Herzbeben auf Rezept

Ebook & Taschenbuch

Lieber heute als morgen möchte Lynn Hartley ihrem tyrannischen Chef entkommen. Als sie erfährt, dass in ihrem Heimatort eine Sprechstundenhilfe für den Nachfolger des alten Dorfarztes gesucht wird, ergreift sie die Chance. Doch was als vermeintlicher Neuanfang beginnt, wird schnell zu einer Nervenprobe, denn Dr. Julian Taylors Vorstellungen von Ordnung und Disziplin harmonieren so gar nicht mit Lynns Art und Weise, Dinge zu regeln.
Immer wieder geraten die beiden aneinander, bis ein überraschender Kuss alles verändert. Lynn und Julian beginnen eine stürmische Beziehung und schmieden sehr bald Zukunftspläne – doch jeder Mensch hat auch eine Vergangenheit …

Kapitel 1

Lynn Hartley wusste nicht, was sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Weckton ihres Smartphones war es jedenfalls nicht, denn das Gerät gab keinen Mucks von sich. Müde griff sie danach, warf einen Blick auf die Digitalanzeige und stieß einen erschrockenen Laut aus.

Viertel vor sieben. Sie hatte verschlafen – bereits das zweite Mal in diesem Monat!

Dr. Blödmann wird mich umbringen, schoss es ihr durch den Kopf, während sie aus dem Bett sprang und ins Bad eilte. Sie begnügte sich mit einer Katzenwäsche, griff dann ihre Zahnbürste und schrubbte sich die Zähne. Danach riss sie wahllos irgendwelche Sachen aus dem Kleiderschrank und zog sie an, ohne darauf zu achten, ob sie zusammenpassten. Nachdem sie in ihre Schuhe geschlüpft war, hastete sie zur Tür, nahm im Vorbeilaufen ihren Schlüsselbund von der Kommode, schnappte ihre Tasche und verließ das Apartment.

In Windeseile flog sie die Stufen hinunter, dabei pfriemelte sie ihre Haare zu einem Dutt zusammen. Wenig später saß sie in ihrem feuerwehrroten Mini Cooper, der ein paar Schritte entfernt am Bordstein parkte. Deutlich über der erlaubten Tempogrenze brauste sie die Mainstreet entlang, ließ Elkpoint hinter sich und bog schließlich auf den Highway 93 in Richtung Idaho Falls ab.

Es herrschte nur mäßiger Verkehr, und so kam sie rasch voran, während sie aus voller Kehle die Songs aus dem Radio mitsang.

Knapp zwei Stunden später stellte sie ihr Auto auf dem Parkplatz ab, welcher zu der Gemeinschaftspraxis in Downtown Idaho Falls gehörte, in der sie seit zehn Jahren arbeitete. Hier hatte sie ihre Ausbildung zur Sprechstundenhilfe absolviert, zusammen mit Maud Jenkins, die ebenfalls dort angestellt war. Es gab noch zwei weitere Kolleginnen sowie die beiden Ärzte, Dr. Fillbert und Dr. Bowman – Dr. Blödmann, wie Lynn ihn heimlich zu nennen pflegte. In ihren Augen war er ein Tyrann und der größte Nörgler unter der Sonne, und da ihr Mundwerk oft schneller war als ihr Verstand, kam es fast täglich zu Zusammenstößen.

Lynn schlich in die Praxis, in der Hoffnung, ihr Chef würde es nicht mitbekommen, doch vergebens – Dr. Blödmann erwartete sie direkt an der Rezeption, und die erste Standpauke des Tages war fällig.

»Das ist schon das zweite Mal in diesem Monat, und der Juni hat erst angefangen«, empfing er sie.

»Mein Wecker …«

»Ihre Ausreden können Sie sich sparen, Sie werden die Zeit nacharbeiten. – Die Laborberichte vom gestrigen Tag zu mir, aber zackig.«

Dr. Bowman verschwand in seinem Sprechzimmer, und Lynn schnitt hinter seinem Rücken eine Grimasse.

»Sklaventreiber. Da kommt man einmal fünf Minuten zu spät, und er flippt gleich aus. Wenn ich aber länger arbeite, höre ich keinen Ton von ihm, denn das ist ja selbstverständlich.«

Maud, die bereits anwesend war und die Szene mitbekommen hatte, seufzte. »Du hast ja recht, aber was willst du machen?«

»Am liebsten würde ich alles hinschmeißen und mir eine andere Stelle suchen.«

»Das sagt sich so leicht. Die Arbeitsplätze sind rar, und niemand kann dir garantieren, dass es in einer anderen Praxis nicht noch schlimmer ist.«

Lynn verzog das Gesicht, während sie ihren weißen Kittel überzog. »Noch schlimmer? Ich glaube nicht, dass das möglich ist.«

Wenig später erschien der erste Patient zur Blutabnahme, und der Praxisalltag ließ Lynn keine Zeit mehr für irgendwelche Gedanken an Kündigung. In der einstündigen Mittagspause aß sie zusammen mit Maud eine Kleinigkeit bei Smitty’s Pancake & Steak House, danach ging es genauso hektisch weiter wie am Vormittag.

Wie angedroht ließ Dr. Bowman Lynn über ihren üblichen Feierabend hinaus in der Praxis bleiben, und so war es bereits nach sieben Uhr, als sie sich auf den Heimweg machte. Gegen halb zehn stellte sie ihren Mini vor dem Waschsalon in Elkpoint ab und stieg müde die Treppe zu ihrem Apartment hinauf.

Ursprünglich hatte sie vorgehabt, an diesem Abend zum Frauentreff zu gehen, der jeden Dienstag im Gemeindehaus stattfand. Es war immer eine lustige Runde, mit Handarbeiten, selbstgebackenen Snacks und dem ein oder anderen Schnäpschen, garniert mit dem neuesten Klatsch. Lynn war seit Wochen nicht mehr dort gewesen und hatte sich darauf gefreut, doch sie war viel zu erledigt.

Während sie sich ein Sandwich belegte, rief sie ihre Schwester an.

»Hey, ich bin es«, sagte sie, als Kate sich meldete.

»Ich habe mich schon gefragt, wo du steckst.«

Lynn seufzte. »Na wo wohl? Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, Dr. Blödmann hat mich mal wieder nachsitzen lassen.«

»Also wirst du nicht mehr zum Frauenabend kommen?«

»Es ist schon so spät und ich muss morgen pünktlich um sechs aufstehen. Wenn ich mich wieder verspäte, wird Dr. Blödmann mich vierteilen.«

Kate lachte. »Wenn das so ist, müssen wir wohl heute auf dich verzichten. Wann sehen wir uns denn?«

»Wie wäre es, wenn Brian am Samstag bei mir übernachtet?«, schlug Lynn vor. »Dann können wir beide ein bisschen plaudern, wenn ich ihn abhole, und du und Sam hättet am Abend sturmfreie Bude.«

»Das klingt gut.«

»Super, dann machen wir es so. Ich komme so gegen drei Uhr vorbei.«

»In Ordnung. Bis dann.«

Die Schwestern verabschiedeten sich, Lynn legte das Handy weg, nahm ihr Sandwich, ging hinüber zum Sofa, schob einige Heimdekormagazine und ein paar Kleidungsstücke beiseite, und setzte sich. Sie schaltete den Fernseher ein und während sie ihr Brot aß, schaute sie sich eine weitere Folge einer Netflix-Serie an, die sie am Wochenende begonnen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis ihr fast die Augen zufielen, also schlurfte sie ins Bad, erledigte ihre abendliche Routine und lag wenig später im Bett. Dieses Mal vergaß sie nicht, die App fürs Wecken zu starten, und als sie ins Reich der Träume hinüberdämmerte, nahm sie sich vor, unbedingt nach einer anderen Arbeitsstelle zu suchen.

♥ ♥ ♥

 

Das leise Piepen des Digitalweckers auf dem Nachttisch zeigte Julian Taylor an, dass es sechs Uhr und somit Zeit zum Aufstehen war. Er war bereits seit einigen Minuten wach und schaltete rasch den Alarm aus, um seine Frau Audrey nicht zu stören, die neben ihm schlief.

