sehen nicht so genau hin, wenn du beim Vorzeigen mein Bild mit dem Daumen abdeckst, lassen sie dich ohne Probleme durch.«
Candy riss die Augen auf. »Was? Ich dachte, ich soll dich vertreten?«
»Ja, aber inoffiziell. Mir wäre es lieber, wenn niemand etwas davon erfährt. Die Agentur prüft jeden Housesitter sorgfältig, und da sie dich nicht kennen, würden sie dich auch nicht als Vertretung zulassen.«
»Ich weiß nicht« Candy seufzte und schüttelte den Kopf. »Das gefällt mir gar nicht.«
Harper setzte eine flehende Miene auf. »Bitte, lass mich jetzt nicht hängen. Es wird keinerlei Probleme geben, das versichere ich dir, und außerdem ist es doch nur für ein paar Tage.«
»Zehn Tage«, murmelte Candy, »zehn Tage, in denen alles Mögliche passieren kann.«
Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe, während sie Harper ansah. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie wusste, wie wichtig diese Chance für ihre Freundin war, doch der Gedanke an solch eine Schwindelei bereitete ihr Unbehagen.
»Ich verstehe ja, dass du diese Gelegenheit nicht verpassen willst«, fügte sie hinzu, »aber ist dir klar, was du da von mir verlangst? Das ist Betrug. Was, wenn jemand dahinterkommt? Was, wenn etwas schiefgeht? Wenn ich einen Fehler mache oder jemand misstrauisch wird? Und was ist mit der Agentur? Was, wenn die anrufen und nach dir fragen?«
»Dann sagst du einfach, du bist ich. Kein großes Ding.«
»Kein großes Ding?« Candy hob die Augenbrauen. »Harper, das ist Identitätsbetrug, unbefugtes Betreten und was weiß ich noch alles. Wenn das rauskommt, könnte das ernsthafte Konsequenzen haben – für uns beide.«
Harper ließ die Schultern sinken. »Ich weiß. Aber diese Chance bedeutet mir so viel, ich kann sie nicht einfach sausen lassen. Und den Housesitter-Job darf ich auf keinen Fall verlieren, sonst weiß ich nicht, wie ich die Miete hier bezahlen soll.«
O Mann. Candy biss sich auf die Lippe. Ihr Verstand riet ihr, abzulehnen, aber ihr Herz sprach eine andere Sprache. Harper war ihre beste Freundin und würde ihren rechten Arm für sie geben. Es wäre gemein, sie jetzt hängen zu lassen.
Sie kämpfte noch einen Moment mit sich, dann hob sie die Hände. »Also schön, ich bin dabei. Vermutlich hast du recht und ich mache mir viel zu viele Gedanken. Was soll beim Blumengießen schließlich schon groß schiefgehen?«
***
Müde verließ Maximilian Vanderbrook sein Büro in der astronomischen Fakultät an der Columbia University. Ein weiterer Tag voller Vorlesungen, Besprechungen und endloser E-Mails lag hinter ihm. Auf dem Weg zum Ausgang der Pupin Hall nickten ihm Kollegen zu, doch er erwiderte die Grüße nur flüchtig.
Draußen wurde er von einem kalten Nieselregen empfangen. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und setzte sich in Bewegung. Die Straßen pulsierten trotz des ungemütlichen Wetters vor weihnachtlicher Energie. Überall blinkten und funkelten Lichterketten, an einer Straßenecke spielte ein Geiger White Christmas, der Geruch von gebrannten Mandeln lag in der Luft.
Max nahm jedoch kaum etwas davon wahr, seine Gedanken kreisten bereits um das nächste Kapitel seines Manuskripts. Er beschleunigte seine Schritte, bog in den Riverside Drive ein und betrat wenig später das Apartmenthaus mit der Nummer 450, dessen elegante Fassade typisch für die Beaux-Arts-Architektur war.
