Küss mich, Santa

Ebook & Taschenbuch

Sienna O’Reilly lässt sich auf der Firmenweihnachtsfeier von einem unliebsamen Kollegen zu einem Wetttrinken provozieren. Völlig betrunken flirtet sie heftig mit Santa Claus und strippt anschließend auf einem Tisch – bis zum völligen Blackout. Als sie am anderen Morgen in einem Hotelzimmer erwacht, findet sie zu ihrem Entsetzen nicht nur ihre Kleidung, sondern auch Santas Jacke vor dem Bett. Zu allem Überfluss wird sie am nächsten Arbeitstag auch noch zu Grayson Sterling bestellt, dem attraktiven Firmenboss, der von ihrem Benehmen offensichtlich nicht gerade begeistert ist …

Küss mich, Santa

1

Gelangweilt knabberte Sienna O’Reilly an einem Zimt-Haselnuss-Plätzchen, während sie einen unauffälligen Blick auf ihre Armbanduhr warf. Sie seufzte. Es war gerade mal acht Uhr und sie hatte jetzt schon keine Lust mehr. Doch es war noch zu früh, um die alljährliche Weihnachtsfeier, zu der die wichtigsten Kunden der Sterling Technologies eingeladen waren, zu verlassen. Bevor Santa Claus nicht seine Geschenke verteilt hatte, war es unmöglich, zu verschwinden. Außerdem wurde von den Mitarbeitern der Kundenbetreuung erwartet, dass sie vollzählig anwesend waren.

Nachdem sie einige der Kunden, die sie persönlich kannte, begrüßt hatte, ließ Sienna sich an einem der Tische nieder und schaute sich in dem festlich dekorierten Saal des Sterling Buildings um.

Lange Girlanden aus Tannenzweigen hingen an den Wänden und an der Decke. Daran waren unzählige glitzernde Kugeln, Sterne und sonstiger Weihnachtsschmuck befestigt, und natürlich fehlten auch die obligatorischen Mistelzweige nicht. Die Tische waren mit bunten Lichterketten geschmückt, dazwischen standen überall liebevoll angerichtete Teller mit Plätzchen und Lebkuchen. Hinten im Raum war ein Podest aufgebaut, welches als kleine Bühne diente, auf der später Santa Claus seine Geschenke verteilen würde. Daneben prangte ein riesiger Weihnachtsbaum, der ebenso festlich herausgeputzt war wie der Rest des Saals.

Man hatte sich sehr viel Mühe gegeben, doch trotzdem fühlte Sienna sich nicht wohl. Sie liebte Weihnachten, diese offiziellen Anlässe waren ihr jedoch ein Gräuel. Sie hasste diese aufgesetzte Fröhlichkeit wie die Pest und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie diesen Freitagabend lieber zu Hause mit einem Buch verbracht. Alle gaben sich zuvorkommend und nett, dabei hätten die meisten Kollegen sich nichts mehr gewünscht, als dass der unliebsame Konkurrent vom Schreibtisch gegenüber an einem Häppchen vom Büfett ersticken würde.

So auch Vincent Burke, der Mann, mit dem sie sich seit zwei Jahren das Büro teilte, und der keine Gelegenheit ausließ, ihr das Leben bei der Softwarefirma zu verleiden.

»Sienna«, tönte er jetzt lautstark, »willst du dich den ganzen Abend an deinem Wasser festhalten? Naja, kleine Mädchen wie du vertragen vermutlich nichts Stärkeres.«

Die umsitzenden Kollegen lachten und Sienna hätte Vincent am liebsten ihr Getränk ins Gesicht geschüttet.

»Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten muss ich nicht beweisen, was ich in der Hose habe«, gab sie stattdessen bissig zurück, was ihr die anerkennenden Blicke einiger Mitarbeiterinnen einbrachte.

Vincent Burke, 46 Jahre und ledig, war als Schürzenjäger bekannt. Es gab keine Frau in der Firma, bei der er sein Glück nicht bereits versucht hätte, Sienna eingeschlossen. Anfangs, als sie neu in die Kundenbetreuung gekommen war, hatten sie sich ganz gut verstanden. Bis zu dem Tag, als er ihr an den Hintern gegrapscht hatte. Sie hatte sich revanchiert, indem sie ihm das Knie in seine Kronjuwelen rammte. Seitdem war er seltsamerweise nicht mehr so gut auf sie zu sprechen.

Wenn sie den Job hier nicht so dringend bräuchte, hätte sie schon längst gekündigt. Aber sie finanzierte ihrer jüngeren Schwester Allison das Studium, weil ihre Eltern es sich nicht leisten konnten, und das Apartment, welches sie gemeinsam bewohnten, war auch nicht gerade billig. Sterling Technologies zahlte gut, und Sienna hatte sich im Laufe der Jahre von der einfachen Bürobotin zur Kundenbetreuerin hochgearbeitet. Für eine ungelernte Kraft ohne Ausbildung verdiente sie fürstlich, und das würde sie wegen eines Idioten wie Vincent nicht aufs Spiel setzen.

Trotzig stand sie auf, ging an die Bar und ließ sich einen Mai Tai geben. Damit kehrte sie an den Tisch zurück, schaute Vincent herausfordernd an, nahm einen großen Schluck und stellte fest, dass der Barkeeper es mit dem Rum sehr gut gemeint hatte. Der ungewohnte Alkohol brannte in ihrer Kehle, sie verschluckte sich und fing an, zu husten. Vincent grinste und prostete ihr demonstrativ zu. Mit Todesverachtung im Blick kippte sie den restlichen Inhalt ihres Glases auf einmal herunter.

Sie spürte, wie ihr schlagartig warm wurde, und wusste, dass sie das besser nicht getan hätte. Doch als Vincent kurz darauf mit neuen Cocktails von der Bar zurückkehrte und einen davon vor sie hinstellte, lächelte sie nur und stieß betont lässig mit ihm an. Und wenn der Kater morgen auch noch so schlimm wäre, sie würde ihm nicht die Genugtuung bieten, dass sie jetzt das Handtuch warf.