Leise stieg er aus dem Bett und begab sich in das angrenzende Ankleidezimmer, wo er in eine knielange, schwarze Sporthose und ein graues T-Shirt schlüpfte. Weiße Sneakers komplettierten das Outfit, und wenig später verließ er die Villa in Richtung des nahegelegenen Parks, wo er genau zehn Runden lief. Dies reichte aus, um ihn fit zu halten, und war zeitlich so abgestimmt, dass er um exakt sieben Uhr wieder zu Hause war.

Er duschte, rasierte sich und putzte sich die Zähne. Anschließend zog er sich an; anthrazitfarbene Slacks, hellgraues Hemd mit dezent gemusterter Krawatte, blankpolierte Derbies. Als er sich kämmte, stellte er fest, dass die silbernen Fäden, die sein dunkles Haar an den Schläfen durchzogen, allmählich immer mehr wurden. Er verteilte etwas Eau de Toilette auf Wangen und Hals, und verließ das Bad.

Wie immer verzichtete er auf ein Frühstück und startete lediglich die chromblitzende Kaffeemaschine in der eleganten Designerküche, die wirkte, als sei sie direkt einem Einrichtungskatalog entsprungen. Während das Gerät leise brummend seinen Dienst verrichtete, gab Julian ein paar Orangen in den Entsafter, füllte ein Glas, leerte es in einem Zug und setzte sich dann an die Frühstückstheke. Er trank seinen Kaffee und blätterte kurz durch die Seattle Times, die er abonniert hatte.

Seine Frau schlief immer noch, als er um Viertel vor acht den luxuriösen Bungalow im Stadtteil Bellevue verließ. Er stieg in seinen dunkelblauen Lexus LS und machte sich auf den Weg zur Seward Park Privatklinik, die im gleichnamigen Bezirk lag. Nach knapp zwanzig Minuten stellte er den Wagen auf dem für ihn reservierten Parkplatz ab und betrat das Gebäude.

Auf dem Weg zu seinem Büro begegneten ihm etliche Kollegen und Mitarbeiter, deren freundliche Grüße er ebenso liebenswürdig erwiderte. Dort angekommen tauschte er sein Jackett gegen einen weißen Kittel mit aufgesticktem Namen, setzte sich an seinen penibel aufgeräumten Schreibtisch, fuhr seinen PC hoch und bearbeitete den Inhalt seiner Mailbox.

Um neun Uhr begann die Visite, geleitet von Chefarzt Dr. Richard Watson, Julians Schwiegervater und Inhaber der Klinik. Der Reihe nach betraten sie die Krankenzimmer, gingen die jeweiligen Krankenakten durch, sprachen mit den Patienten und ordneten die weitere Behandlung an.

Julian erfreute sich bei den Patienten großer Beliebtheit, man konnte es an den freudigen Gesichtern sehen, sobald er an ein Bett trat. Er strahlte Ruhe und Kompetenz aus, hörte geduldig zu, beantwortete Fragen in allgemein verständlichen Worten und spendete Trost.

Anschließend spulte sich der gewohnte Klinik-Alltag ab. Untersuchungen, Gespräche mit Patienten und Angehörigen, ärztliche Konsile, chirurgische Eingriffe, Meetings und jede Menge Papierkram. Mittags aß er rasch ein Sandwich an seinem Schreibtisch, und als er am Abend gegen acht Uhr endlich die Klinik verließ, fragte Julian sich wie so oft, wo nur die Zeit geblieben war.

Sein Magen knurrte, als er zwanzig Minuten später die Haustür aufschloss, doch statt des erhofften Dufts eines köstlichen Essens empfing ihn lediglich der leichte Zitronengeruch der Möbelpolitur. Seine Krawatte lockernd ging Julian hinüber ins Schlafzimmer. Im angrenzenden Ankleideraum traf er auf seine Frau, die sich in einem eleganten Cocktailkleid vor dem Spiegel hin und her drehte.

Er runzelte die Stirn. In seinem Terminkalender war nichts für diesen Abend eingetragen, dessen war er sich sicher.

»Habe ich eine Einladung vergessen?«, fragte er dennoch.

»Nein, ich gehe mit Ellen aus.«

Julian fädelte seine Krawatte in den dafür vorgesehenen Halter. »Ellen?«

»Die große Blonde aus dem Country-Club, du weißt schon. Ihr Mann …«

»Du warst gestern erst unterwegs.«

»Ja, und?«

»Ich dachte, wir würden mal wieder etwas Zeit miteinander verbringen.«

Audrey schürzte die Lippen. »An mir liegt es nicht. Du bist derjenige, der sich nächtelang in der Klinik herumtreibt, also glaube nicht, dass ich hier herumsitze und warte, bis dir mal wieder einfällt, dass du auch noch eine Frau hast. Ich habe keine Lust, in diesem Mausoleum zu versauern, und wenn du keine Zeit für mich hast, vergnüge ich mich eben anderweitig.«

Resigniert wandte Julian sich ab. Ihm stand jetzt nicht der Sinn nach einer Diskussion, zumal diese sich sowieso nur wieder im Kreis drehen würde, wie er aus Erfahrung wusste. Er war hungrig, wollte die Füße hochlegen und sich noch einen Augenblick entspannen, bevor er schlafen ging – Streit stand nicht auf seiner Agenda für diesen Abend.

»Schön, dann wünsche ich dir viel Spaß«, sagte er, während er sein Hemd in einen bereitstehenden Wäschesack für die Reinigung legte und seine Hose auf einen Bügel hängte.

»Den werde ich ganz sicher haben.«

Audrey rauschte davon, ohne sich zu verabschieden, und Julian betrat das Bad. Nach einer raschen Dusche zog er eine bequeme Jeans und ein T-Shirt an, dann stapfte er hinüber in die Küche. Er warf einen kurzen Blick in den Kühlschrank und verzog das Gesicht, als er sah, dass dieser genauso leer war wie am Morgen.

Er griff nach seinem Handy, suchte den Adressbucheintrag seines Lieblingsdiners heraus, und während er darauf wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde, fragte er sich, ob ihm der Laden nicht eigentlich schon gehören müsste, so oft, wie er dort bestellte.

»Doc Taylor«, wurde er dann auch direkt fröhlich begrüßt. »Mac ’n’ cheese mit Hähnchen?«

»Ja Mike, einmal wie immer.«

»Zwanzig Minuten.«

Julian bedankte sich, legte das Telefon weg und ging die Post durch, die wie üblich auf einem zierlichen Tischchen in der Halle lag – Audrey gab sich nicht mit solch profanen Dingen ab.

Wenig später traf seine Bestellung ein. Er drückte dem Lieferjungen ein großzügiges Trinkgeld in die Hand und setzte sich an den Esstisch, wo er hungrig zulangte und dabei die Seattle Times noch einmal etwas gründlicher studierte. Anschließend schaltete er das Radio der Stereoanlage ein, und als die sanften Klänge von Paul de Sennevilles Mariage d’Amour durch den Raum schwebten, machte er es sich mit einer medizinischen Fachzeitschrift in einem der ledernen Sessel bequem. Dort saß er und las, bis ihm beinahe die Augen zufielen. Nach einem kurzen Abstecher ins Bad ging er ins Schlafzimmer, legte sich hin und schaltete das Licht aus.

Bevor er einschlief, ließ er noch einmal den Tag Revue passieren. Er dachte daran, wie verliebt Audrey und er anfangs gewesen waren, dachte an ihre gemeinsamen Träume von Kindern und einer Praxis auf dem Land, und stellte fest, dass sich unbedingt etwas ändern musste, sowohl beruflich als auch privat.

Kapitel 2

Drei Tage später, es war früh am Samstagvormittag, läutete Julians Handy. Er nahm das Gerät vom Tisch und sah auf dem Display die Nummer seines Onkels.

