Diamonds & Rust

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Klappentext

Nach einer gescheiterten Beziehung nimmt Vanessa eine Stelle als Kindermädchen in einer fremden Stadt an. Der Start in ihr neues Leben verläuft keineswegs so wie geplant, und schnell stellt sie fest, dass die Arbeit im Haushalt der Familie Tanner alles andere als ein gewöhnlicher Au-pair-Job zu werden scheint …

Leseprobe

Kapitel 1

 

Nach einer langen und anstrengenden Fahrt hatte Vanessa nun endlich ihr Ziel erreicht. Der Zug war völlig überfüllt gewesen, und da sie sich keine Platzkarte leisten konnte, hatte sie den ganzen Weg gestanden. Auch für ein Taxi hatte ihr Geld nicht ausgereicht, also hatte sie sich zu Fuß auf die Suche nach der Adresse gemacht, die ihre Freundin Nicky ihr auf einen Zettel geschrieben hatte. Das Haus lag am Stadtrand von Morganville, und sie hatte einen längeren Marsch bei hochsommerlichen Temperaturen und mit schwerem Gepäck hinter sich.

Mit einem flauen Gefühl im Magen betrachtete sie das weiß gestrichene Haus, vor dem sie jetzt stand. Es machte einen sehr gepflegten Eindruck, soweit sie das von außen beurteilen konnte. Dennoch klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Bei wildfremden Leuten, weit weg von zu Hause, als Au-pair-Mädchen zu arbeiten – so eine Schnapsidee.

Sicher, nachdem sie sich von Michael getrennt hatte, als sie erfahren hatte, dass er ihre gesamten Ersparnisse mit anderen Frauen verprasst hatte, war es ihr sehnlichster Wunsch gewesen, alles hinter sich zu lassen. Doch nun rutschte ihr das Herz in die Hose, und am liebsten wäre sie auf dem Absatz umgedreht.

Im Stillen verfluchte sie ihre Freundin Nicky, die ihr diesen Job besorgt hatte.

»Eine Bekannte von mir hat einen Freund, der jemanden kennt …«, klang es noch in ihren Ohren, und sie schüttelte den Kopf über sich selbst, dass sie sich auf diesen Schwachsinn eingelassen hatte.

Aber jetzt war sie nun mal hier, und es gab kein Zurück. Einerseits hatte sie so ziemlich ihr letztes Geld für die Fahrkarte ausgegeben, andererseits erwartete man sie doch sicher auch.

»Augen zu und durch«, machte sich Vanessa in Gedanken selbst Mut, und ging auf die Haustür zu.

Auf ihr Läuten hin blieb im Haus alles still, und niemand öffnete.

Sie wusste nicht, ob sie erleichtert oder verärgert sein sollte, und wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als plötzlich ruckartig die Tür aufging und eine ältere Frau sie mürrisch anschaute.

Während Vanessa darauf wartete, dass sich ihr Herzschlag wieder beruhigte, musterte sie die Frau unauffällig. Altmodisch gekleidet und mit verkniffenem Gesicht stand diese in der Tür und schien sie ebenfalls abschätzend zu betrachten.

»Wenn das meine Arbeitgeberin ist, dann steh mir bei«, schoss es Vanessa durch den Kopf.

Doch schnell verdrängte sie diesen Gedanken wieder und bemühte sich um ein freundliches Lächeln.

»Guten Tag, mein Name ist Vanessa Strong und ich komme wegen der Arbeit als Au-pair-Mädchen.«

Sie hoffte, dass die Frau das Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkt hatte, doch statt einer Antwort trat sie beiseite und machte eine Geste, die Vanessa bedeutete, hereinzukommen. Rasch griff sie nach ihren Koffern und betrat das Haus. Was sie drinnen sah, ließ ihre Aufregung etwas schwinden – nein, das sah nicht nach den Räumlichkeiten einer Mädchenhändler-Bande oder einem zweifelhaften Etablissement aus. Ein großer, lichtdurchfluteter Wohnraum empfing sie, mit angrenzender offener Küche, alles in einem Mix aus modernem und mediterranem Stil gehalten. Bevor sie sich weiter umschauen konnte, trat die Frau zur Treppe und gab ihr ein Zeichen zu folgen. Nach wie vor hatte sie kein Wort gesprochen, und so stapfte Vanessa hinter ihr nach oben. Direkt gegenüber der Treppe öffnete die Frau die Tür zu einem Zimmer, trat beiseite und deutete hinein.