Zwei weitere Mai Tais später fühlte sie sich so entspannt und beschwingt wie schon lange nicht mehr, und allmählich fing diese öde Weihnachtsfeier sogar an, ihr Spaß zu machen.

Bob aus der Personalabteilung forderte sie zum Tanzen auf, und ausgelassen wirbelte sie mit ihm durch den kleinen Nebenraum, der als Tanzfläche diente. Als sie wieder zu ihrem Platz zurückkehrte, war ihr ein bisschen schwindlig, aber das tat ihrer guten Laune keinen Abbruch.

»Hey Sienna, hast du etwa bereits Schlagseite?«, frotzelte Vincent, als er ihre geröteten Wangen bemerkte. »Sieht so aus, als wären die Drinks doch etwas zu hart für dich.«

»Irrtum Baby«, konterte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag, »es kann mir gar nicht hart genug sein.«

Während alle um sie herum lauthals grölten, fragte sie sich für einen kurzen Moment, welcher Teufel sie ritt, solch zweideutige Bemerkungen zu machen. Aber Vincents dämliches Gesicht ließ sie diesen Gedanken gleich wieder vergessen, und sie kicherte leise vor sich hin.

Sienna amüsierte sich immer besser, und als schließlich Santa Claus angekündigt wurde, hatte ihre Stimmung den Höhepunkt erreicht.

Mit ungewöhnlich schwerelosem Kopf verfolgte sie die Zeremonie der Geschenkverteilung.

Es war üblich, dass jedes Jahr ein anderer Mitarbeiter die Rolle des Santa Claus übernahm. Santas wahre Identität unterlag strengster Geheimhaltung, sodass niemand wusste, wer sich unter dem Kostüm verbarg. Außerdem war es Tradition, dass die männlichen Gäste stets laut »Küsschen, Küsschen« skandierten, wenn eine der Mitarbeiterinnen ihr Geschenk bekam. Die Damen machten gute Miene zum bösen Spiel. Sie drückten dem jeweiligen Santa einen kurzen Kuss auf die Wange und beteten, dass sich am nächsten Tag nicht herausstellen würde, dass es der pickelige Bürobote gewesen war.

Sienna schloss sich den Männern an. Sie stieg auf ihren Stuhl und fiel jedes Mal lautstark in den »Küsschen«-Chor ein, bis sie irgendwann selbst an der Reihe war.

Miss Abbott, eine ältliche Jungfer mit Hornbrille und strengem Dutt, die das Vorzimmer des Chefs hütete, hatte wie immer die Aufgabe der Elfe übernommen. In einem grünen Kostüm, welches stark an Robin Hood erinnerte, stand sie neben Santa und rief die jeweiligen Kandidaten auf.

»Sienna O’Reilly«, ertönte es nun, und auf wackeligen Beinen schwankte Sienna nach vorne.

Im Laufen riss sie einen der Mistelzweige ab, und als sie am Podest angekommen war, begrüßte sie Santa mit einem lockenden »Küsschen, Küsschen«. Dabei fiel sie ihm fast vor die Füße, als sich die Absätze ihrer High Heels im Kabel von Miss Abbotts altertümlichem Mikrofon verfingen und sie ins Stolpern kam.

Zwei kräftige Hände hielten sie fest und verhinderten das Schlimmste, und mit einem überraschten »Ups« ließ sie sich gegen Santas breite Brust sinken. Er stellte sie vorsichtig auf ihre Beine und setzte sich wieder hin.

Da Santa selbst niemals sprach, begann Miss Abbott nun mit der üblichen Prozedur.

»Nun, Sienna O’Reilly«, fragte sie streng, »hast du denn ein Gedicht für Santa mitgebracht?«

Sienna runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. »Nein«, erklärte sie dann mit einem strahlenden Lächeln, »aber wie wäre es mit einem Küsschen?«

»Küsschen, Küsschen«, erklang es sofort vielstimmig aus dem Saal, und mit gespitzten Lippen kletterte Sienna auf Santas Schoß. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und nahm den Duft eines herben Aftershaves, vermischt mit einem leichten Geruch nach Mottenkugeln, wahr. Mit dem Mistelzweig über seinem Kopf wedelnd schob sie ihre Nase in seinen Bart und schnupperte an ihm.

»Hm, du riechst gut«, flüsterte sie hingerissen, »küss mich, Santa.«

***

Grayson H. Sterling hasste Weihnachten, er hasste Weihnachtsfeiern, und diese hier versprach ein ganz besonderer Albtraum zu werden. Angefangen hatte es damit, dass die Santa-Box dieses Jahr leer gewesen war. In jene bewusste Box warfen die männlichen Mitarbeiter, die bereit waren, die Rolle des Santa zu übernehmen, einen Zettel mit ihrem Namen, doch dieses Mal hatte offenbar niemand Lust dazu gehabt. Daraufhin hatte Gray zunächst mit dem Gedanken gespielt, die Verteilung der Geschenke einfach Miss Abbott zu überlassen. Doch diese hatte ihn mit strenger Miene daran erinnert, dass Santas Auftritt Tradition war, und so hatte er sich übellaunig selbst in das kratzige, nach Mottenpulver riechende Kostüm gezwängt.

Und nun saß er hier, mit einer atemberaubenden Frau auf seinem Schoß, die ihn küssen wollte, und hatte alle Mühe, seine aufsteigende Erregung zu unterdrücken.

»Sie sollten das lieber nicht tun«, warnte er so leise, dass nur sie es hören konnte.