Drinnen nickte der Portier ihm freundlich zu. »Guten Abend, Professor Vanderbrook. Ein scheußliches Wetter, nicht wahr?«
»Das können Sie laut sagen, Robert«, erwiderte Max und steuerte auf den Fahrstuhl zu, der sich im hinteren Bereich der Lobby befand.
Die Fahrt in die zehnte Etage dauerte nur wenige Sekunden. Der dicke Teppich im Flur dämpfte Max’ Schritte, als er auf die Tür mit der Nummer 10B zuging.
In seiner Wohnung angekommen, ließ er seine Aktentasche auf den Boden gleiten und hängte seinen nassen Mantel an den Haken. Er streifte seine Schuhe ab und betrat die Küche, wo er die Kaffeemaschine füllte. Während das Gerät leise blubbernd seinen Dienst verrichtete, trat er an die bodentiefen Fenster im Wohnzimmer und genoss den Blick auf den Hudson River, der in der Dunkelheit still dahinfloss. Die Promenade entlang des Riverside Parks war schwach beleuchtet, die Lichter von New Jersey auf der anderen Seite des Flusses schimmerten verschwommen durch den Regenschleier hindurch.
Er genoss kurz die Ruhe des Augenblicks, dann wandte er sich ab und kehrte in die Küche zurück. Nachdem er einen großen Becher mit der Aufschrift ›Astrophysicists do it with a Big Bang‹ mit Kaffee gefüllt hatte, ging er hinüber in sein Arbeitszimmer. Ohne Umschweife nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz, stellte den Kaffeebecher ab, fuhr seinen Laptop hoch und griff nach seiner Lesebrille. Die Worte begannen, durch seinen Kopf zu fließen, seine Finger flogen über die Tastatur.
»Die Suche nach erdähnlichen Planeten in der bewohnbaren Zone anderer Sternensysteme …«
Max vertiefte sich in seine Arbeit, die Faszination für die Weiten des Universums ließ ihn alles um sich herum vergessen.
Plötzlich durchbrach das Summen seines Handys die Stille. Irritiert blinzelte er und brauchte einen Moment, um in die Realität zurückzufinden. Nach einem kurzen Blick auf das Display seufzte er leise und nahm das Gespräch an. »Hallo Mom.«
»Maxi, mein Schatz!« Die vertraute Stimme seiner Mutter klang warm und liebevoll. »Wie geht es dir? Ich hoffe, ich störe dich nicht bei der Arbeit?«
»Nein, nein«, log er. »Alles bestens. Wie geht es dir?«
Sie plauderten ein wenig über dies und das, bis Evelyn Vanderbrook schließlich zur Sache kam. »Liebling, ich wollte fragen, ob wir uns vor Weihnachten noch sehen? Dein Vater und ich würden uns sehr freuen.«
Max zögerte. »Ich weiß nicht«, versuchte er auszuweichen. »Ich habe gerade ziemlich viel um die Ohren. Diese Veröffentlichung, du weißt schon …«
»Ach Maxi.« Seine Mutter klang enttäuscht. »Du arbeitest zu viel. Es ist doch Weihnachten, und wir haben uns schon so lange nicht gesehen.«
Max rieb sich die Nasenwurzel. »Na gut«, lenkte er ein. »Ich schaue mal, wann es passt.«
Er blätterte durch seinen Terminkalender und schlug dann den 17. Dezember vor, in der stillen Hoffnung, dass es vielleicht nicht klappen würde.
»Das ist prima«, erwiderte seine Mutter zu seiner Enttäuschung jedoch und fügte voller Freude hinzu: »Wir sind nämlich draußen in den Hamptons, und du könntest über Nacht bleiben, dann haben wir mehr Zeit füreinander.«
Max verzog das Gesicht. Am liebsten hätte er einen Rückzieher gemacht. Weihnachten in den Hamptons bedeutete immer zu viel Zeit mit seinem Vater. Zu viel Zeit, um an alte Wunden zu denken. Doch er wusste, wie glücklich seine Mutter stets war, wenn sie ihn sah, und brachte es nicht fertig, sie zu enttäuschen.