Zögernd trat Vanessa ein, und bevor sie auch nur die Gelegenheit hatte, sich umzusehen oder etwas zu sagen, wurde die Tür hinter ihr mit einem deutlichen Ruck ins Schloss gezogen.

Kopfschüttelnd stellte sie ihre Koffer ab und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

Ihr kurzzeitig gewonnener Optimismus verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Ein altes Metallbett, mit einem Bezug der auch schon bessere Tage gesehen hatte, nahm einen großen Teil des Zimmers ein.

Die Kommode sah aus, als würde sie bei der kleinsten Berührung auseinanderfallen, der Spiegel darüber war trüb.

Wände, Boden und Vorhänge sahen auch nicht vertrauenerweckender aus als der verschlissene Sessel in der Ecke.

Über allem lag ein muffiger Geruch, als wäre hier schon ewig nicht mehr gelüftet worden.

Geschockt setzte sie sich aufs Bett.

Das konnte doch alles nicht wahr sein, wo war sie denn hier hineingeraten? Bestimmt war es nur ein Traum, ein merkwürdiger, schlechter Traum …

Vanessa zwickte sich in den Arm, doch es war zwecklos – die vergilbte Tapete war immer noch da, und der muffige Geruch in dieser Rumpelkammer verursachte ihr Kopfschmerzen.

In ihrem Kopf kreisten die Gedanken wie in einem Karussell.

Am liebsten wäre sie geflüchtet, doch sie hatte nach wie vor keine Idee, wie sie ohne Geld nach Hause kommen sollte. Sicher hätte sie Nicky anrufen können, damit sie ihr Geld schickte, doch bis das ankommen würde, saß sie hier fest.

»Verdammter Mist«, fluchte sie leise.

Mit einem Ruck stand sie auf und öffnete die Tür zum Balkon.

Vorsichtig, als würde sie etwas Verbotenes tun, trat sie hinaus und atmete tief die frische Luft ein.

Neugierig sah sie sich um, ihr Blick schweifte über die Liegestühle hinweg nach unten in den Garten, wo ein Swimmingpool einladend auf Badegäste zu warten schien.

Das Haus lag direkt am Strand, sie konnte weit aufs Meer hinaus sehen und mit einem Seufzen stellte sie fest, dass es hier wunderschön war – unter anderen Umständen hätte sie sich hier wohl fühlen können.

So stand sie eine Weile und beobachtete die Wellen, die sanft an den weißen Strand plätscherten. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie würde jetzt nach unten gehen, und mit der seltsamen Frau sprechen. Bestimmt war alles nur ein Missverständnis und würde sich aufklären, wenn sie freundlich nachfragte.

Sie nahm all ihren Mut zusammen und öffnete leise die Zimmertür.

»Immerhin hat sie mich nicht eingeschlossen«, murmelte sie vor sich hin, und düstere Bilder von Entführung und Geiselnahme tauchten in ihren Gedanken auf.

»Sei nicht albern, so etwas gibt es nur in Romanen«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, als sie auf die Treppe zuging.

Im Haus war es gespenstisch still, und ihr gerade neu gewonnener Mut wollte sie wieder verlassen, doch sie zwang sich, weiterzugehen. Langsam stieg sie die Stufen hinab, vorsichtig bemüht kein Geräusch zu machen und stand schließlich in dem geräumigen Wohnraum.

Es schien niemand mehr da zu sein. Wohin zum Kuckuck war die Frau verschwunden?

Sie sah sich um. Außer der Haustür gab es nur noch eine weitere Tür – ob die Frau dort drinnen war?

Entschlossen steuerte sie auf die Tür zu, obwohl die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf ihr zurief: »Was tust du da? Lass das sein, hol deine Sachen und verschwinde hier.«

Eine kurze Sekunde zögerte sie noch, dann gab sie sich einen Ruck und öffnete energisch die Tür.

Sie stand in einem Raum, der offensichtlich als Arbeitszimmer genutzt wurde. Zwei Schreibtische mit Computern, Regale voll mit Büchern und Akten, ein Sofa, ein Stuhl zum Relaxen. Von der alten Frau war nichts zu sehen, und sie atmete erleichtert auf. Irgendwie hatte sie inzwischen Angst vor ihrer eigenen Courage bekommen, und war nun froh, sie nicht hier anzutreffen.