»Ach bitte Santa«, raunte sie ungeachtet seiner Mahnung verführerisch, »küss mich.«

Unter den begeisterten Anfeuerungsrufen des Publikums legte sie ihren Mund auf seinen und kitzelte seine Lippen leicht mit der Zungenspitze. Sämtliches Blut schoss lawinenartig in seinen Unterleib, und hilflos krallte er seine Hand, die er notgedrungen um ihre Taille gelegt hatte, in den Stoff ihrer Kostümjacke.

»Nun Sienna, warst du denn brav?«, versuchte Miss Abbott jetzt zu Grays Erleichterung, die Situation zu entschärfen.

»Oh ja, ich bin immer brav«, kicherte Sienna. Sie drückte sich etwas dichter an ihn und hauchte ihm mit verführerischer Stimme ins Ohr: »Manchmal bin ich aber auch ein böses Mädchen – möchtest du mich vielleicht übers Knie legen? Ich habe es verdient.«

Augenblicklich schlug seine Fantasie wilde Kapriolen und ein leises, gequältes Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Hektisch versuchte er, sie von sich herunterzuschieben, jedoch lediglich mit dem Erfolg, dass ihr Rock dabei nach oben rutschte und der spitzenbesetzte Rand ihrer schwarzen Seidenstrümpfe zum Vorschein kam.

Schweiß brach ihm aus und er betete, dass sie zu sehr alkoholisiert war, um zu bemerken, was in der Hose seines Kostüms vor sich ging.

Hilflos schaute er Miss Abbott an, die sofort beschloss, dem Geschehen ein Ende zu machen. Energisch zog sie Sienna von ihm herunter und reichte ihr das kleine Geschenkpäckchen, während er hastig den Saum seiner Jacke über die verräterische Wölbung seines Beinkleids zog.

»Vielen Dank«, Sienna vollführte einen etwas misslungenen Knicks, wobei sie ihm unbeabsichtigt einen großzügigen Blick in ihr Dekolleté gewährte, »und schöne Weihnachten, Santa.«

»Ja«, ächzte Gray kaum hörbar in seinen Bart, »schöne Weihnachten.«

***

Begleitet vom Applaus der Zuschauer verließ Sienna die provisorische Bühne. Die Verteilung der Geschenke wurde fortgesetzt und ziemlich benebelt schwankte sie wieder zu ihrem Platz. Nachdem sie einen großen Schluck aus ihrem Glas getrunken hatte, lockten sie die Klänge von ›Last Christmas‹ in den Nebenraum, wo sie selbstvergessen anfing, zu tanzen.

Nach und nach versammelten sich einige Kollegen um sie herum, unter ihnen auch Vincent. Sie klatschten und feuerten sie an, sodass sie schließlich auf einen der Tische kletterte und dort weitertanzte. Als ihre Schritte wackeliger wurden, kickte sie ihre High Heels von sich. Jemand reichte ihr einen Drink, sie leerte ihn auf einen Zug und spürte, wie ihr plötzlich heiß wurde.

Ungeniert hob sie ihren Rock und rollte ihre Seidenstrümpfe herunter, schwang sie über ihrem Kopf und warf sie dann in die johlende Menge. Immer mehr Männer kamen hinzu, versammelten sich rund um ihre improvisierte Bühne und stachelten sie weiter an.

»Ausziehen, ausziehen«, wurden jetzt die ersten Stimmen laut, und Sienna war inzwischen so im Rausch, dass sie der Aufforderung lächelnd nachkam.

Sie zog die Jacke ihres Kostüms aus und ließ sie mit einem sinnlichen Lächeln fallen. Danach verrenkte sie sich, um den Reißverschluss der Bluse zu erreichen, der sich auf dem Rücken befand. Aufreizend langsam zog sie ihn nach unten. Dabei geriet sie jedoch irgendwie aus dem Takt, verlor das Gleichgewicht, und während der Stoff bereits über ihre Schultern zu rutschen begann, kippte sie vom Tisch. Sie spürte noch, wie zwei muskulöse Arme sie auffingen, dann wurde alles dunkel.

***

Aus dem Augenwinkel hatte Gray verfolgt, wie Sienna den Nebenraum betrat. Als sich wenig später laute »Ausziehen«-Rufe in die Musik mischten, sprang er auf. Er befahl Miss Abbott, die letzten Päckchen zu überreichen, und stürmte, von einer bösen Vorahnung getrieben, mit langen Schritten nach nebenan.

Das Bild, welches sich ihm dort bot, ließ ihn beinahe die Fassung verlieren. Umzingelt von einer Traube vorwiegend männlicher Gäste tanzte Sienna O‘Reilly auf einem Tisch und war gerade dabei, den Reißverschluss ihrer Bluse zu öffnen.

Energisch schob er sich zwischen den johlenden Männern hindurch, und im selben Moment, als er vorne ankam, fiel Sienna ihm geradewegs entgegen. Er fing sie auf und bemerkte, dass der weiche Satinstoff über ihre Schultern gerutscht war und ein weißer Spitzen-BH hervor blitzte. Hastig zog er seine Kostümjacke aus und wickelte sie darin ein. Dann riss er sich den Bart und die Mütze vom Kopf, ließ beides achtlos auf den Boden fallen.

Ein leises Raunen ging durch die Umstehenden, als sie Gray erkannten.

»Wo sind ihre Schuhe?«, knurrte er einen der Männer an.

Dieser bückte sich und reichte ihm die High Heels, die er Sienna geschickt überstreifte. Da sie sich nicht rührte, hob er sie kurz entschlossen auf seine Arme und warf danach einen zornigen Blick in die Runde.

»Sie sollten sich schämen, die Hilflosigkeit einer betrunkenen Frau derart auszunutzen«, bellte er. »Und damit eines klar ist, ich erwarte, dass Sie sich Miss O‘Reilly gegenüber künftig genauso respektvoll verhalten wie zuvor, verstanden?« Ein betretenes, zustimmendes Murmeln war die Antwort und er nickte grimmig. »Gut. Sollte auch nur einer von Ihnen ein Sterbenswörtchen über diesen Vorfall verlieren, kann er sich umgehend die Papiere abholen.«

2

Irgendetwas rauschte. Der Lautstärke nach zu urteilen, handelte es sich um einen Güterzug. Mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht öffnete Sienna die Augen, um sie sofort wieder zu schließen.

Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre eine Herde Elefanten darüber getrampelt, und sie hatte einen widerlichen, schalen Geschmack im Mund. Nach ein paar Anläufen gelang es ihr schließlich, so weit zu sich zu kommen, dass sie sich aufrichten konnte.

Blinzelnd schaute sie sich um. Das war nicht ihr Schlafzimmer. Das war auch kein anderes Zimmer ihrer Wohnung. Es sah fast aus wie …

»Ein Hotelzimmer«, murmelte sie irritiert. »Was tue ich in einem Hotelzimmer?«

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie zog die Decke enger um sich – um sie in der gleichen Sekunde entsetzt anzuheben und darunter zu schauen. Sie war nackt bis auf die Unterwäsche, wie sie bestürzt feststellte.

Leicht benommen ließ sie ihren Blick durchs Zimmer schweifen und sah ihre Bluse und ihren Rock auf einem Stuhl neben dem Bett liegen. Und als wäre das allein nicht schon genug für den schlimmsten Schock ihres Lebens, lag auf dem Boden direkt davor – Santas Kostümjacke.

»Oh mein Gott«, stöhnte sie fassungslos, »ich habe die Nacht mit Santa verbracht.«

Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, dass das Rauschen in ihren Ohren nicht von einem Güterzug stammte. Offensichtlich war es das Geräusch der Dusche, welches durch die halb offene Tür des angrenzenden Badezimmers zu ihr drang.

Panik stieg in ihr auf, und sie sprang aus dem Bett, so schnell es ihr schmerzender Kopf zuließ. Sie musste hier weg, bevor Santa aus dem Bad kam. Die Situation war schon grotesk genug, auch ohne dass sie sich noch weiteren Peinlichkeiten aussetzte.

Hastig griff sie nach ihrer Kleidung, zog sie an, schlüpfte in ihre High Heels, und wollte gerade das Zimmer verlassen, als ihr einfiel, dass sie ihre Tasche vergessen hatte. Suchend schaute sie sich um, doch die Clutch war nirgends zu entdecken.

Scheiße, wie soll ich denn jetzt nach Hause kommen, schoss es ihr verzweifelt durch den Kopf.

Da entdeckte sie eine lederne Brieftasche, die zusammen mit einer Armbanduhr auf einem Tischchen lag. Sie zögerte einen Moment, doch irgendwie musste sie ein Taxi bezahlen, also griff sie mit leicht schlechtem Gewissen danach. Während sie die Badezimmertür im Auge behielt, angelte sie in fieberhafter Eile ein paar Geldscheine aus dem Portemonnaie und strebte dann mit schnellen Schritten aus dem Zimmer.

Nach kurzem Suchen fand sie den Fahrstuhl, fuhr hinunter in die Lobby und ließ sich dort vom Portier ein Taxi rufen. Den erstaunten Blicken des Mannes begegnete sie mit einem freundlichen Lächeln. Es war ihr klar, dass sie wie ein Zombie aussah, und sie fühlte sich auch so, doch das war ihr herzlich egal. Sie wollte nur weg hier und das so rasch und unauffällig wie möglich.

Eine halbe Stunde später lag sie in ihrer Wohnung im Bett und fragte sich verstört, was eigentlich passiert war.

Weder wusste sie, wie sie überhaupt in das Hotel gekommen war, noch hatte sie eine Ahnung, was sich dort in dem Zimmer abgespielt hatte. Das Letzte, woran sie sich entsinnen konnte, war, dass sie auf einem der Tische getanzt hatte. Undeutlich sah sie die Gesichter der Männer vor sich, die um sie herumgestanden und sie angefeuert hatten, allen voran Vincent.

Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. War Vincent etwa Santa gewesen? Sie schloss die Augen und versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, ob Vincent während der Geschenkverteilung auf seinem Platz gesessen hatte. Doch sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, sie war zu abgelenkt gewesen von dem Geschehen auf der Bühne und – zu betrunken.

»Verdammt«, stieß sie verzweifelt hervor und hieb unglücklich mit der Faust in ihr Kissen, »wie konnte ich nur so bescheuert sein?«

***

Irgendwann am späten Nachmittag kam Sienna wieder zu sich. Nach einer ausgiebigen Dusche schlüpfte sie in einen Jogginganzug und ging hinüber ins Wohnzimmer.

Das kleine Apartment, welches sie mit ihrer Schwester bewohnte, lag im obersten Stock eines Mietshauses in Uptown Milwaukee. Es gab einen großen Wohnraum mit offener Küche, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Von außen sah das Haus nicht sonderlich einladend aus, doch sobald man die Wohnung der beiden O‘Reilly-Schwestern betrat, breitete sich sofort ein Gefühl von Wärme und Behaglichkeit aus. Der dunkle Holzfußboden war mit weichen, bunten Teppichen bedeckt, eine breite Couch vor einem gemauerten Kamin lud zum Kuscheln ein. Ein paar Kommoden aus hellem Holz sowie ein langer Esstisch, der die Kochecke vom Wohnbereich abteilte, vervollständigten das Bild. Vor einem bodentiefen Fenster standen etliche Grünpflanzen, und an den weiß getünchten Wänden hingen einige Kunstdrucke von Kandinsky und anderen expressionistischen Malern.

Allison saß auf dem Sofa, hatte ein Buch in der Hand und lernte. »So wie du aussiehst, muss es ja eine tolle Feier gewesen sein«, grinste sie, als sie ihre Schwester sah.