»In Ordnung«, stimmte er widerwillig zu, »ich komme am 17. nach East Hampton raus und übernachte bei euch.«
»Wunderbar!« Die Freude in Evelyns Stimme war nicht zu überhören. »Wir freuen uns so sehr, dich zu sehen. Ich werde dein Lieblingsgericht kochen und wir machen uns eine schöne Zeit.«
Sie plauderten noch einen Moment miteinander, dann verabschiedeten sie sich.
Als Max gerade den Termin in seinem Kalender eingetragen hatte, klingelte es an der Tür.
Genervt ließ er den Stift fallen und runzelte die Stirn. Wer war denn das jetzt? Er erwartete niemanden, und Überraschungsbesuche waren ihm ein Gräuel. Widerwillig ging er zur Tür, öffnete und hielt überrascht inne.
Vor ihm stand Professorin Ashman, seine Nachbarin und Vorgesetzte. Ihr sonst so strenges Gesicht zeigte ein ungewohntes Lächeln. »Guten Abend, Maximilian. Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit für mich?«
»Professorin Ashman.« Max überlegte kurz, ob er sie hereinbitten sollte, entschied sich dann aber dagegen. Sein Manuskript wartete, und je eher er die ungebetene Besucherin wieder loswurde, desto besser. Er zwang sich zu einem höflichen Nicken. »Natürlich. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Sie hielt ihm einen Schlüssel entgegen. »Ich habe eine Bitte an Sie. Wie Sie ja wissen, werde ich morgen verreisen und erst an Silvester zurückkehren. Dummerweise hat aber meine Nichte Erin gerade eben spontan ihren Besuch angekündigt. Sie wird am Samstag eintreffen und für eine Weile bleiben. Ich wollte sie nicht enttäuschen, also habe ich ihr angeboten, dass sie trotz meiner Abwesenheit herkommen und in meinem Apartment wohnen kann. Damit Erin sich nicht so ganz einsam und verloren fühlt, wollte ich Sie bitten, ein Auge auf sie zu haben, da Sie ja quasi direkt nebenan sind.«
Babysitter spielen? Max’ Magen verkrampfte sich. Das passte ihm gar nicht in den Kram.
»Erin studiert Archäologie und möchte sich einige Museen hier anschauen«, fuhr Lydia Ashman unbeirrt fort. »Sie wissen ja, dass New York ein gefährliches Pflaster für junge Frauen sein kann, und ich würde sie nur ungern ganz sich selbst überlassen. Meine gesamte Familie lebt wie Erin in Chicago, und ich habe hier sonst niemanden, dem ich wirklich vertrauen kann.«
Max’ Gedanken rasten. Er wusste, wie wichtig gute Beziehungen zu seiner Vorgesetzten waren. Die Stelle als Professor an der Columbia hatte er noch nicht so lange inne, und als Leiterin des Fachbereichs für Astrophysik hatte Professorin Ashman einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf seine weitere Karriere. Sie hatte erst kürzlich angedeutet, dass sie ihn als künftigen Vice Chair favorisierte – doch sollte er sich davon wirklich beeinflussen lassen?
»Ich weiß, dass Sie viel um die Ohren haben, aber Sie haben sich in den letzten Monaten als jemand erwiesen, auf den man sich verlassen kann, und das gibt mir einfach ein beruhigendes Gefühl. Außerdem ist es ja nur für ein paar Tage, und Erin wird sich bestimmt freuen, Sie persönlich kennenzulernen – sie hat jede Folge ihrer Dokumentarserien verschlungen.«
Max fühlte regelrecht, wie sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Ablehnen wäre unklug, aber das bedeutete, dass seine ohnehin schon knappen freien Abende dahin wären. Andererseits konnte er kaum Nein sagen, ohne dabei wie ein herzloser Egoist zu wirken.