Ihr Blick fiel auf ein paar Zeichnungen, die an der Wand hingen, und neugierig trat sie näher. Fasziniert stellte sie fest, dass es sich um alte Baupläne handelte. Sie war so gefesselt, dass sie die Schritte nicht hörte, die sich von hinten näherten.

»Was tun Sie denn hier?«, erklang plötzlich eine dunkle Männerstimme, und es klang alles andere als erfreut.

Vanessa zuckte zusammen und fuhr herum, voll von panischer Angst, und schaute in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte.

Wie vom Blitz getroffen stand sie da und starrte den Mann an, der verärgert auf eine Antwort wartete. Sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen, ihre Knie waren weich wie Butter, und sie hätte in diesem Moment nicht sagen können, ob das von der Angst oder diesem durchdringenden Blick kam, oder beidem.

»Was tun Sie hier in meinem Arbeitszimmer?«, wiederholte er die Frage.

»Ich … ich …«, stammelte sie verwirrt, nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. »Also ich … die Frau … das Zimmer …«, setzte sie erneut an, und merkte im selben Moment, dass sie sich wie ein kompletter Idiot anhörte.

Hilflos stand sie da, wie hypnotisiert von diesen unbeschreiblich blauen Augen, die sie immer noch herausfordernd ansahen.

»Also – ich warte auf eine Antwort, oder soll ich die Polizei anrufen?«, forderte er nochmals.

In diesem Moment brach über Vanessa alles zusammen, die Müdigkeit von der langen Fahrt, der Schock über das schäbige Zimmer, die Angst, die sie seit Stunden ausgestanden hatte.

»Was ich hier tue?«, fuhr sie ihn an. »Das frage ich mich allerdings auch. Ich fahre kilometerweit hierher, und erwarte eine nette Familie mit Kind, die mich freundlich begrüßen und in ein sauberes Zimmer bringen würde, wie es mir versprochen wurde.

Stattdessen werde ich hier von einer alten Hexe empfangen, die mich in eine Rumpelkammer sperrt, in die ich nicht mal meine alten Möbel stellen würde. Ja, rufen Sie die Polizei, ich werde denen gerne erzählen, wie ich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hierher gelockt wurde, um Gott-weiß-was über mich ergehen zu lassen.«

Wie ein Wasserfall sprudelte ihr ganzer Ärger aus ihr heraus und genauso schnell, wie sie aufgebraust war, beruhigte sie sich auch wieder.

»Oh Gott, habe ich das eben wirklich gesagt?«, schoss es ihr durch den Kopf, und verlegen schaute sie zu Boden.

»Die Idee mit der Polizei lassen wir erst mal bleiben«, grinste er amüsiert, wurde dann aber gleich wieder ernst.

»Ich glaube, ich weiß, wer uns das eingebrockt hat. Bevor ich das allerdings wirklich aufklären kann, müsste ich allerdings kurz telefonieren.«

Vanessa nickte, und er deutete mit der Hand auf das Sofa, während er an ihr vorbei ging zum Telefon, das auf dem Schreibtisch am Fenster stand.

Müde setzte sie sich hin, und während er eine Nummer wählte und sein Gespräch begann, hatte sie Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten.

Zu den unglaublich blauen Augen gehörte ein sehr männliches, gut geschnittenes Gesicht und kurze, fast schwarze Haare. Er war groß und, soweit sie das unter seiner schwarzen Jeans und dem dunklen Hemd beurteilen konnte, auch kräftig.

Unter anderen Umständen hätte er ihr sicher gefallen, doch sie war müde, verschwitzt und sehnte sich nur noch nach einem heißen Bad und einem weichen Bett. Schläfrig saß Vanessa auf der Couch und hing ihren Gedanken nach; von dem Gespräch drangen nur Bruchstücke zu ihr durch.

»… hättest du mir Bescheid sagen können … was soll ich jetzt mit ihr machen … jetzt ist es sowieso zu spät … ich kümmere mich darum …«

Erschrocken fuhr sie hoch, als er plötzlich wieder vor ihr stand.