Sienna verzog das Gesicht, holte sich einen Kaffee und ließ sich neben Allison auf die Couch fallen. »Erinner mich bloß nicht daran«, murmelte sie finster.

»Wann bist du denn nach Hause gekommen?« Allison musterte sie prüfend. »Ich habe dich gar nicht gehört.«

»Früh. Sehr früh. Genau genommen heute Morgen um acht.«

Überrascht starrte Allison sie an. »Was? Hast du dich etwa von einem Kerl abschleppen lassen? Wer war es? Justin aus der Buchhaltung? Oder dieser Blonde, von dem du mal erzählt hast, dieser Programmierer, wie hieß er doch gleich?«

»Santa.«

»Nein, sein Name war anders. Irgendwas mit M …« Allison brach abrupt ab, und obwohl es kaum möglich war, wurden ihre rehbraunen Augen noch größer. »Santa?«

»Santa«, bestätigte Sienna dumpf.

»Der Santa, hinter dessen Kostüm sich jedes Jahr ein anderer verbirgt, und dessen wahre Identität niemals jemand erfährt?«

»Richtig. Und um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wer es war.«

»Oh mein Gott, Sienna, wie kann das denn sein?«, entfuhr es Allison entgeistert. »Du hast die Nacht mit einem Typen verbracht und weißt nicht, mit wem? Hattest du Sex mit ihm?«

Unbehaglich zupfte Sienna an dem Taillenbändchen ihrer Jogginghose herum. »Ich war betrunken. So betrunken, dass ich mich an nichts mehr erinnern kann.«

Auf Allisons vorwurfsvollen Blick hin berichtete sie vom Verlauf der Weihnachtsfeier, von den Dingen, die sie noch wusste, von ihrem Erwachen in dem Hotelzimmer und ihrer überstürzten Flucht.

»Und zu allem Überfluss ist meine Tasche weg, meine Kostümjacke ebenfalls und ich habe auch noch einen von den Ohrringen verloren, die Mom und Dad mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt haben«, schloss sie finster.

»Das glaube ich nicht«, murmelte Allison fassungslos, »das glaube ich einfach nicht.«

»Das war alles nur Vincents Schuld«, verteidigte Sienna sich. »Hätte dieser Idiot mich nicht so provoziert, wäre es gar nicht so weit gekommen. Du weißt ja, dass ich normalerweise so gut wie nichts trinke, und schon gar nicht bei solchen geschäftlichen Anlässen.« Sie schwieg einen Moment und fügte dann unglücklich hinzu: »Hoffentlich war es nicht Vincent unter dem Kostüm.«

»Warum hast du nicht in dieser Brieftasche nachgesehen? Da war doch bestimmt ein Führerschein oder eine Kreditkarte drinnen?«

Sienna stieß einen leisen Fluch aus. »Mist, daran habe ich in diesem Augenblick überhaupt nicht gedacht. Ich hatte solche Angst, dass der Kerl aus dem Bad kommt, und wollte nur noch weg.«

Sie zog die Knie an, schlang die Arme darum und bettete ihr Gesicht hinein. »Ich bin erledigt«, murmelte sie unglücklich, »ich werde das Tagesgespräch sein, alle werden sich über mich lustig machen. Ich kann mich nie wieder bei Sterling Technologies blicken lassen, ich werde immer diejenige sein, die auf dem Tisch getanzt und Santa abgeschleppt hat. Vielleicht sollte ich am besten gleich kündigen.«

Tröstend nahm Allison sie in den Arm. »Hey, denkst du dabei eigentlich auch an mich?«, sagte sie scherzhaft. »Was soll denn aus mir werden, wenn du deinen Job hinwirfst? – Jetzt mach dir nicht so viele Sorgen, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Schließlich passiert so etwas jedem mal, bestimmt ist bis zum Montag alles wieder vergessen.«

***

Obwohl sie sich am liebsten in ihrem Bett verkrochen hätte, raffte Sienna sich am Montagmorgen auf und machte sich auf den Weg in die Firma.

Weihnachtsfeiern sollten verboten werden, dachte sie verdrossen, während sie ihren Wagen in der Tiefgarage der Sterling Technologies abstellte. Weihnachten sollte grundsätzlich verboten werden, korrigierte sie sich dann sofort.

Mit einem mulmigen Gefühl fuhr sie hinauf in den dritten Stock, wo die Räume der Kundenbetreuung untergebracht waren. Dabei versuchte sie, sich innerlich gegen die belustigten und spöttischen Blicke der Kollegen zu wappnen, die ihr garantiert gleich entgegenschlagen würden.

Peinliche Auftritte an irgendwelchen Firmenfeiern waren immer ein allseits beliebtes Gesprächsthema, da würde der ihre bestimmt keine Ausnahme bilden. Genau aus diesem Grund vermied sie es normalerweise konsequent, Alkohol zu trinken. Sie war nie sonderlich versessen darauf gewesen, die Hauptrolle in den Schlagzeilen des Flurfunks einzunehmen.

Erneut ärgerte sie sich, dass sie sich von Vincent derart hatte herausfordern lassen und alle Prinzipien über Bord geworfen hatte.

Vincent. Bei dem Gedanken daran, dass sie ihm gleich gegenüberstehen würde, stieg Übelkeit in ihr auf. Bestimmt würde er keine Gelegenheit auslassen, sich über ihr Benehmen lustig zu machen und großzügig mit gehässigen Bemerkungen um sich werfen. Das allein war schon schlimm genug und die Vorstellung, dass er vielleicht Santa gewesen war, ließ Siennas Panik mit jedem Schritt größer werden. Wenn sie tatsächlich mit ihm die Nacht verbracht hatte, würde er sich überall damit brüsten, und ihr bisher tadelloser Ruf wäre mit einem Schlag dahin. Außerdem würde es unerträglich werden, weiterhin mit ihm in einem Büro zu sitzen. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, wie sich sein sowieso stets schlüpfriges Grinsen weiter vertiefen würde.