Nachdem er noch eine Weile mit sich gehadert hatte, nickte er widerwillig. »In Ordnung, ich werde mich um Ihre Nichte kümmern.«
»Ausgezeichnet!« Lydia Ashmann drückte ihm den Schlüssel in die Hand. »Sie sind ein Schatz, Maximilian. Ich wusste, ich kann auf Sie zählen.«
Als sie sich verabschiedet hatte, schloss Max die Tür und lehnte sich dagegen. Was hatte er sich da nur eingebrockt? Er war viel zu gutmütig. Warum konnte er einfach nicht Nein sagen? Frustriert starrte er auf den Schlüssel in seiner Hand und seufzte. Seine Pläne für die nächsten Wochen lösten sich in Luft auf.
Nicht, dass er viel vorgehabt hätte. Wenn man von den diversen Weihnachtsfeiern absah, bei denen er sich aus beruflichen Gründen blicken lassen musste, und einem kleinen Umtrunk, zu dem er sich im Gegenzug verpflichtet fühlte, hatte er nichts mit Weihnachten am Hut. Es war nicht so, dass er die Feiertage hasste, doch er hatte auch keinen gefühlsmäßigen Bezug dazu. Stattdessen wollte er lieber an seinem Manuskript arbeiten, aber das konnte er jetzt wohl abhaken.
Max legte den Schlüssel auf die Ablage neben der Tür und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Dort ließ er sich in seinen Sessel fallen, rieb sich müde die Augen und überlegte.
Diese Nichte studierte, also war sie wohl kein kleines Kind, das rund um die Uhr Betreuung brauchte. Er würde sie zu ein oder zwei der Weihnachtsfeiern bei Kollegen mitnehmen, einen Museumsbesuch mit ihr absolvieren, und die restliche Zeit konnte sie sich bestimmt selbst vertreiben. So hätte er seine Pflicht erfüllt und mit etwas Glück würde er sie danach kaum noch zu Gesicht bekommen.
Zufrieden vertiefte er sich wieder in sein Manuskript. Ein paar Tage würde er wohl irgendwie überleben, und vielleicht wurde die ganze Sache ja gar nicht so schlimm, wie er befürchtete.
Kapitel 2
Den Donnerstagnachmittag verbrachte Candy wie gewohnt in der Harmony Dance Academy, wo sie Ballettunterricht für Kinder gab. Anschließend fuhr sie zum Riverside Drive, wo sie sich wie versprochen um das Apartment von Professorin Ashman kümmern wollte.
Sie wusste, dass die Gegend um den Riverside Park eine der besseren Adressen im Big Apple war, dennoch weiteten sich ihre Augen, als sie das prächtige Haus mit der imposanten Fassade sah. Mit einem fast ehrfürchtigen Zögern trat sie durch die von zwei Säulen flankierte Tür in den Vorraum und wandte sich den Briefkästen zu, die rechter Hand in der Wand eingelassen waren. Sie suchte nach Mrs. Ashmans Namen, öffnete das entsprechende Fach und nahm einen kleinen Stapel Briefe heraus.
Dann zog sie Harpers Agenturausweis aus der Jackentasche und holte tief Luft. Hoffentlich ging das alles gut.
Nervös betrat sie das Foyer und trat auf den Concierge zu, dabei rief sie im Geiste noch einmal ab, was Harper ihr über die Portiers erzählt hatte.
Frühmorgens bis Mittags: Vincent, ein älterer, sehr netter Mann. Mittags bis Abends: Robert, jung, ein wenig nerdig, aber hilfsbereit. Nachts: Tom, ehemaliger Boxer mit harter Schale und weichem Kern.