»Also, es ist so, wie ich dachte, mein Freund ist der Urheber dieser ganzen Geschichte«, erklärte er ihr. »Das letzte Au-pair-Mädchen hat ziemlich kurzfristig gekündigt, und ich konnte so schnell keinen annehmbaren Ersatz finden. Ohne dass ich es wusste, hat Jeremy sich anscheinend auch umgehört, und über hundert Ecken wohl irgendwie organisiert, dass Sie hierher kommen. Dummerweise wurde mir nicht ausgerichtet, dass Sie heute eintreffen. Ich bin auf Ihr Erscheinen also absolut nicht vorbereitet gewesen, wie Sie wohl festgestellt haben.«

»Und jetzt?«, fragte Vanessa leise, und stellte sich innerlich bereits darauf ein, dass er sie umgehend auf die Straße setzen würde.

»Ich schlage vor, ich zeige Ihnen jetzt das Badezimmer, Sie können sich dort ein wenig frisch machen, und vermutlich werden Sie ziemlich müde sein, also legen Sie sich ruhig hin. Alles Weitere klären wir morgen.«

Normalerweise hätte Vanessa widersprochen, und kurz zuckte ihr durch den Kopf, dass sie doch nicht einfach bei einem wildfremden Kerl im Haus schlafen würde, dessen Erklärungen mehr als dürftig waren.

Doch er sah nicht wie ein Verbrecher aus, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich die Augen zu schließen. Inzwischen war es dunkel draußen, ihre Beine waren von dem langen Fußmarsch wie Blei, und sie fühlte sich wie durch eine Müllpresse gequetscht.

Also nickte sie nur resigniert und folgte ihm dann die Treppe hinauf.

Er öffnete eine Tür und vor ihr lag ein Badezimmer, das ihr im Wachzustand sicher den Atem geraubt hätte, doch sie war zu fertig, um sich darüber zu freuen.

»Sie können duschen oder baden, wie Sie möchten. Handtücher liegen hier im Regal, und alles andere werden Sie wohl finden.«

Mit einem kurzen Nicken schloss er die Tür hinter sich, und ihre Schutzreflexe reichten gerade noch aus, um den Schlüssel herumzudrehen.

Rasch füllte sie die Wanne, schlüpfte aus ihren Kleidern und ließ sich dann mit einem wohligen Seufzer ins Wasser gleiten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon in der Wanne gelegen hatte, als sie merkte, dass ihr fast die Augen zufielen.

Schnell stieg sie hinaus, trocknete sich ab, und stellte dann mit Schrecken fest, dass ihre saubere Kleidung ja noch im Koffer in der »Abstellkammer« war.

Einen Augenblick zögerte sie, dann wickelte sie sich fest in ihr Handtuch ein und schlüpfte schnell aus dem Bad hinüber in ihr Zimmer.

Die Balkontür stand immer noch offen, und es roch nicht mehr ganz so abgestanden wie vorhin. Rasch schloss sie die Tür und ließ sich dann müde aufs Bett sinken.

Kurz flackerten unangenehme Gedanken in ihr auf.

Sie dachte an die merkwürdige Frau, und wo sie wohl abgeblieben war.

Sie dachte an den Mann mit den tiefblauen Augen, dessen Namen sie nicht einmal kannte.

Und sie dachte daran, dass sie seltsamerweise überhaupt kein Kind gesehen oder gehört hatte – dann schlief sie ein …

Kapitel 2

Es war später Vormittag, als Vanessa langsam erwachte. Das gute Gefühl, ausgeruht zu sein, hielt genau so lange an, bis ihr schlagartig bewusst wurde, dass sie nicht zu Hause in ihrem gemütlichen Bett lag, sondern unter einer schäbigen Bettdecke in einem fremden Zimmer.

Die Ereignisse des vorangegangenen Samstags nahmen in ihren Gedanken wieder Gestalt an, und schnell sprang sie aus dem Bett.

Sie musste jetzt endlich klären, was hier los war, mit dieser Ungewissheit würde sie es hier keine Minute länger aushalten. Rasch schlüpfte sie in eine Hose und ein Shirt, die sie achtlos aus ihrem Koffer gezogen hatte. Entschlossen ging sie nach unten, nicht sicher, was sie dort erwarten würde.

Am Esstisch saß »Blauauge«, wie sie ihn in Ermangelung eines Namens kurzerhand getauft hatte, und frühstückte. Als er sie kommen hörte, sah er auf.

»Sie haben sicher Hunger«, sagte er und deutete auf einen Platz am Tisch, wo bereits ein ansehnliches Frühstück auf sie wartete.