Vor dem kleinen Raum angelangt, den sie sich mit Vincent teilte, holte sie noch einmal tief Luft, dann reckte sie kampfbereit das Kinn nach vorne und öffnete die Tür.

***

Das Erste, was Sienna ins Auge sprang, als sie ihr Büro betrat, waren ihre Handtasche, die auf ihrem Schreibtisch lag, und ihre Kostümjacke, die über ihrem Stuhl hing. Sofort stieg Panik in ihr auf. Es gab doch nur eine schlüssige Erklärung, wie die Sachen dahin gekommen sein konnten, oder?

Sie schaute unauffällig zu Vincent, der über seinen PC gebeugt saß und wie üblich nur ein mürrisches »Morgen« brummte.

Mit angehaltenem Atem wartete sie darauf, dass er etwas sagen würde, aber überraschenderweise verlor er kein Wort über die Weihnachtsfeier. Er warf ihr weder anzügliche Blicke zu, noch machte er irgendwelche Bemerkungen. Im Gegenteil, er war vollkommen zurückhaltend und still, und das beunruhigte Sienna mehr, als wenn er derbe Kommentare von sich gegeben hätte.

Irgendetwas stimmt hier nicht, ging es ihr durch den Kopf.

Dieses Gefühl verstärkte sich weiter, als die Kolleginnen und Kollegen ihr in der Frühstückspause ebenfalls begegneten, als wäre nichts geschehen. Misstrauisch beäugte sie die anderen, während sie an ihrem Kaffee nippte, doch alle unterhielten sich so entspannt und harmlos wie immer.

Fast war sie schon überzeugt, dass Allison recht behalten würde. Entweder hatten die Kollegen bereits vergessen, was vorgefallen war, oder es war alles nur ein schlechter Traum gewesen und überhaupt nicht passiert.

Ihre Erleichterung hielt genau so lange an, bis sie gegen elf Uhr einen Anruf von Miss Abbott erhielt, dass sie zum Chef kommen sollte.

Sofort krampfte sich ihr Magen wieder zusammen. Zum Chef. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Bestimmt hatte er von ihrem Benehmen auf der Feier erfahren und würde sie nun vor die Tür setzen. Natürlich. Keine Firma wollte Mitarbeiterinnen haben, die sich erst betranken und danach auf einen Tisch stiegen und strippten. Das war‘s dann wohl, ihre Tage bei Sterling Technologies waren gezählt.

Mit weichen Knien fuhr sie hinauf in die oberste Etage, wo sich die Büroräume der Geschäftsleitung befanden. Im Vorzimmer wurde sie von einer säuerlich dreinblickenden Miss Abbott empfangen, die sie zu einer mahagonigetäfelten Doppeltür geleitete.

»Mr. Sterling, Miss O’Reilly ist da«, erklärte sie nach kurzem Anklopfen und schob sie in den Raum hinein.

Mit einem leisen Ploppen fiel die Tür hinter Sienna zu und dann stand sie im Allerheiligsten von Grayson H. Sterling, Inhaber und CEO der Sterling Technologies.

3

»Miss O’Reilly, bitte nehmen Sie Platz«, wies Gray sie an, ohne von seinen Unterlagen aufzuschauen, »ich bin gleich soweit.«

Nervös setzte Sienna sich auf die Kante eines Stuhles direkt vor seinem Schreibtisch.

Er hielt seinen Blick fest auf seine Dokumente gerichtet, was ihr die Gelegenheit gab, ihn unauffällig zu betrachten.

Sein dichtes, schwarzes Haar war kurz geschnitten, einige kleine Strähnen hingen ihm in die Stirn und gaben ihm ein jungenhaftes, leicht verwegenes Aussehen. Um die Augen bemerkte sie ein paar winzige Fältchen, die sie sein Alter auf circa Mitte dreißig schätzen ließen. Die Augenfarbe war nicht genau zu erkennen, sie schien irgendwo zwischen Grün und Grau zu liegen. Seine Nase war durchschnittlich, jedoch nicht völlig gerade, offenbar war sie einmal gebrochen gewesen. Dadurch wirkte sein Gesicht nicht ganz so makellos und perfekt, doch insgesamt tat das seiner Attraktivität keinen Abbruch. Ein energischer Mund mit streng wirkenden, schmalen Lippen, ein kantiges Kinn, um das sich trotz Rasur der leichte Schatten eines Bartes bis zu den Wangenknochen hinzog.

Sein Jackett hing über der Rückenlehne seines Stuhls, die zweifellos teure Krawatte hatte er ein wenig gelockert, ebenso wie den Kragen seines hellgrauen Seidenhemds, das sich um ein Paar breite Schultern spannte. Die Hemdsärmel hatte er ein Stück nach oben gerollt, seine Unterarme waren muskulös und mit einem dünnen Flaum weich aussehender, dunkler Haare bedeckt. In den schlanken Fingern seiner rechten Hand hielt er einen Kugelschreiber, mit dem er immer wieder auf das Papier tippte, als wäre er genauso nervös wie sie.

Doch das war er natürlich nicht, er war schließlich Grayson H. Sterling, der mächtige, reiche und zugegebenermaßen verdammt gutaussehende Firmenboss.

Seit Sienna vor fünf Jahren bei Sterling Technologies angefangen hatte, hatte sie ihn nur ein paar Mal von Weitem gesehen. Sie kannte sein Bild aus ein oder zwei Zeitungsberichten und hatte gewusst, dass er ziemlich attraktiv war. Aber als sie jetzt hier vor ihm saß, nur durch den Schreibtisch von ihm getrennt, wurde sie sich seiner Ausstrahlung bewusst.

Irgendetwas Sinnliches ging von ihm aus, vermischt mit einer gewissen Dominanz und einer Spur Rücksichtslosigkeit.