»Onkel Frank«, meldete er sich erfreut, »schön, dass du anrufst.«

»Ich freue mich auch, deine Stimme zu hören. Es ist eine Weile her, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben.«

Ein Anflug von Schuldbewusstsein schlich sich in Julians Gedanken. Frank Taylor war der Bruder seines Vaters und seit dessen Tod nicht nur sein Mentor, sondern auch sein Freund. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »in der Klinik ist immer viel los, und …«

»Schon gut, du musst mir nichts erklären, ich verstehe das. – Wie geht es dir?«

»Soweit gut, bis auf den Stress im Job. Und du?«

»Ach«, Frank lachte, »du weißt doch, Unkraut vergeht nicht. Aber weshalb ich anrufe – hast du heute schon etwas vor, oder hättest du Zeit, dich mit deinem alten Onkel zum Mittagessen zu treffen?«

Julian zögerte kurz. Eigentlich war er mit seinem Schwiegervater zum Golfen verabredet, aber große Lust hatte er keine. Es ging sowieso nur darum, sich in dem noblen Country Club sehen zu lassen, Beziehungen zu knüpfen und belanglosen Small Talk zu führen.

»Gerne«, stimmte er zu, »wann und wo?«

»Sagen wir um zwölf im Butcher’s Table?«

»Einverstanden.«

Sie verabschiedeten sich, Julian drückte das Gespräch weg und stellte direkt im Anschluss eine Verbindung mit Richard Watson her.

»Ich bin es«, sagte er, als sein Schwiegervater sich gemeldet hatte, »es tut mir leid, aber ich kann heute nicht zum Golfen kommen.«

»Ist etwas passiert?«

»Nein, ich gehe mit meinem Onkel zum Essen.«

»Aha.« Es entstand ein kurzes Schweigen in der Leitung. »Na gut«, fuhr Richard dann gedehnt fort, »aber nächste Woche erwarte ich dich wieder hier im Country Club. Du weißt, dass es wichtig ist, sich die Sponsoren für die Klinik warmzuhalten, und wenn du den Laden irgendwann übernehmen willst, musst du die richtigen Kontakte haben.«

Julian unterdrückte ein Seufzen. »Ich weiß. Und ich werde nächste Woche wieder dabei sein, versprochen.«

»Gut. Dann bis Montag. Grüß Audrey von mir.«

»Mache ich.«

 Nachdem er das Smartphone weggelegt hatte, fragte Julian sich, wann die ganze Situation begonnen hatte, ihn zu nerven.

Als er damals die Stelle in der Privatklinik bekommen hatte, war es ihm wie ein Glückstreffer erschienen. Hier konnte er spielend das Geld verdienen, das er benötigte, um sich irgendwann seinen Traum von der Praxis auf dem Land zu erfüllen. Anfangs hatte ihm die Arbeit auch Spaß gemacht. Die Klinik war hochmodern eingerichtet, das Personal qualifiziert, der Verdienst üppig und der Chef mochte ihn, sodass er innerhalb kürzester Zeit zu dessen Stellvertreter avanciert war. Gut, vielleicht hatte ihm auch die Hochzeit mit Audrey ein paar zusätzliche Pluspunkte eingebracht, aber das war nicht der Grund gewesen, weshalb er sie geheiratet hatte.

Inzwischen war seine Euphorie völlig verschwunden. Er liebte seinen Beruf, er liebte es, für die Patienten da zu sein, sich um ihre kleinen und großen Wehwehchen zu kümmern, doch für seinen Schwiegervater stand nicht das Wohl der Menschen, sondern der Profit an erster Stelle. Natürlich musste die Klinik sich irgendwie finanzieren, aber Julian missfiel es, dass dadurch die falschen Prioritäten gesetzt wurden.

Hinzu kam, dass seine Ehe sich in eine Richtung entwickelt hatte, die ihm überhaupt nicht behagte.

Er hatte Audrey auf einer Weihnachtsfeier kennengelernt, die Richard Watson für seine Mitarbeiter ausgerichtet hatte. Julian war zu diesem Zeitpunkt noch nicht lange in der Klinik gewesen und hatte sich etwas deplatziert gefühlt, bis er mit Audrey ins Gespräch gekommen war. Sie hatten sich den ganzen Abend unterhalten und anschließend für das Wochenende zum Essen verabredet. Danach waren sie regelmäßig miteinander ausgegangen, er hatte sich bis über beide Ohren verliebt, und als Richard irgendwann das Thema Hochzeit anklingen ließ, schien es ihm der richtige Schritt zu sein.

Anfangs lief alles gut. Audrey hielt ihm den Rücken frei, umsorgte ihn, bestärkte ihn in seinen Plänen von einer Praxis auf dem Land und teilte seinen Wunsch nach einer eigenen Familie.

Inzwischen sah das anders aus. Sie hatten sich kaum noch etwas zu sagen, jeder machte sein Ding, es gab keine gemeinsamen Unternehmungen, und er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal Zärtlichkeiten ausgetauscht oder Sex gehabt hatten. Er wusste, dass dies größtenteils an ihm lag. In der Klinik war er oft so überlastet, dass er abends hundemüde nach Hause kam und nur noch schlafen wollte – sofern er keine Nachtschicht hatte oder wegen eines Notfalls aus dem Bett gerufen wurde.

Nein, dies war nicht das Leben, das er sich vorgestellt hatte, daran konnte auch der luxuriöse Bungalow, den sein Schwiegervater ihnen zur Hochzeit geschenkt hatte, nichts ändern. Im Gegenteil, er kam sich vor wie ein Vogel im goldenen Käfig und sehnte sich immer mehr danach, seine Flügel auszubreiten und zu fliegen.

Nachdem er noch eine Weile gegrübelt hatte, zog er sich um und machte sich auf den Weg nach Downtown Seattle.

Das von außen eher unscheinbar wirkende Lokal war innen überraschend groß, und erinnerte mit den massiven Holzbalken, der rustikalen Einrichtung und der langen Theke mit den ledernen Barhockern ein wenig an einen Saloon. Aromatische Düfte durchzogen den Raum und Julian lief das Wasser im Mund zusammen.

Das Restaurant war gut besucht, dennoch entdeckte er seinen Onkel beinahe sofort an einem Tisch im hinteren Bereich und steuerte zielstrebig auf ihn zu.

Die beiden Männer begrüßten einander mit einer Umarmung, dann ließ Julian sich auf einem Stuhl gegenüber von Frank nieder und stöhnte.

»Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich mich auf ein Steak freue. Ich liebe Mac’n’cheese, aber ab und zu brauche ich doch mal ein ordentliches Stück Fleisch.«

Sein Onkel schmunzelte. »Dachte ich mir, deswegen habe ich auch das Butcher’s ausgewählt.«

Die Bedienung erschien, sie bestellten beide ein Filet Mignon mit Beef Fat Fries und hausgemachter Srirachasoße, dazu orderte Frank eine Flasche Cabernet Sauvignon 2014 aus dem Napa Valley.

Nachdem der Wein serviert worden war, prosteten sich die beiden Männer zu, tranken einen Schluck und begannen eine lockere Unterhaltung.

»Wie läuft es in der Klinik?«, wollte Frank irgendwann wissen.

Julian verzog das Gesicht. »Abgesehen von dem Stress sehr gut, aber ich weiß nicht, ob ich das noch lange machen möchte.«

»Immer noch Sehnsucht nach einer Landarztpraxis?«

Nachdenklich drehte Julian sein Weinglas in den Händen. Eine eigene Praxis auf dem Land war seit Ewigkeiten sein Traum. Sein Vater hatte bis zu seinem Tod eine Arztpraxis in Buckley geführt, einem Vorort von Seattle, und etwas Ähnliches schwebte ihm ebenfalls vor.

»Ja«, gab er zu, »daran hat sich nichts geändert.«

Frank lächelte. »Gut, denn aus genau diesem Grund wollte ich mich mit dir treffen. Ich hätte da vielleicht etwas für dich. Ein Kollege von mir hat einen Bekannten, der wiederum einen alten Studienfreund hat, der sich zur Ruhe setzen und seine Arztpraxis auf dem Land verkaufen will.«

»Irgendwie klingst du so, als käme jetzt gleich ein ›Aber‹. Wo ist der Haken?«

Das Essen wurde serviert, was für eine kurze Unterbrechung sorgte.

»Die Praxis liegt in Idaho«, nahm Frank den Faden wieder auf, nachdem die Bedienung verschwunden war.

»Idaho«, wiederholte Julian verblüfft.