Sie setzte ein Lächeln auf und trat an das Pult. »Hi, Sie müssen Robert sein«, sagte sie, während sie den Ausweis hochhielt, dessen Bild sie wie besprochen mit dem Daumen abdeckte. »Ich bin Candy Williams und vertrete Harper Campbell. Sie sollte sich um die Wohnung von Professorin Ashman kümmern, musste aber kurzfristig verreisen.«
Wie die Freundin vorhergesagt hatte, warf Robert nur einen flüchtigen Blick auf die türkisfarbene Kennkarte und nickte. »Alles klar, dann setze ich Ihren Namen auf die Liste. Schlüssel haben Sie?«
Candy klimperte mit dem Schlüsselbund in ihrer Hand. »Ja, ich bin bestens ausgestattet.«
Ein leichtes Grinsen zog über Roberts Gesicht. »Na, dann viel Spaß beim Blumengießen. Apartment 10A, zehnte Etage.«
Erleichtert bedankte sie sich und strebte mit raschen Schritten auf den Fahrstuhl im hinteren Bereich zu.
Als sie wenig später die Tür zu Mrs. Ashmans Wohnung aufschloss, klopfte ihr Herz ein bisschen schneller. Für einen Moment fühlte sie sich wie ein ungebetener Eindringling, schob diesen Gedanken dann aber sofort wieder beiseite. Sie legte die Post neben dem Telefon auf einem kleinen Tischchen im Eingangsbereich ab und sah sich neugierig in dem eleganten Wohnzimmer um. Die cremefarbenen Tapeten und die sanften Pastelltöne der Einrichtung strahlten eine Wärme aus, die sie nicht erwartet hatte. Vorsichtig streifte sie mit den Fingerspitzen über den weichen Stoff der Couch, dann fiel ihr Blick auf die Wand neben dem Kamin. Dort hingen mehrere gerahmte Urkunden und Auszeichnungen.
Interessiert trat Candy näher heran und las die Inschriften. »Hervorragende Leistungen in der Astrophysik. – Innovativste Forschungsarbeit des Jahres. – Preis für exzellente Lehre.« Beeindruckt stieß sie einen leisen Pfiff aus.
Auf dem Kaminsims standen verschiedene Fotos in silbernen Rahmen. Candy betrachtete sie aufmerksam. Auf einem Bild war eine Frau – vermutlich Mrs. Ashman – in einer festlichen Robe zu sehen, wie sie eine Auszeichnung entgegennahm. Sie war schätzungsweise Anfang fünfzig, hatte das Haar streng zurückgekämmt und ihre Augen hinter der dicken Brille blickten feierlich in die Kamera. Ein anderes Bild zeigte sie ebenso ernst inmitten einer Gruppe von Studenten.
Plötzlich durchbrach das schrille Läuten des Telefons die Stille. Candy zuckte erschrocken zusammen und blieb wie angewurzelt stehen, unsicher, ob sie rangehen sollte. Nach dem vierten Klingeln sprang zu ihrer Erleichterung der Anrufbeantworter an.
»Hi Tante Lydia, ich bin’s, Erin«, ertönte eine Frauenstimme. »Es tut mir sehr leid, aber ich kann doch nicht kommen. Mein Prof hat mich für ein wichtiges Projekt eingeteilt. Stell dir vor, ich darf bis zum Februar mit an den Amazonas und mitten im Regenwald nach Überresten alter indigener Zivilisationen suchen. Das konnte ich mir natürlich nicht entgehen lassen, und da du ja sowieso nicht zuhause bist, habe ich zugesagt. Vielleicht klappt es ja ein anderes Mal mit meinem Besuch. Byebye.«
Puh. Candy stieß den Atem aus, den sie unbewusst angehalten hatte. Harper hatte gar nichts von einer Besucherin erwähnt – das wäre ja ein schönes Desaster geworden. Aber zum Glück hatte sich dieses Thema jetzt ja wohl erledigt.