Ohne eine Antwort abzuwarten, goss er ihr eine Tasse Kaffee ein.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, ohne Umschweife auf das Thema loszusteuern, das ihr auf der Seele brannte. Doch angesichts der leckeren Waffeln und des dampfenden Kaffees warf sie ihre guten Vorsätze über den Haufen und setzte sich.

Blauauge hatte sich wieder seinem Teller zugewandt und schien sie nicht weiter zu beachten.

Während sie genüsslich an ihrer Tasse nippte und sich die Waffeln schmecken ließ, versuchte sie im Stillen bereits, sich ihre Fragen zurechtzulegen.

Doch gerade, als sie fertig war mit Essen, kam er ihr zuvor.

»Ich nehme an, wir sollten die weiteren Einzelheiten besprechen?«, fragte er, doch es klang mehr wie eine Feststellung, und er fuhr auch direkt fort: »Ihre Arbeitszeiten sind von Montag bis Freitag, die Wochenenden haben Sie frei. Während Danny in der Schule ist, haben Sie ebenfalls frei, davor und danach erwarte ich, dass Sie sich in angemessener Weise um ihn kümmern. Sie sind zuständig dafür, dass er ordentlich und sauber das Haus verlässt, betreuen ihn bei seinen Hausaufgaben, und beschäftigen sich in der restlichen Zeit mit ihm, sofern er nicht bei Freunden ist. Sollte ich länger arbeiten müssen, sorgen Sie für sein Abendessen.«

Sachlich spulte er sein Programm herunter, und Vanessa fühlte sich vollkommen überrumpelt. Zwar war sie genau wegen dieses Jobs, den er gerade beschrieb, hierher gekommen, aber was war mit all den seltsamen Gedanken, die ihr durch den Kopf spukten?

Ehe sie etwas antworten konnte, sprach er weiter. »Ihre Freizeit können Sie gestalten, wie Sie möchten, allerdings wünsche ich keine Partys oder Herrenbesuche hier im Haus. Während ich arbeite, möchte ich nur in äußersten Notfällen gestört werden, und mein Arbeitszimmer ist für Sie tabu, ansonsten können Sie sich hier im Haus überall aufhalten, und natürlich auch den Pool nutzen.«

Abrupt beendete er seine Ausführungen und sah sie auffordernd an. »Haben Sie noch Fragen?«

»Fragen? – Oh ja, und ob ich die habe«, schoss es ihr durch den Kopf.

Doch er schien gar keine Antwort zu erwarten, denn er stand auf und ging auf die Tür seines Arbeitszimmers zu.

»Ich hole dann jetzt den Arbeitsvertrag.«

Vanessa saß wie angewurzelt auf ihrem Stuhl und kämpfte mit sich. Gerne hätte sie widersprochen und ihn aufgehalten, denn ihre Zweifel waren keineswegs beseitigt. Andererseits hatte sie wohl keine große Wahl, sie war auf diesen Job angewiesen. So schnell würde sie nichts anderes finden, und die Aussicht, ohne Geld und Wohnung dazustehen, erschien ihr noch weniger verlockend.

»Außerdem hätte er in der vergangenen Nacht bereits Gelegenheit genug gehabt, mir etwas anzutun, wenn er das gewollt hätte«, beruhigte sie sich selbst, und beschloss widerwillig, der ganzen Sache hier doch noch eine Chance zu geben.

»Blauauge« kam mit einem Schriftstück zurück und drückte es ihr in die Hand.

Rasch überflog sie den Vertrag. Im Feld »Arbeitgeber« war als Name »David Tanner« eingetragen, und sie war ein wenig erleichtert. »Familie Tanner« hatte Nicky ihr auf den Zettel geschrieben, und so war sie nun wenigstens sicher, dass sie nicht doch an einen völlig Unbekannten geraten war. Der Rest des Vertrags bestand aus den üblichen Klauseln, Arbeitszeiten, Bezahlung, Urlaub, Kündigungsfristen – es war alles geregelt.