»Genauer gesagt, in Elkpoint, Idaho. Ein kleiner Ort am Fuße der Rockies, mit rund siebenhundert Einwohnern. Die nächste größere Stadt, Idaho Falls, ist zwei Stunden Autofahrt entfernt – es ist also wirklich sehr abgelegen.«

»Uff.«

Julian spießte ein paar Fries auf seine Gabel und schob sie in den Mund. Idaho war nicht unbedingt das, was er sich vorstellte, wenn er von seiner eigenen Praxis träumte. Eigentlich hatte er in der Nähe von Seattle bleiben wollen, nicht zuletzt wegen seines Onkels und seiner Mutter, die in einem Apartment in The Hearthstone lebte, einer Seniorenresidenz im Norden der Stadt. Andererseits war Idaho nicht das Ende der Welt, und mit dem Flieger würde die Entfernung kein Problem darstellen.

»Die Praxis floriert«, fuhr Frank fort, »und das Beste ist: Es ist ein ganzes Haus, du hättest also auch gleich eine Wohnung und müsstest dich nicht nach einer anderen Unterkunft umschauen.«

In Julians Kopf entstanden Bilder, Bilder eines kleinen, malerischen Ortes, umgeben von hohen Bergen. Er sah sich selbst vor einem Landhaus stehen und mit einem Patienten sprechen, der gerade vorbeiradelnde Postbote grüßte ihn mit einem freundlichen Winken. Im Vorgarten tollte ein Hund herum, zusammen mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Audrey – mit deutlich sichtbarem Babybauch – saß mit Strickzeug in der Hand auf einer Bank, beaufsichtigte die beiden und warf ihm ein liebevolles Lächeln zu, als er mit dem Patienten ins Haus ging.

»Julian?« Die Stimme seines Onkels riss ihn aus seinen Tagträumereien.

»Entschuldige, ich war für einen Moment in Gedanken.«

Frank lächelte nachsichtig. »Das habe ich gemerkt. – Also, wenn du an der Praxis interessiert bist, solltest du sie dir vielleicht mal ansehen.«

»Sehr gerne«, stimmte Julian zu, ohne lange zu überlegen.

»Okay, dann stelle ich den Kontakt her, alles Weitere kannst du selbst regeln.« Frank hob sein Glas und prostete ihm zu. »Ich drücke dir die Daumen und hoffe, dass du nicht enttäuscht sein wirst.«

Julians Herz klopfte etwas schneller, als er daran dachte, wie nahe er seinem Traum war und was das für ihn bedeuten würde. Endlich könnte er der Klinik den Rücken kehren, und auch seinem Schwiegervater, der ihm mit Dollarzeichen in den Augen auf die Finger schaute. Kein Netzwerken im Country Club mehr, keine versnobten Patienten, stattdessen könnte er endlich seiner Berufung folgen und wahren Dienst am Menschen leisten.

Diese Vorstellung hob seine Laune und plötzlich fühlte er sich quicklebendig. Er lächelte und ließ sein Weinglas gegen das seines Onkels klingen. »Wir werden sehen, aber ich glaube, es könnte genau das sein, was ich mir immer vorgestellt habe.«

 

♥ ♥ ♥

 

Zwei Stunden später hatte Julian mit dem Inhaber der Landarztpraxis, Dr. Lawson, Kontakt aufgenommen und einen Besichtigungstermin für den nächsten Tag vereinbart.

Audrey schlief noch, als er am frühen Sonntagmorgen aufbrach. Er hatte ihr nichts von seinem Vorhaben erzählt, da er sie überraschen wollte. Zwar hatten sie schon eine geraume Weile nicht mehr über dieses Thema gesprochen, doch er war sicher, dass sie sich darüber freuen würde. Außerdem wusste er ja nicht, ob es überhaupt klappen würde, und wollte ihr eine Enttäuschung ersparen.

Er ließ sich mit einem Taxi zum Seattle-Tacoma International Airport bringen, von dort flog er nach Idaho Falls und fuhr dann mit einem Leihwagen in Richtung Norden.

Als er den Highway 93 verließ und ein weißer Kirchturm in Sicht kam, machte Julians Herz einen Sprung. Aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsabend schaute er aus dem Fenster und versuchte jede Einzelheit des Städtchens, in das er hineinfuhr, in sich aufzusaugen. Die Hauptstraße war belebt, aber nicht überfüllt. Viele, kleine Läden säumten die sauberen Gehwege, es gab ein Inn, einen Store und sogar ein Kino.

Julian bog nach links in eine Seitenstraße ab, dann noch einmal nach rechts und stoppte Sekunden später vor einem großen, zweistöckigen Haus im Kolonialstil.

Kaum war er ausgestiegen, öffnete sich auch schon die Haustür und ein älteres Ehepaar trat heraus.

»Sie müssen Dr. Taylor sein«, begrüßte der Mann ihn. »Ich bin Donald Lawson, und das ist meine Frau Ruth, die gute Seele des Hauses. Sie war bisher als Sprechstundenhilfe für mich tätig, wird sich jetzt aber zusammen mit mir zur Ruhe setzen.«

Julian reichte erst Ruth, dann Donald die Hand. »Julian Taylor.«

Nachdem sie einander begrüßt hatten, ging Donald voran ins Haus.

»Fangen wir doch gleich mit dem Wichtigsten an«, schlug er vor, während er eine Tür öffnete, »mit der Praxis.«

Sie betraten die Rezeption, von dort aus führte der Arzt ihn durch die übrigen Räume. Neben Sprechzimmer, Wartezimmer und einem Bad gab es noch ein Labor, eine Küche, einen kleinen Aktenraum sowie ein weiteres Zimmer, das bis auf einige Kartons leer war.

Während des Rundgangs stellte Donald einige Fragen zu Julians beruflichem Werdegang und erkundigte sich interessiert nach seiner Arbeit in der Klinik. Julian war klar, dass der Arzt sicherstellen wollte, sein Lebenswerk in kompetente Hände abzugeben, und hoffte, dass er die Prüfung bestehen würde, denn was er hier sah, gefiel ihm. Die Praxis war groß, die Zimmer geräumig, und mit ein paar Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten ließ sich etwas daraus machen.

»Prima«, nickte er zustimmend, nachdem er sich gründlich umgeschaut hatte. »Genau das, was ich mir immer vorgestellt habe.«

Donald Lawson lächelte. »Das freut mich. Ehrlich gesagt versuche ich schon seit einer geraumen Weile einen Nachfolger zu finden, doch niemand ist bereit, in eine solche Einöde zu ziehen, schon gar nicht jüngere, aufstrebende Ärzte.«

»Ich denke schon seit längerem über eine Veränderung nach. Mein Vater besaß auch eine Praxis in einem kleineren Vorort von Seattle, und es war immer mein Wunsch, auf dem Land zu leben und zu arbeiten.«

»Dann sehen Sie sich noch den Rest an.«

Sie stiegen alle hinauf in die obere Etage, wo Ruth Lawson die Führung übernahm. Die Wohnung entsprach vom Grundriss her genau der Arztpraxis, lediglich die Wände zwischen Wohnzimmer, Esszimmer und Küche fehlten, sodass sich ein großer, offener Wohnbereich ergab. Von einem Balkon aus führte eine Treppe hinunter in einen weitläufigen Garten mit üppig blühenden Rosenbüschen, der sich an die rückwärtige Seite des Gebäudes anschloss. Die Räume, die zur Straßenseite hinaus lagen, boten einen wunderschönen Ausblick auf den Stadtpark, und Julian konnte sich durchaus vorstellen, hier zu leben.

»Wir würden Ihnen den Großteil der Möbel hierlassen«, sagte Ruth abschließend. »Das Haus, das wir uns gekauft haben, ist fast vollständig eingerichtet, und wir nehmen nur ein paar Stücke mit, die uns sehr am Herzen liegen.« Mit leuchtenden Augen legte sie ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Wir freuen uns schon sehr auf unser neues Domizil, und auch auf unseren gemeinsamen Ruhestand. Nach den vielen Jahren voller Arbeit wollen wir unsere verbleibende Zeit nutzen, um ein bisschen zu reisen und es uns richtig gutgehen zu lassen.«

Julian spürte, wie verbunden die Eheleute miteinander waren. Sie erinnerten ihn an seine Eltern, und wieder keimte in ihm die Hoffnung auf, dass sich für ihn und Audrey alles zum Guten wenden würde, wenn sie erst einmal Seattle hinter sich gelassen hätten.

Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen und nickte. Zwar entsprachen die dunklen, wuchtigen Möbel nicht unbedingt seinem Geschmack, aber das konnte man ja irgendwann ändern. Wenigstens musste er sich dann nicht um die Einrichtung kümmern, sondern konnte sich zunächst voll und ganz auf die Praxis konzentrieren.

»Und«, fragte Donald gespannt, nachdem Julian sich noch einmal gründlich umgesehen hatte, »was meinen Sie?«

Julian schmunzelte. »Ich glaube, ich sollte meine Begeisterung nicht allzu sehr zeigen, um den Preis nicht in die Höhe zu treiben.«

»Also sind Sie interessiert?«

»Auf jeden Fall – sofern wir uns handelseinig werden.«

»Das werden wir ganz sicher.« Donald lächelte. »Ruth, ich glaube, ein Whiskey wäre jetzt angebracht.«

Die Arztgattin nickte, öffnete das Barfach in der wuchtigen Schrankwand und füllte zwei Gläser. Nachdem sie miteinander angestoßen und einen Schluck getrunken hatten, besprachen die beiden Männer die Einzelheiten des Verkaufs. Als sie sich über den Preis sowie einen Übergabetermin geeinigt hatten, trug Donald die Daten in einen vorgefertigten, zweifachen Kaufvertrag ein, unterzeichnete beide Exemplare und überreichte sie Julian.

»Das ist ein großer Schritt, den man nicht überstürzen sollte«, sagte er dann. »Nehmen Sie sich ruhig noch ein paar Tage Bedenkzeit, und selbstverständlich können Sie den Vertrag auch noch einmal prüfen lassen. Schicken Sie mir eine Ausfertigung zu, sobald Sie sich entschieden haben, dann können unsere Anwälte alles in die Wege leiten.«

»In Ordnung.« Nachdenklich drehte Julian die Papiere hin und her. »Wie sieht es denn mit der Übergabe aus? Wir sollten für einen möglichst nahtlosen Wechsel sorgen. Je weniger Auswirkungen der Verkauf auf die Patienten und die laufenden Behandlungen hat, desto besser.«

»Das sehe ich auch so«, stimmte Donald zu. »Ich würde vorschlagen, dass wir uns an dem Wochenende vor Ihrem ersten Arbeitstag hier in der Praxis zusammensetzen und die wichtigsten Dinge durchgehen.«

»Das klingt vernünftig. Und da Ihre Frau ja nicht länger als Sprechstundenhilfe tätig sein wird, wäre es sicher gut, so schnell wie möglich einen Ersatz einzuarbeiten, am besten noch, bevor ich übernehme. Dann habe ich jemanden, der bereits mit den Abläufen vertraut ist und muss mich nicht auch noch darum kümmern.«

»Sobald Sie den Vertrag unterschrieben haben, werden wir jemanden suchen«, versprach der alte Arzt. »Und über Vertretungen brauchen Sie sich auch keine Gedanken zu machen. Sollte mal Not am Mann sein, springen Ruth und ich gerne ein«, er zwinkerte vergnügt, »wir gehören ja noch nicht ganz zum alten Eisen.«

Julian nickte zufrieden. »Gut, dann wäre wohl soweit alles klar.«

»Ja.« Donald hob sein Whiskeyglas und prostete ihm zu. »Auf eine glückliche Zukunft hier in Elkpoint.«

Kapitel 3

Es war fast acht Uhr abends, als Julian wieder zu Hause eintraf. Er war voller Euphorie; in seinem Kopf tummelten sich bereits unzählige Ideen, wie er die Praxis gestalten wollte, und er konnte es kaum abwarten, Audrey davon zu erzählen.

Er fand sie im Wohnzimmer, ausgehfertig zurechtgemacht in einem eleganten Hosenanzug. Sie saß auf dem Sofa mit einem Modemagazin in der Hand; auf dem marmornen Couchtisch stand ein halb volles Champagnerglas.

»Da bist du ja endlich.« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll. »Wo um Himmels willen warst du denn bloß? Hast du vergessen, dass wir heute Abend bei meinen Eltern eingeladen sind?«

Julian biss sich auf die Lippe. So ein Mist. Ja, an diese Einladung hatte er über all seiner Freude gar nicht mehr gedacht.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, »ich ziehe mich gleich um. Aber vorher muss ich dir etwas erzählen.«

Audrey verzog das Gesicht und griff nach ihrem Champagner. »Wir sollten uns lieber beeilen, du weißt, dass meine Mutter es nicht leiden kann, wenn wir uns verspäten.«

»Ich werde eine Praxis kaufen«, verkündete er, »auf dem Land – genaugenommen in einem kleinen Ort in Idaho.«

Mit einem lauten Klirren stellte Audrey das Glas zurück auf den Tisch. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, und das Gute ist, es ist nicht nur eine Praxis, sondern ein ganzes Haus«, schwärmte Julian weiter, ohne auf ihre Reaktion zu achten. »Du solltest es sehen, die Villa liegt direkt am Stadtpark. Sie ist groß, die Zimmer sind geräumig und hell, und es gibt einen riesigen Garten. Sicher muss ein wenig renoviert werden, aber das überlasse ich ganz dir, du kannst alles nach deinen Wünschen streichen und einrichten, bis auf die Praxis«, er zwinkerte ihr zu, »da bin ich der Chef.«

»Julian …«

»Und der Ort – ich liebe ihn jetzt schon. Im Vergleich zu Seattle ist er winzig, aber es gibt alles, was man für den täglichen Bedarf braucht, und zwei Stunden Fahrt zur nächsten Mall sind ja auch nicht die Welt. Und die Umgebung ist wunderschön, Felder und Berge ringsherum …«

»Jaja«, unterbrach Audrey ihn, »ich glaube dir ja, dass es da schön ist – für einen Urlaub vielleicht, aber nicht, um dort zu leben.«

»Wie wäre es, wenn wir nächstes Wochenende zusammen hinfliegen und du schaust dich selbst einmal um?«

»Das ist nicht nötig, ich will hier nicht weg.«

»Was?« Irritiert runzelte Julian die Stirn. »Aber – unser Traum? Weißt du nicht mehr? Eine Praxis auf dem Land, Kinder, ein Hund …«

»Dein Traum«, erwiderte Audrey spitz. »Du hast immer davon geschwärmt, irgendwo in der Einöde Fußpilz zu kurieren und Warzen zu entfernen.«

Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Und du hast nie gesagt, dass du das nicht willst, im Gegenteil, du hast mich stets darin bestärkt.«

»Ja, das war am Anfang, als ich dir noch wichtiger war als deine Patienten.«

Julian seufzte. »Ich weiß, dass in unserer Ehe einiges schiefgelaufen ist, und ich weiß auch, dass dies größtenteils meine Schuld ist.« Er machte einen Schritt auf sie zu und griff nach ihren Händen. »Aber es wird anders werden, wenn ich erst einmal aus der Tretmühle der Klinik heraus bin, das garantiere ich dir. Ich werde einen geregelten Tagesablauf haben und mehr Zeit für dich.«

»Es wird sich gar nichts ändern.« Audrey verschränkte die Arme vor der Brust. »Deine Patienten kommen immer an erster Stelle, und ich sehe mich jetzt schon alleine in einem Haus sitzen, in dem ich mich nicht wohlfühle, während du dich in deiner Praxis austobst oder von Dorf zu Dorf kutschierst, um Hausbesuche zu machen. Hier kann ich mich wenigstens noch amüsieren, in diesem Kuhkaff werden doch garantiert um sechs Uhr die Bürgersteige hochgeklappt.«

»So wird es mit Sicherheit nicht laufen.« Beschwörend hob er die Hände. »Bitte, gib dem Ganzen eine Chance – uns zuliebe. Wir könnten einen Neuanfang machen, wieder zueinander finden und uns endlich unserer Familienplanung widmen.«

Audrey sprang auf. »Familienplanung!«, schnaubte sie verächtlich. »Ich bin doch keine Zuchtstute. Ich habe keine Lust, zwischen Windeln und Kochtopf zu versauern, während du dich von deinen Patienten beweihräuchern lässt.«

Bittere Enttäuschung breitete sich in Julian aus, er fühlte sich, als hätte man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. »Ich erkenne dich nicht mehr wieder«, sagte er fassungslos. »Was ist nur aus uns geworden?«

»Das frage ich mich schon lange«, erklärte sie achselzuckend. »Hast du den Kaufvertrag schon unterschrieben?«

»Noch nicht.«

»Dann denk nochmal in Ruhe drüber nach, ob du das wirklich tun willst, denn ich werde nicht mit dir gehen.« Audrey griff nach ihrem Glas und leerte es in einem Zug. »Solltest du tatsächlich in dieses Kuhdorf ziehen, sind wir geschiedene Leute.«

 

♥ ♥ ♥

 

Nachdem Audrey verschwunden war – sie hatte die Einladung bei ihren Eltern nicht mehr erwähnt, sondern wortlos das Haus verlassen – ließ Julian sich auf die Couch fallen und fragte sich, an welchem Punkt seines Lebens er falsch abgebogen war.