Sie begann, die Grünpflanzen und exotischen Blumen zu gießen, die das Wohnzimmer schmückten, und entdeckte dabei eine hochmoderne Stereoanlage, die sie magisch anzog. Nach kurzem Zögern schaltete sie das Gerät ein und lächelte, als Silver Bells von Dean Martin erklang. Im Walzertakt durch den Raum schwebend sang sie den Text mit und versorgte die letzten Blumen. Dann beschloss sie, einen Rundgang zu machen, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war.
Nacheinander schritt sie durch die offene Küche, das angrenzende Esszimmer und ein kleines Bad. Dann betrat sie das Schlafzimmer mit seinem riesigen, begehbaren Kleiderschrank und als sie die Tür zum Master-Badezimmer öffnete, stieß sie einen erstaunten Laut aus. Die ganze Wohnung war groß und elegant eingerichtet, doch das Bad war geradezu gigantisch, mit glänzendem Marmorboden, der im Licht schimmerte und einer einladenden, freistehenden Badewanne.
O Gott. Was würde sie dafür geben, sich jetzt in diese Wanne legen zu können. In ihrem Schuhkarton befand sich nur eine winzige Nasszelle, die aus einer Handbrause, einem Abfluss im Boden, einem Waschbecken und einem WC bestand. Ihr letztes Schaumbad lag so lange zurück, dass sie gar nicht mehr wusste, ob es überhaupt in diesem Jahrhundert gewesen war.
Sie strich mit der Hand über das makellose Porzellan und seufzte. Nein, das konnte sie nicht tun.
Entschlossen drehte sie sich um und ging zur Tür. Dort warf sie einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Badewanne und die Versuchung war zurück. Ganz kurz nur, schoss es ihr durch den Kopf. Ein schnelles Bad würde niemandem wehtun, und wenn sie anschließend alles wieder saubermachte, würde auch niemand etwas davon bemerken.
Einen Moment lang kämpfte ihre Vernunft gegen die Verlockung, dann kehrte sie zur Wanne zurück, steckte den Stöpsel ein, drehte die Hähne auf und gab ein paar Tropfen Badeöl aus einem teuer aussehenden Glasflakon in den Wasserstrahl. Sie zog sich aus und flitzte einer spontanen Eingebung folgend ins Wohnzimmer, wo sie die Musik lauter stellte, damit sie auch im Badezimmer zu hören war. Sekunden später ließ sie sich mit einem zufriedenen Seufzer in das warme Wasser gleiten und schloss die Augen.
Als Candy irgendwann aus der Wanne stieg, hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Es musste jedoch eine geraume Weile gewesen sein, denn sie hatte mehrmals heißes Wasser nachfüllen müssen, und ihre Handflächen waren so schrumpelig wie die eines Neugeborenen.
Egal, dachte sie, während sie sich in ein überdimensionales, flauschiges Handtuch wickelte. Sie musste heute nicht in den Club, also hatte sie alle Zeit der Welt. Ihre nassen Haare ausbürstend schlenderte sie ins Wohnzimmer, wo gerade die Weather Girls mit ihrem Song Dear Santa – Bring me a man this Christmas aus den Lautsprechern dröhnten.
Spontan hielt sie die Haarbürste wie ein Mikrofon vor den Mund, sang voller Inbrunst mit und tanzte dabei ausgelassen durch den Raum. Sie ließ die Hüften kreisen, vollführte wilde Sprünge und wirbelnde Pirouetten, bis ihr Blick bei einer besonders enthusiastischen Drehung plötzlich auf einen Mann traf, der in der Tür stand und sie mit offenem Mund anstarrte.
»Bring me a maaaaaaaan …« Der Songtext erstarb auf Candys Lippen.
Sie versuchte, abzubremsen, verlor jedoch das Gleichgewicht und fiel mit einem erschrockenen Quietschen zu Boden. Dabei hatte sie immer noch so viel Schwung drauf, dass sie ein ganzes Stück über den blank polierten Parkettboden schlitterte – genau vor die Füße des Unbekannten.
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