Während sie ihren Namen im Feld »Arbeitnehmer« eintrug, musste sie sich ein kleines Schmunzeln verkneifen. Sie hatte sich so viele Gedanken darüber gemacht, sich hier mit einem völlig Fremden einzulassen, dabei ging es ihm ja auch nicht besser, er kannte ja ebenfalls noch nicht einmal ihren Namen. Beim Ausfüllen ihrer Adresse zögerte sie einen Moment. Sie hatte ihre Wohnung aufgegeben und eigentlich zurzeit keine Anschrift. Doch sie wollte jetzt nicht riskieren, dass er es sich in letzter Minute noch anders überlegen würde, und trug kurz entschlossen die Adresse ihrer Freundin Nicky ein.

Schwungvoll setzte sie ihre Unterschrift neben seine und wiederholte die Prozedur dann noch einmal bei der zweiten Kopie.

»Gut, das war es dann fürs Erste«, nickte er, griff nach einem Exemplar des Vertrags und ging in Richtung Arbeitszimmer.

Kurz vor der Tür drehte er sich noch einmal herum.

»Ach ja, und die Sache mit Ihrem Zimmer – das wurde schon lange nicht mehr genutzt, die letzten Kindermädchen kamen immer hier aus der näheren Umgebung. Ich werde in den nächsten Tagen dafür sorgen, dass es renoviert und nach Ihren Vorstellungen ausgestattet wird.«

Verdutzt nickte sie, und bevor sie noch etwas sagen konnte, war er auch schon durch die Tür verschwunden.

Unschlüssig was sie nun tun sollte, entschied sie sich das Geschirr abzuspülen, und hing dabei ihren Gedanken nach.

»Blauauge« hieß also David und war anscheinend weder ein Mädchenhändler noch ein Drogendealer, sondern ein ganz normaler Familienvater. Zwar benahm er sich ein wenig abweisend, aber das war ihr im Grunde nur recht.

Mit keinem Wort hatte er seine Frau erwähnt, und sie wunderte sich, dass sie diese inzwischen nicht schon kennengelernt hatte, immerhin war es später Sonntagvormittag.

»Es wird einen Grund dafür geben, vielleicht ist sie verreist oder muss sonntags arbeiten«, vermutete sie.

Dann fiel ihr wieder die ältere Frau ein, die ihr am Vortag die Tür geöffnet hatte. Vielleicht war das ja seine Frau? Bei diesem Einfall grinste sie ein wenig, wirklich vorstellen konnte sie sich das nicht, aber sie hatte schon die kuriosesten Paare gesehen, es war also nicht unmöglich.

Schließlich fixierten sich ihre Gedanken auf den Punkt, der ihr am wichtigsten war:

Er hatte von »Danny« gesprochen, um den sie sich kümmern sollte, also offensichtlich sein Sohn – doch wo zum Teufel war dieses Kind?

Plötzlich ging die Haustür auf, und ein schwarzhaariger Junge stürmte herein, gefolgt von einem blonden Mann. Als das Kind Vanessa bemerkte, blieb es erschrocken stehen und starrte sie an. Auch Vanessa war verblüfft. Sofort fiel ihr die Ähnlichkeit mit David Tanner auf, das dunkle Haar, die gleichen blauen Augen – das musste also Danny sein.

Ihre Überraschung wurde noch größer, als der Mann fröhlich auf sie zu trat und ihr die Hand zur Begrüßung reichte.

»Hallo, du musst Vanessa sein.«

Völlig verdattert schüttelte sie seine Hand, unfähig etwas zu antworten. Wer war denn jetzt dieser Kerl? Und woher zum Kuckuck wusste er ihren Namen?

Er schien ihr Erstaunen zu bemerken und lachte.

»Sorry, ich habe dich wohl ein bisschen erschreckt. Ich bin Jeremy, Jeremy Brooks«, stellte er sich vor. »Ich bin ein Bekannter von Nickys Bruder«, fuhr er locker fort, als sie noch immer nicht reagierte und ihn nur fragend ansah.

»Das erklärt natürlich alles«, murmelte sie, obwohl sie immer noch Mühe hatte, die Zusammenhänge zu verstehen.

Doch dann dämmerte ihr, dass er wohl derjenige war, der ihr diesen Job hier verschafft hatte und für das ganze Chaos verantwortlich war.

Unauffällig musterte sie ihn. Er machte einen netten und offenen Eindruck, und sein jungenhaftes Lächeln war äußerst charmant.

Inzwischen war David aus seinem Arbeitszimmer gekommen und begrüßte Danny liebevoll.