Ja, natürlich war ihm bewusst gewesen, dass es zwischen Audrey und ihm nicht mehr gut lief. Die Gefühle hatten sich beiderseits merklich abgekühlt und sie lebten nur noch nebeneinanderher. Aber er hatte immer gehofft, dass sich alles wieder geben würde, schließlich liebten sie sich – zumindest war er davon ausgegangen.

Jetzt, im Nachhinein, war er sich da auf einmal nicht mehr so sicher. Er dachte an die Ehe seiner Eltern, die er sich stets zum Vorbild genommen hatte. Sein Vater und seine Mutter waren so glücklich gewesen, sie waren immer liebevoll miteinander umgegangen. Mit Audrey hatte er das eigentlich nie so erlebt. Ja, er hatte sich damals in sie verliebt, und anfangs hatte es auch eine gewisse körperliche Anziehungskraft gegeben. Aber Audrey war nie eine besonders leidenschaftliche Geliebte gewesen, und die tiefen Gefühle, wie sie seine Eltern füreinander gehabt hatten, gab es zwischen ihnen ebenfalls nicht, musste er sich jetzt eingestehen. Vielleicht hatte er sie zu Beginn empfunden, vielleicht hatte es ihm aber auch einfach nur geschmeichelt, dass ausgerechnet die Tochter des Klinikchefs mit ihm ausging.

Sein Handy klingelte und ein Blick auf das Display zeigte ihm, dass es sein Onkel war.

»Hallo Onkel Frank«, meldete er sich.

»Hi, ich hoffe, ich störe dich nicht. Bist du schon zurück von deiner Besichtigung?«

»Ja, seit einer knappen Stunde.«

»Und – wie war es?«

Julian stand auf und ging zum Barwagen. »Besser als erwartet«, berichtete er, während er zwei Fingerbreit Whiskey in einen Tumbler goss. »Die Praxis ist ein wenig altmodisch, aber das lässt sich mit einem frischen Anstrich und ein paar neuen Möbeln ändern. Sie ist groß und geräumig, genau wie die Wohnung. Es gibt einen riesigen Garten und das Haus liegt direkt gegenüber vom Stadtpark, was für meine morgendliche Joggingrunde natürlich ideal wäre. Und Elkpoint ist wunderschön, ein ruhiger, idyllischer Ort umgeben von Bergen und Feldern …«

Frank lachte. »Das klingt, als wäre es tatsächlich genau das, was du dir vorgestellt hast. Wirst du die Praxis kaufen?«

»Würde ich sehr gerne, aber …«

»Aber?«

Julian schwenkte das Glas in seiner Hand und nahm einen Schluck. »Audrey ist dagegen.«

»Hat ihr Elkpoint nicht gefallen?«

»Ich war alleine dort, ich wollte erst sichergehen, dass es ein vernünftiges Angebot ist, und sie dann überraschen. Das ist mir wohl auch gelungen, allerdings anders als geplant. Sie will nicht aus Seattle weg und hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt – entweder die Praxis in Elkpoint oder sie.«

»Was? Wusste sie denn nicht, dass du dir immer eine Praxis auf dem Land gewünscht hast?«

Julian schloss für einen Moment die Augen und dachte nach.

Als sie sich kennengelernt hatten, hatte Audrey seine Träume geteilt: Eine Praxis auf dem Land, ein gemütliches Heim, Kinder, ein Hund. Es klang so klischeehaft, aber genau das war es, was er sich wünschte, es war sein Lebenstraum. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass die Klinik nur eine Zwischenstation auf dem Weg zu seinem endgültigen Ziel sein sollte, und Audrey hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie das genauso sah wie er. Wobei sie schon lange nicht mehr über ihre weitere Zukunft gesprochen hatten – genaugenommen hatten sie in den letzten drei Jahren kaum noch miteinander gesprochen. Er hatte gehofft, dass ein Umzug aufs Land seiner Ehe guttun würde, dass es eine Chance war, sich wieder anzunähern und ihren gemeinsamen Lebenswunsch in die Tat umzusetzen, aber anscheinend hatte er sich da geirrt.

»Sie wusste es nicht nur, sie war auch immer damit einverstanden gewesen, doch offenbar hat sie es sich inzwischen anders überlegt.« Er stieß einen Seufzer aus. »Eigentlich sollte ich mich darüber nicht wundern, zwischen uns läuft es schon seit langer Zeit mehr schlecht als recht.«

»Und was wirst du nun tun?«

»Keine Ahung. Ehrlich gesagt hat mir die Praxis wirklich gut gefallen. Es passt einfach alles, und ich würde das Angebot sehr gerne annehmen, zumal Dr. Lawson mir einen annehmbaren Preis gemacht hat.«

»Vielleicht solltest du noch einmal mit Audrey reden.«

Julian leerte sein Glas. »Das kann ich mir sparen. Ich habe vorhin schon versucht, ihr die Pluspunkte aufzuzeigen und ihr angeboten, dass wir zusammen nach Elkpoint fahren, damit sie sich alles ansehen kann, aber sie hat komplett dichtgemacht. Da sie deutlich gesagt hat, dass sie nicht mit mir gehen würde, werde ich mich wohl entscheiden müssen: Entweder erfülle ich mir meinen großen Traum oder ich bleibe in Seattle und versuche, die Scherben meiner Ehe zu kitten.«

»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …«

»Danke. aber da muss ich alleine durch.«

»Okay, dann viel Glück«, wünschte Frank. »Lass mich wissen, wie du dich entschieden hast, und falls du doch Hilfe brauchen solltest, kannst du dich jederzeit melden.«

»Ja, das mache ich. Ich rufe dich an, sobald ich weiß, wie es weitergeht.«

Die beiden Männer verabschiedeten sich, Julian füllte sein Glas nach, schaltete das Radio ein und ein Streichkonzert von Vivaldi erklang. Er setzte sich in einen der bequemen Ledersessel und überlegte, was er nun tun sollte.

Lohnte es sich denn überhaupt noch, um seine Ehe zu kämpfen? Was würde geschehen, wenn er hierbliebe? Vermutlich würde sich zwischen ihm und Audrey nichts oder nur wenig ändern, abgesehen davon, dass er in dem Bewusstsein weiterleben musste, hier gefangen zu sein und auf die Erfüllung seines Traums zu verzichten. Und war der ganze Konflikt nicht ein deutliches Zeichen dafür, dass sie sich schon viel zu weit auseinandergelebt hatten? Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er kaum noch Gefühle für Audrey hegte, und sie für ihn ebenfalls nicht mehr, sonst würde sie seinen Traum nicht so mit Füßen treten.

 Er schloss die Augen, ließ sich von den Klängen der Musik davontragen und sah sich in der Praxis von Dr. Lawson sitzen.

Die Sonne schien durch die geöffneten Fenster, eine leichte Brise trug den Geruch von frisch gemähtem Gras zu ihm herein, begleitet von Vogelgezwitscher und dem entfernten Lachen eines Kindes. Er machte ein paar Eintragungen in einer Patientenakte, legte sie dann beiseite und ging zur Tür, um den nächsten Patienten hereinzubitten, der ihn trotz sichtlicher Schmerzen freudig begrüßte. Sie plauderten ein wenig, danach begann er mit der Untersuchung …

Als er sein Glas geleert hatte, stand Julians Entschluss fest. Er sprang auf, ging in sein Arbeitszimmer, nahm den Kaufvertrag aus der Mappe, unterzeichnete ihn und bereitete ein Fax vor.