Unwillkürlich lief ihr ein Schauer über den Rücken, und als er plötzlich den Kopf hob und sie anschaute, hatte sie das Gefühl, dass seine graugrünen Augen sie regelrecht durchbohrten.

»Wie hat Ihnen die Weihnachtsfeier gefallen, Miss O’Reilly?«

Seine tiefe Stimme klang völlig ruhig, sein Blick war teilnahmslos, und dennoch wäre Sienna am liebsten im Erdboden versunken. Er wusste also Bescheid. Die Buschtrommeln hatten ihren peinlichen Ausfall bis zur Chefetage verbreitet. Oder war er am Ende gar selbst auf der Feier gewesen und hatte live mitbekommen, wie sie sich benommen hatte?

Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern, ob sie ihn irgendwo gesehen hatte.

»Es war ganz nett«, murmelte sie unsicher.

Ein winziges Glimmen in seinen Augen zeigte ihr, dass er genau wusste, was das Wort ›nett‹ umschrieb.

»Nett, aha«, wiederholte er dann auch gedehnt. »Das hört sich nicht so an, als hätten Sie sich besonders amüsiert.«

Sein Blick war nun mehr als herausfordernd und im gleichen Moment ging ihr irisches Temperament mit ihr durch.

»Oh doch, ich habe mich amüsiert, und zwar bestens, wie Ihnen vermutlich zu Ohren gekommen sein dürfte«, platzte sie aufgebracht heraus. »Ich hatte etliche Cocktails zu viel, ich habe Santa angebaggert, auf dem Tisch gestrippt und keine Ahnung, was sonst noch. Es war eine tolle Party und ich kann es kaum abwarten, mir jetzt Ihre Strafpredigt anzuhören. Zufrieden?«

Es zuckte verdächtig um seine Mundwinkel, aber Sienna war so in Fahrt, dass sie es nicht bemerkte.

»Das alles wäre nicht passiert, wenn Sie Ihre Mitarbeiter nicht nötigen würden, zu diesen dämlichen Veranstaltungen zu gehen. Welcher halbwegs intelligente Mensch will denn schon freiwillig den ganzen Abend ›Jingle Bells‹ hören und ein Gedicht für Santa Claus aufsagen?«, funkelte sie ihn an.

Im selben Moment hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Herrje, hatte sie das eben wirklich gesagt? Wie bescheuert musste sie denn sein, sich nach dieser Aktion am Freitagabend hier nun auch noch aufzuführen wie die Axt im Walde?

Wie befürchtet, reagierte Grayson Sterling auf ihren Ausbruch nicht gerade mit Begeisterung. Er hob eine Augenbraue und taxierte sie aufmerksam.

»Tja, was soll ich dazu sagen, Miss O‘Reilly? Es tut mir leid, dass Sie an diesen Festivitäten keinen Gefallen finden, aber das bringt Ihre Arbeit in der Kundenbetreuung nun einmal mit sich. Vielleicht sind Sie für diese Position doch nicht ganz so gut geeignet?«

Überrascht riss sie die Augen auf. »Wollen Sie mich etwa rauswerfen? Wegen so einer Lappalie?«

»Dass Sie sich im Beisein von Kunden derart aufgeführt haben, kann man wohl kaum als Lappalie bezeichnen«, erwiderte er trocken. »Oder ist es Ihre Auffassung von Kundenbetreuung, nackt auf Tischen zu tanzen?«

»Ich bin also gefeuert?«, fragte sie tonlos.

Einen Moment lang schaute er sie nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das habe ich nicht vor.« Sienna atmete erleichtert auf, doch da fügte er hinzu: »Allerdings bin ich der Meinung, dass Sie dringend ein bisschen Nachhilfe in Sachen Benehmen benötigen.«

»Was?« Irritiert starrte sie ihn an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Es ist ganz einfach«, erläuterte er, ohne eine Miene zu verziehen, »ich habe in den nächsten Wochen mehrere Einladungen zu Weihnachtsfeiern, die ich aus geschäftlichen Gründen wahrnehmen muss, und ich möchte, dass Sie mich begleiten.«

Sienna glaubte, sich verhört zu haben. Was hatte das denn zu bedeuten? Er konnte doch nicht ernsthaft erwarten, dass sie sich privat mit ihm traf?

»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte sie abwehrend.

»Und weshalb?«

»Ich … ich bin Ihre Angestellte, und diese Termine finden ja sicher außerhalb der Arbeitszeit statt. Es würde bestimmt komisch aussehen, wenn Sie und ich …«

»Wie gesagt, es sind Feiern, die ich aus geschäftlichem Anlass besuche.«

»Aber …«

»Miss O‘Reilly«, er beugte sich ein Stück nach vorne und fixierte sie streng, »ich lasse darüber nicht mit mir diskutieren. Sie haben beinahe unsere Weihnachtsfeier ruiniert und ich erwarte eine gewisse Bereitschaft, das wieder gutzumachen. Andernfalls gehe ich davon aus, dass Ihnen die Arbeit bei Sterling Technologies nicht sonderlich am Herzen liegt.«

»Das ist Erpressung«, entfuhr es ihr empört.

Ein Lächeln trat auf sein Gesicht, und trotz ihres Ärgers bemerkte sie, dass sich etwas unterhalb seines rechten Mundwinkels ein kleines, faszinierendes Grübchen gebildet hatte.

»Ich will Sie nicht erpressen«, betonte er sanft. »Ich möchte Ihnen lediglich die Chance geben, dem ganzen Weihnachtsgeschehen ein bisschen mehr Spaß abzugewinnen.«

»Ich habe kein Problem mit Weihnachten«, erklärte sie gereizt, »und mit Ihnen auszugehen ist nicht unbedingt meine Vorstellung von Spaß.«

Er lachte leise. »Das mag sein, aber vielleicht ändern Sie ja Ihre Meinung. – Also, Sie begleiten mich zu allen Terminen bis zum 24. Dezember, in Ordnung?«

Sein Blick suchte den ihren, hielt ihn unnachgiebig fest, bis sie schließlich den Kopf senkte.