»Na Kumpel, wie war euer Männerabend?«, fragte er augenzwinkernd und strubbelte dem Jungen durchs Haar.

»Wir waren im Kino, und Eis essen, und Jeremy hat mir Schachspielen beigebracht«, sprudelte Danny begeistert heraus.

Dann fiel ihm plötzlich Vanessa wieder ein, und fragend sah er zu ihr herüber.

David bemerkte seinen Blick.

»Danny, das ist Vanessa, dein neues Kindermädchen«, erklärte er.

»Hallo Danny«, begrüßte Vanessa den Kleinen freundlich. »Ich freue mich schon darauf, dich besser kennenzulernen, und ich hoffe wir kommen gut miteinander aus.«

Danny nickte zurückhaltend.

»Ich hoffe, er hat sich gut benommen?«, wandte David sich an Jeremy.

»Komm schon Dave, du weißt, dass du ihn gut erzogen hast. Wir hatten eine Menge Spaß zusammen, und ich mache das gerne jederzeit wieder.«

»Ja sicher, und nicht zu vergessen die Tatsache, dass einem scheinbar alleinerziehenden Vater mit Kind stets alle Frauenherzen zufliegen«, spottete David freundschaftlich.

Jeremy lachte. »Du hast mich mal wieder durchschaut.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, dann deutete David mit einem kurzen Nicken in Richtung seines Arbeitszimmers.

»Jeremy, kann ich dich kurz sprechen?« Als dieser fragend die Augenbrauen hob, fügte er hinzu: »Nur eine kurze Frage zu dem Auftrag, an dem du gerade arbeitest.«

»Muss das ausgerechnet am Wochenende sein?«, seufzte Jeremy, und zwinkerte Vanessa zu: »Dieser Mann kennt nur seine Arbeit.«

»Danny, warum zeigst du Vanessa nicht in der Zwischenzeit dein Zimmer?«, forderte David seinen Sohn auf.

Gehorsam ging Danny zur Treppe und Vanessa blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

David schob Jeremy ins Arbeitszimmer und schloss die Tür.

Kopfschüttelnd schaute er seinen besten Freund an, der mit einem breiten Grinsen vor ihm stand.

»Da hast du dich mal wieder selbst übertroffen«, begann er vorwurfsvoll. »Hinter meinem Rücken organisierst du ein Au-pair-Mädchen, das hier plötzlich auf der Matte steht – was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«

»Jetzt beruhige dich mal wieder«, gab Jeremy zurück, und sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Immerhin hättest du es schlechter treffen können, die Kleine ist doch süß.«

»Das ist wohl das Einzige was dich interessiert, ja? Kannst du mal einen Moment aufhören, an Frauen zu denken? Einfach eine Fremde anzuheuern, ohne Vorstellung, ohne Referenzen – auf so eine Idee kannst auch nur du kommen. Hast du bei dieser Sache auch nur für fünf Minuten mal dein Gehirn eingeschaltet?«

»Dave, nun komm mal wieder runter. Du hast ein Kindermädchen gebraucht, ich habe dir eins besorgt, wo ist das Problem? Und sie ist keine ganz Fremde, sie ist die Freundin der Schwester eines guten Bekannten von mir.«

»Freundin der Schwester eines Bekannten …«, wiederholte David ungehalten. »Manchmal frage ich mich, ob du je wirklich erwachsen wirst.«

»Naja, es tut mir leid, vielleicht hätte ich mich da wirklich nicht einmischen sollen«, sagte Jeremy zerknirscht. »Was sollen wir jetzt machen?«

»Wir? Du hast schon genug getan finde ich. Und ich? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ihr ein paar Geldscheine in die Hand drücken und sie wieder wegschicken? Ich habe mir die ganze Nacht Gedanken darüber gemacht, und mich entschieden es mit ihr zu versuchen. Ich habe ihr vorhin den Arbeitsvertrag gegeben.«

»Und das, obwohl du doch ein Vorstellungsgespräch und Referenzen erwartet hast? Mir scheint, du wirst auf deine alten Tage doch noch locker«, amüsierte sich Jeremy.