Lieber Dr. Lawson, meine Entscheidung ist gefallen. Das Original des Vertrags geht Ihnen in den nächsten Tagen per Post zu, die Anzahlung werde ich morgen veranlassen. Alles Weitere besprechen wir dann telefonisch. Viele Grüße, Julian Taylor.

Er schickte das Fax ab, kehrte zurück ins Wohnzimmer, setzte sich wieder in den Sessel und verlor sich erneut in seinen Träumen. In Gedanken fertigte er eine Liste der Dinge an, die in der Praxis zu tun sein würden, und überlegte, was er an Einrichtung brauchte und wie er die Räume gestalten wollte. Als er schließlich ins Bett ging, war es weit nach Mitternacht und Audrey noch nicht zurückgekehrt.

 

♥ ♥ ♥

 

Am nächsten Abend teilte Julian Audrey seinen Entschluss mit. Er hatte damit gerechnet, dass sie ausflippen und ein riesiges Theater machen würde. Zu seiner Überraschung nahm sie seine Worte jedoch lediglich mit einem Achselzucken und einem lapidaren »Bitte, wie du willst, ich wünsche dir viel Spaß« zur Kenntnis – in seinen Augen ein weiteres Indiz dafür, dass ihre Ehe am Ende und seine Entscheidung richtig war.

Nach der endgültigen Trennung von Audrey musste Julian sich am darauffolgenden Tag auch mit seinem Schwiegervater auseinandersetzen. Er bat ihn nach der Visite um ein Gespräch, und wie erwartet war Richard weder von der Kündigung noch von dem Scheitern der Ehe seiner Tochter begeistert.

»Audrey hat uns bereits von deinen Plänen erzählt«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Herrgott, Junge, überlege dir das doch noch einmal in Ruhe. Du hast hier alles, wovon andere ihr ganzes Leben lang träumen, und du wirst eines Tages die Klinik übernehmen – ist dir das denn nicht genug?«

»Es ist mehr als genug, aber nicht das, was ich mir wünsche.«

Richard warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Böse Zungen würden jetzt sagen, dass du undankbar bist.«

»Nein«, Julian hob abwehrend die Hände, »natürlich bin ich dir dankbar für die Chance, die du mir geboten hast. Aber ich habe dich nie im Unklaren darüber gelassen, dass ich die Klinik nur als Zwischenstation betrachte, und dass du trotzdem alles auf meinen Schultern aufgebaut hast, ist nicht mein Fehler.«

»Und Audrey?«

Müde fuhr sich Julian mit der Hand übers Gesicht. »Es tut mir sehr leid. Ich dachte, unsere Zukunftspläne wären die gleichen, zumindest hat sie mir das stets signalisiert. Jetzt scheint sie allerdings anderer Meinung zu sein, weshalb auch immer.«

»Und du willst wirklich deine Ehe für dieses Hirngespinst opfern?«

»Eine richtige Ehe führen wir schon lange nicht mehr, das dürfte dir doch auch nicht entgangen sein.«

Richard verzog den Mund und seufzte. »Sicher, ich bin ja nicht blind. Aber mit ein bisschen gutem Willen lässt sich das doch alles wieder einrenken. Du bist einfach überarbeitet, da bleibt das Familienleben schon mal auf der Strecke. Vielleicht braucht ihr beide einfach mal eine Auszeit vom Alltag – wie wäre es, wenn ich euch einen Urlaub spendiere? Auf den Bahamas zum Beispiel, oder Hawaii? Bleibt ein paar Wochen, macht euch eine schöne Zeit und danach wird alles anders aussehen, das garantiere ich dir. Und wer weiß«, er zwinkerte vielsagend, »vielleicht habt ihr ja auch schon einen kleinen Stammhalter im Gepäck, wenn ihr zurückkehrt.«

»Ein Urlaub ist nicht die Lösung«, widersprach Julian, »und ein Kind schon gar nicht.«

»Was versprichst du dir denn von dieser Praxis?« Richard wanderte ein paar Mal auf und ab, ließ sich dann auf seinen Schreibtischstuhl fallen und fixierte Julian mit eindringlichem Blick. »Ich glaube, du jagst da einer Fantasie nach, die sich in der Realität ganz anders entpuppen wird. Du hast eine romantisch-verklärte Vorstellung vom Leben eines Landarztes, aber die Wirklichkeit wird dich sehr schnell einholen. Willst du dein Talent wirklich verschwenden, indem du die Hühneraugen von irgendwelchen Bauern kurierst?«

»Mein Vater hatte eine Praxis auf dem Land, ich weiß sehr gut, was mich dort erwartet.«

Richard winkte ab. »Die Praxis deines Vaters lag in einem Vorort von Seattle, das kannst du doch nicht mit einem Kuhdorf irgendwo in den Bergen vergleichen. Junge, ich bitte dich, denk noch mal in Ruhe drüber nach.«

»Nicht nötig, meine Entscheidung ist bereits gefällt.« Julian tippte auf den Briefumschlag, den er auf den Schreibtisch seines Schwiegervaters gelegt hatte. »Meine Kündigung hast du, ich beende meinen Dienst hier fristgerecht zum Monatsende. Falls du eine Empfehlung für meinen Nachfolger möchtest – ich halte Dr. Winter für geeignet.«

Mit einem resignierten Schnauben hob Richard die Hände und ließ sie wieder sinken. »Na schön. Wie es aussieht, bist du fest entschlossen, und mir bleibt keine andere Wahl, als deine Entscheidung zu akzeptieren, auch wenn ich sie sehr bedaure. Solltest du es dir jemals anders überlegen, bist du hier jederzeit willkommen.«

»Danke. Und wie gesagt – es tut mir sehr leid wegen Audrey. Ich werde ihr hinsichtlich der Trennung keine Schwierigkeiten machen, sie kann alles behalten, und das Haus gehört ja eigentlich sowieso ihr, schließlich hast du es bezahlt.«

»Es geht nicht ums Geld, Junge.«

»Ich weiß – mir ging es auch nie darum.«

Julian nickte seinem Schwiegervater noch einmal zu, dann verließ er mit großen Schritten das Büro. Draußen atmete er tief durch und hatte plötzlich das Gefühl, jemand habe ein schweres Gewicht von seiner Brust genommen.

Kapitel 4

Wie an jedem Wochenende schlief Lynn auch an diesem Samstag aus. Es war fast Mittag, als sie aus dem Bett kroch und mit einem herzhaften Gähnen ins Bad tappte. Nach einer ausgiebigen Dusche zog sie sich an, ging in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Während die Kaffeemaschine blubbernd ihren Betrieb aufnahm, inspizierte sie den Kühlschrank und stellte fest, dass er fast leer war. Unter der Woche benötigte sie nicht viel, doch da an diesem Wochenende ihr Neffe Brian bei ihr übernachten würde, musste sie dringend ihre Vorräte auffüllen.

Sie setzte sich an den Küchentisch, trank schlückchenweise ihren Kaffee, und überlegte, was sie kochen sollte. Wobei »kochen« nicht der richtige Ausdruck war – aufwärmen oder im Ofen aufbacken traf es eher, denn mit ihren Künsten am Herd sah es äußerst bescheiden aus. Dennoch wollte sie Brian mit einem halbwegs vernünftigen Abendessen versorgen; er hatte einen gesunden Appetit und sollte auf keinen Fall hungrig ins Bett gehen.

»Chicken Wings«, entschied sie schließlich, »mit Fries, dazu einen Salat und zum Nachtisch gibt es Eis.«

Sie notierte die benötigten Zutaten auf einem Zettel, schrieb noch ein paar andere Dinge dazu und war wenig später auf dem Weg zum Store.

Elkpoint war ein kleiner Ort in Idaho, in einem Tal am Fuße der Rocky Mountains gelegen. Von den rund 700 Einwohnern kannte nahezu jeder jeden, und deswegen war Lynn auch nicht weiter verwundert, als sie den Laden in der Ortsmitte betrat und auf einige Frauen traf, die sich vor der Theke versammelt hatten und tratschten.

Sie grüßte in die Runde, schnappte sich einen Einkaufskorb und streifte dann die Regale entlang, bis sie alles eingesammelt hatte, was auf ihrer Liste stand. Sie nahm noch eine Packung ihrer Lieblingseissorte Ben & Jerry’s Peanuts Buttercup aus dem Tiefkühlschrank und trat an die Theke.