»Sieht nicht so aus, als hätte ich eine große Wahl«, murmelte sie bissig. »Und wie haben Sie sich das im Einzelnen vorgestellt?«

Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob er sich aus seinem Schreibtischstuhl, wandte ihr den Rücken zu und schaute aus dem Fenster.

»Das werde ich mir noch überlegen«, sagte er leise, »Sie hören von mir.«

***

Nachdem Sienna sein Büro verlassen hatte, ließ Gray sich mit einem tiefen Seufzen wieder in seinen Stuhl fallen. Sein Blick glitt zu der Personalakte, die vor ihm auf dem Tisch lag, und mit einem kleinen Lächeln schlug er sie auf.

Sienna O‘Reilly, siebenundzwanzig Jahre alt, seit fünf Jahren beschäftigt bei Sterling Technologies, anfänglich als Bürobotin, derzeit tätig in der Kundenbetreuung. Er betrachtete das Passfoto auf dem Lebenslauf. Rötlich-braunes Haar, das in ungebändigten Locken bis weit über die Schultern fiel. Blaue Augen, die mit einem schalkhaften, fröhlichen Funkeln in die Kamera blickten. Eine niedliche Stupsnase mit ein paar Sommersprossen und ein Mund mit vollen, fein geschwungenen Lippen – Lippen, die sich sehr weich anfühlten, wie er seit Freitagabend wusste.

Er dachte daran, wie sie auf seinem Schoß gesessen hatte, und seufzte erneut.

»Manchmal bin ich auch ein böses Mädchen – wirst du mich jetzt übers Knie legen?«, hörte er ihre Stimme locken, und eine Reihe unanständiger Bilder ging ihm durch den Kopf.

Es war nicht so, dass er auf diese Art von Spielen stand. Doch die Vorstellung, Sienna bäuchlings auf seinen Oberschenkeln liegen zu haben, ihr das Höschen herunterzuziehen und ein paar Klapse auf ihren wohlgerundeten Po zu verpassen, ließ eine heftige Erregung in ihm aufsteigen.

Mühsam verscheuchte er diese Gedanken. Himmel, sie war seine Angestellte und er fing grundsätzlich nichts mit Mitarbeiterinnen an. Schließlich konnte er jede andere Frau haben und das hatte er in den letzten Jahren auch weidlich ausgenutzt. Abgesehen von seinem guten Aussehen spielte sein Bankkonto dabei keine unerhebliche Rolle; es gab kaum eine Frau, die ihm nicht freiwillig in sein Bett gefolgt wäre. Doch allmählich wurde ihm das langweilig, und aus genau diesem Grund graute ihm jetzt schon wieder vor den ganzen Weihnachtsfeiern.

Und das war der Punkt, wo Sienna O‘Reilly ins Spiel kam. Zum einen würde ihre Anwesenheit an seiner Seite ihn vor unliebsamen Annäherungsversuchen schützen. Und zum anderen versprach ihre Gegenwart eine erfrischende Abwechslung.

Als er sie in sein Büro bestellt hatte, hatte er damit gerechnet, dass sie sich kleinlaut entschuldigen und ihn anflehen würde, sie nicht zu feuern. Er hätte ihr ein paar mahnende Worte gesagt und sie wieder weggeschickt. Aber im Gegensatz zu all den anderen Speichelleckern hatte sie sich von ihm nicht einschüchtern lassen und das hatte ihm imponiert. Mit ihr zusammen würde das übliche, steife Einerlei dieser vorweihnachtlichen Verpflichtungen bestimmt um einiges interessanter werden.

Und dann war da noch dieser unwiderstehliche Drang, herauszufinden, ob sie genauso sexy und aufregend war, wenn sie keinen Alkohol getrunken hatte.

Erneut rief er sich in Erinnerung, dass sie für ihn arbeitete, und dass er als Chef sich so etwas nicht erlauben durfte. Er hatte die Grenze sowieso schon überschritten, als er sie mit ins Hotel genommen hatte. Allerdings war das aus reinem Beschützerinstinkt geschehen. Nachdem sie ihm quasi in die Arme gefallen war, hatte er sie zu seinem Wagen gebracht, um sie nach Hause zu fahren. Das hatte sich jedoch als schwieriges Unterfangen erwiesen. Sie hatte keine Handtasche dabei gehabt, sodass er nicht nachsehen konnte, wo sie wohnte. Dann hatte sie sich auch noch im Auto übergeben. Da er grundsätzlich keine Frauen mit in sein Penthouse nahm, hatte er sich kurzerhand dafür entschieden, ein Hotelzimmer zu mieten.

Er hatte ihr die verschmutzte Kleidung ausgezogen, das Gesicht abgewaschen und sie ins Bett bugsiert – alleine. Während der Hotelservice ihre Bluse und ihren Rock reinigte, hatte er es sich für den Rest der Nacht in einem Sessel bequem gemacht. Als er am anderen Morgen aus der Dusche kam, war Sienna verschwunden, und er wusste nicht, ob er darüber enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Zunächst hatte er sich eingeredet, dass es so besser sei. Wenn sie noch da gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich versucht, sie zu verführen. Andererseits bedauerte er es. Seit sie auf seinem Schoß gesessen und ihn geküsst hatte, hatte er ständig daran denken müssen, sie in seinem Bett zu haben – und das wollte er nach wie vor. Dass sie offenbar nicht ahnte, wer sich hinter dem Kostüm des Santa Claus verborgen hatte, erhöhte den Reiz zusätzlich.

Nein, normalerweise ließ er sich nicht mit Mitarbeiterinnen ein – aber in Sienna O‘Reillys Fall könnte er vielleicht eine Ausnahme machen.