»Mein Gott, sie hat mir leidgetan – für sie war es anscheinend genauso ein Schock wie für mich. Außerdem brauche ich dringend jemanden, und sie macht auf den ersten Blick einen anständigen Eindruck. Wenn es nicht klappt, kann ich sie immer noch wegschicken.«

»So wie die unzähligen anderen Au-pairs in den letzten zwei Jahren?«

»Du weißt genau, dass ich keine andere Wahl hatte«, murmelte David resigniert. »Meinst du mir macht es Spaß, Danny alle paar Monate ein neues Kindermädchen vor die Nase zu setzen? Ich weiß, dass das alles nicht gut für ihn ist. Er braucht Halt und Geborgenheit und eine feste weibliche Bezugsperson.« Verächtlich fügte er hinzu: »Vor allem seit seine Mutter einfach abgehauen ist.«

»Du könntest dieses Hin und Her beenden, indem du dir wieder eine Frau suchst«, sagte Jeremy pragmatisch.

David zuckte zusammen, dieses Thema war sein wunder Punkt, und Jeremy wusste das ganz genau.

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich daran nicht interessiert bin? Mich auf diese Ehe einzulassen war der größte Fehler meines Lebens, das wird mir nicht noch einmal passieren.«

»Du kannst nicht den Rest deines Lebens wie ein Mönch verbringen.«

»Dieses ganze Getue um Liebe und Gefühle – alles Schwachsinn, den ich nicht brauche. Und für den Rest … lassen wir das.« Er machte eine abfällige Handbewegung. »Danny braucht mich, das ist alles was mich interessiert.«

Jeremy, der die Einstellung seines Freundes nur zu gut kannte, nickte und grinste dann.

»Allerdings solltest du dann wenigstens deinen Hausdrachen besser an die Leine legen. Wenn die so weitermacht wie bisher, wird die Kleine wohl nicht das letzte Kindermädchen sein.«

»Antonia?« David zuckte resigniert mit den Schultern. »Was soll ich machen? Sie ist außer mir der einzige feste Punkt in Dannys Leben, soll ich sie rauswerfen? Ich bin ganz froh, dass sie hier nach dem Rechten schaut und sich um den Haushalt kümmert.«

Jeremy hatte so seine Zweifel, denn Antonia war ihm in den letzten zwei Jahren immer unsympathischer geworden, doch dem Freund zuliebe schwieg er. Er wusste, dass David genug mit allem zu kämpfen hatte, und wollte ihm nicht noch zusätzliche Sorgen bereiten.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über andere Dinge, dann verabschiedete sich Jeremy, und David ging nach oben, um nach Danny zu sehen.

Unbemerkt stand er in der Tür des Kinderzimmers und sah eine Weile schweigend zu, wie Danny und Vanessa miteinander Halma spielten. Sie hatten es sich auf dem Boden gemütlich gemacht und schienen sich gut zu verstehen.

Einen Moment überlegte er, ob er die beiden stören sollte, dann räusperte er sich leise.

»Dad schau mal, ich habe schon zweimal gewonnen«, erzählte Danny ihm sofort begeistert.

David lächelte.

»Eigentlich hatte ich dir ja versprochen, dass wir zusammen schwimmen gehen, aber vielleicht magst du lieber weiterspielen?«

Unschlüssig schaute Danny von einem zum anderen.

»Geh ruhig mit deinem Dad, wir können morgen weiterspielen, wenn du möchtest«, schmunzelte Vanessa verständnisvoll.

»Du kannst ja mitkommen«, schlug Danny vor, doch sie schüttelte den Kopf.

»Ich muss noch meine Koffer auspacken, und bestimmt will dein Vater dich noch ein bisschen für sich alleine haben.«

Sie zwinkerte Danny zu, der damit zufrieden schien und in seiner Kommode nach seinen Badesachen zu kramen begann.

»Okay, dann Abmarsch Kumpel«, nickte David ihm zu und ging zur Treppe.

Bevor Danny ihm folgte, drehte er sich noch einmal zweifelnd zu Vanessa herum.

»Und du bist auch wirklich nicht böse?«

Es klang ängstlich, und in seinen blauen Augen, die denen seines Vaters so sehr ähnlich waren, lag so viel Traurigkeit, dass sie sich spontan nach unten beugte und den Kleinen an sich drückte.

»Nein, ich bin nicht böse«, versicherte sie ihm. »Mach dir einen schönen Nachmittag und habe Spaß, und tauch deinen Dad ordentlich unter.«

Zufrieden nickte Danny und folgte dann seinem Vater nach unten.

Diamonds & Rust

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Coverdesign: Marina Schuster

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