»Hast du schon gehört, dass Dr. Lawson sich zur Ruhe setzen will?«, fragte Ada Salinger, die Inhaberin des Stores, während sie die Preise in die Kasse tippte.

Lynn schaute sie überrascht an. »Echt?«

»Ja. Er und Ruth ziehen in ein Haus am Stadtrand, in der Freemont Street. Es ist einer dieser schicken Bungalows, die dort stehen und Gregory Cantrell gehören. Ich möchte nicht wissen, was Donald dafür hingeblättert hat – anscheinend verdient er ganz gut mit der Praxis.«

»Und weshalb will er sie aufgeben?«, hakte Lynn nach.

»Ruth sagt, er fühlt sich zu alt – dabei hat er doch gerade erst seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert.«

»Wer weiß, was da im Busch ist.« Nancy Beacham, die Frau des Bürgermeisters, senkte verschwörerisch die Stimme. »Wenn ihr mich fragt, ist Donald etwas komisch geworden, seit diese Sache mit Reverend Jenkins passiert ist.«

Lynn runzelte die Stirn. »Was hat Dr. Lawson denn mit den Verbrechen des falschen Reverends zu tun?«

Nancy rückte noch ein bisschen dichter heran. »Matilda sagt, der Reverend hätte Leute erpresst, und sie muss es ja wissen, schließlich war sie seine Haushälterin.«

»Und sogar selbst verdächtig,« erinnerte die Apothekerin Constance Roper die Anwesenden.

»Das ist doch Blödsinn.« Lynn schüttelte den Kopf. »Was sollte Dr. Lawson schon Schlimmes getan haben, womit ihn jemand erpressen könnte?«

»Vielleicht ein Kunstfehler«, mutmaßte Ada, während sie Lynns Einkäufe in eine Tüte packte.

»Oder er hat jemandem ein falsches Medikament verordnet und derjenige ist daran gestorben«, sagte Nancy, »so etwas soll ja häufig vorkommen.«

Constance nickte. »Ja, das stimmt. Und wenn ich sehe, was der Doktor manchmal so alles verschreibt …« Mit Daumen und Zeigefinger machte sie eine Geste über ihren Lippen, als zöge sie einen Reißverschluss zu. »Aber ich will nichts gesagt haben.«

»Wird die Praxis dann geschlossen?«, fragte Lynn, um den Spekulationen ein Ende zu bereiten.

»Ruth hat erzählt, dass ein anderer Arzt sie übernehmen wird«, berichtete Ada, »einer aus Seattle.«

Nancy rümpfte die Nase. »Ein Städter – der wird garantiert lauter neumodischen Kram einführen.«

»Das ist doch gut«, erklärte Lynn, »und wir sollten froh sein, dass sich überhaupt jemand findet, der eine Praxis auf dem Land übernehmen will, das ist heutzutage selten. Ohne Nachfolger müssten wir wegen jeder Kleinigkeit nach Arco in die Klinik fahren.«

»Mag sein. – Jedenfalls«, Ada nahm den ursprünglichen Faden wieder auf, »wird Ruth auch aufhören, und sie suchen nach einer Sprechstundenhilfe für den neuen Doktor.«

»Ruth hört auf?«, wiederholte Nancy erschrocken. »Das ist aber dumm. Wer versorgt uns denn dann mit den neuesten Neuigkeiten? Wir werden nicht mehr erfahren, wer schwanger ist, wer im Sterben liegt und«, sie errötete bis zu den blonden Haarwurzeln, »wer sich eine Geschlechtskrankheit eingefangen hat.«

Lynn verdrehte die Augen, legte den Gesamtbetrag, den die Kasse anzeigte, auf den Tresen und nahm ihre Einkäufe.

»Einen schönen Tag noch«, wünschte sie und verließ den Store.

Draußen blieb sie einen Moment stehen und grinste. Diese Klatschtanten. Sie war hier aufgewachsen und daran gewöhnt, dass das Damengeschwader sich im Laden die Mäuler über andere Leute zerriss. Aber dass man dem armen Doktor jetzt schon Falschmedikationen andichtete und verzweifelt war, weil man künftig nichts mehr über fremde Hämorrhoiden und Filzläuse erfahren würde, schlug dem Fass den Boden aus.

In sich hinein kichernd brachte sie ihre Einkäufe nach Hause, räumte alles ein und machte sich dann wieder auf den Weg, um ihren Neffen abzuholen.

Kate wohnte nur ein paar Straßen entfernt, und Brian war mit seinen zehn Jahren eigentlich alt genug, um alleine zu ihr zu gehen, doch sie holte ihn fast immer ab und nutzte die Gelegenheit zu einem kleinen Plausch mit ihrer Schwester.

»Danke, dass du Brian nimmst«, sagte Kate, nachdem sie sich kurz begrüßt hatten. »Kaffee?«

»Ja, Kaffee wäre prima«, nickte Lynn und folgte ihr in die Küche. »Und du musst dich nicht bedanken, du weißt doch, dass ich ihn gerne bei mir habe. – Wo ist Sam?«

»Im Barbershop, sich für unser Date heute Abend nochmal rasieren lassen.«

Lynn schmunzelte. »Er gibt sich große Mühe, was?«

»Er ist fantastisch«, schwärmte Kate, »und ich schulde dir ewigen Dank dafür, dass du mir seinerzeit diese Visitenkarte von der Escort-Agentur mitgebracht hast. Ohne dich hätte ich ihn nicht kennengelernt.«

»Dabei warst du anfangs so dagegen. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie du mir erklärt hast, dass du dich auf keinen Fall in einen Escort verlieben könntest.«

Kate lachte. »Ja, aber inzwischen haben sich die Dinge ja geändert und ich bin überglücklich. – Was gibt es bei dir Neues?«

»Eigentlich nichts«, erwiderte Lynn achselzuckend und trank einen Schluck Kaffee. »Kein Adonis, in den ich mich unsterblich verliebt habe, kein Lottogewinn, und Dr. Blödmann ist auch immer noch der gleiche Affenarsch wie sonst.«

»Apropos – hast du gehört, dass Dr. Lawson die Praxis aufgibt?«

»Ja, die Spatzen im Store haben es mir schon in die Ohren gepfiffen.«

Lynn berichtete von der Damenrunde im Laden und Kate lachte.

»Oh je. Der arme Doc Lawson, jetzt stempeln sie ihn kurz vor seinem Ruhestand auch noch zum Kurpfuscher ab.«

»Und stell dir vor«, Lynn imitierte den entsetzten Ton der Bürgermeisterin, »Ruth hört auch auf, und jetzt erfahren wir ja gar nichts mehr über Schwangerschaften und Analthrombosen.«

»Und Scheidenpilze und Genitalwarzen«, ergänzte Kate.

Sie lachten eine Weile, dann sagte Kate: »Aber mal im Ernst – wäre das nicht eine Chance für dich? Du willst doch schon so lange von Dr. Bowman weg, und du hättest einen Job quasi direkt vor der Haustür.«

Lynn riss die Augen auf. »Oh mein Gott, du hast recht. Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Das wäre ideal. Ich würde mir die elende Fahrerei ersparen und hätte mehr Freizeit.«

»Klingt doch super.«

»Finde ich auch. Ich werde gleich nachher eine Mappe mit meinen Unterlagen zusammenstellen, und dann rufe ich Ruth an und vereinbare einen Vorstellungstermin. – Aber jetzt ist erst mal Brian an der Reihe. Ich mache uns Essen, und ich habe ihm das letzte Mal versprochen, dass er eine Revanche für meinen Sieg beim Monopoly bekommt.«

»Wie ich ihn kenne, wartet er bestimmt schon sehnsüchtig darauf.« Kate warf ihrer jüngeren Schwester einen liebevollen Blick zu. »Du bist die beste Tante, die er sich wünschen kann.«

Sekundenlang spielte ein wehmütiges Lächeln um Lynns Lippen, dann trank sie ihren Kaffee aus und klatschte unternehmungslustig in die Hände. »Also schön«, rief sie laut, »wo ist der junge Mann, der glaubt, er könne besser mit Geld umgehen als ich?«