Bittersüßer Wein

Trotz ihrer Bedenken lässt die zweiundzwanzigjährige Kayla Williams sich eines Abends von ihrer Halbschwester Sharon zu einem Viererdate überreden und begegnet dabei dem verheirateten Mark Cassiani. Während Sharon sich sofort mit Marks Freund David einlässt, ergreift Kayla aufgrund eines Missverständnisses die Flucht. Als sie kurz darauf eine Arbeitsstelle auf einem Weingut im Napa-Valley antritt, stellt sich heraus, dass ausgerechnet Mark der Besitzer ist. Es dauert nicht lange, bis sich tiefe Gefühle zwischen den beiden entwickeln und eine bittersüße Romanze beginnt, die von dramatischen Ereignissen überschattet wird …

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1

Geschickt schlängelte Kayla Williams sich zwischen Blumenkübeln, abgestellten Kinderwagen und diversem Plunder hindurch über die teilweise morschen und abenteuerlich zusammengeschusterten Planken des Gate 5 der Hausbootsiedlung in Sausalito. Ihr Fahrrad neben sich herschiebend, wich sie einer streunenden Katze aus und erreichte schließlich das heruntergekommene Hausboot, in welchem sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Sharon wohnte. Das Floating Home war eine auf einem Ponton errichtete hölzerne Bude, deren einst hellblauer Anstrich inzwischen größtenteils abgeblättert war und den Blick auf verrottete Bretter freigab. Schmutzige Stofffetzen verhüllten die beiden zum Hauptsteg gerichteten Fenster, ein Stromkabel baumelte knapp über der Wasseroberfläche und verschwand in einem Loch irgendwo am unteren Rand der schwimmenden Plattform.

Vorsichtig balancierte Kayla über die schmale Holzbohle, die das Hausboot mit dem Steg verband, und winkte dabei Mrs. Patterson zu, der älteren Nachbarin zur Linken, die mit den Füßen im Wasser auf den Planken ihres Domizils saß und einen Joint rauchte. Als sie den Aufbau umrundete, traf sie auf ihre Schwester, die in einem ramponierten Korbstuhl hockte und sich die Fingernägel lackierte.

»Hi«, murmelte sie müde, während sie das Fahrrad an die Wand lehnte und ihre Tasche aus dem Korb nahm.

Sharon stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Kay, endlich, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr nach Hause.«

»Der alte Mason hat mich mal wieder länger arbeiten lassen, ich musste das Lager aufräumen.«

»Egal«, Sharon wedelte mit der Hand in der Luft herum, um den Lack zu trocknen, »vergiss diesen elenden Sklaventreiber, ich brauche deine Hilfe.«

»Was ist los?«

»Nichts Schlimmes. Ich habe heute Abend ein Date, und ich möchte, dass du mich begleitest.«

Verblüfft hob Kayla die Augenbrauen. »Und was soll ich da? Das fünfte Rad am Wagen spielen?«, fragte sie misstrauisch, denn üblicherweise ging Sharon alleine aus und verlor auch keinen Ton darüber, wo sie hinging und mit wem.

»Quatsch, natürlich nicht. Ich habe vorhin einen Mann kennengelernt und wir wollen uns nachher treffen. Allerdings hatte er bereits eine Verabredung mit seinem Freund und wollte ihn nicht versetzen, also habe ich vorgeschlagen, dass ich dich mitbringe.«

»Du hättest mich vorher fragen sollen«, erwiderte Kayla verstimmt, »ich habe keine Lust auf so etwas.«

»Ach komm schon, es wird sicher nett.« Sharon setzte einen flehentlichen Blick auf. »Bitte, lass mich nicht hängen. Wenn das heute Abend nicht klappt, hat er vielleicht kein Interesse mehr an mir, und er ist wirklich toll.«

Kayla zögerte. »Was ist mit Mom?«

»Sie hat eine halbe Flasche Fusel intus und schläft garantiert bis morgen früh. Außerdem hat Mrs. Patterson mir versprochen, später noch mal nach ihr zu sehen. Es ist also alles geregelt und wir machen uns ein paar schöne Stunden.«

»Und wohin gehen wir?«

»Das ist eine Überraschung.«

»Wir haben nicht mal etwas Vernünftiges zum Anziehen, und du weißt, dass wir uns solche Vergnügungen eigentlich gar nicht leisten können.«

Sharon winkte ab und sprang auf. »Kein Problem, es ist alles organisiert.«

Sie betrat das Innere der Holzhütte und Kayla folgte ihr. Während Sharon hinter dem Vorhang verschwand, der den Schlafbereich der beiden Schwestern vom übrigen Raum abteilte, warf Kayla einen besorgten Blick auf ihre Mutter. Bekleidet mit einem fleckigen, geblümten Kleid lag Peggy Williams schnarchend auf dem abgewetzten Sofa, das ihr gleichzeitig als Bett und Sitzgelegenheit diente. Der Boden davor war übersät mit leeren Bierdosen, Asche und Zigarettenkippen. Auf dem mit klebrigen Flecken bedeckten Couchtisch standen eine halb volle Schnapsflasche, ein überquellender Aschenbecher und ein winziges Fernsehgerät, aus dem in gedämpfter Lautstärke gerade die Titelmelodie einer Soap zu hören war.

Obwohl Kayla sich ständig bemühte, alles sauber zu halten, war das Innere der Hütte völlig verwahrlost. Dutzende von Brandflecken hatten den grauen Linoleumboden in eine unansehnliche Kraterlandschaft verwandelt. In der Kochecke rostete ein alter Herd vor sich hin, in der Spüle türmten sich schmutzige Teller und Gläser mit irgendeiner undefinierbaren Brühe darin. Die zwei Hängeschränke darüber waren schäbig, eine Tür hing schief in den Angeln, die andere fehlte vollständig und gab den Blick auf bunt zusammengewürfeltes, angeschlagenes Geschirr und ein paar Konservendosen frei. Es roch nach abgestandenem Zigarettenqualm, vergammeltem Essen und modrigem Holz.

»Himmel, wie schafft ihr es nur, innerhalb von acht Stunden so viel Chaos zu veranstalten?«, stöhnte Kayla.

Sie stellte ihre Tasche ab und wollte wie gewohnt mit dem Aufräumen beginnen, da kam Sharon hinter dem Vorhang hervor, eine große Plastiktüte in der Hand.

»Lass das«, sie nahm Kayla am Arm und zog sie mit sich, »das kannst du morgen erledigen. Wir fahren jetzt nach Mill Valley ins Community Center, duschen dort, machen uns zurecht und stürzen uns dann ins Vergnügen.«

Einige Minuten später erreichten sie den Parkplatz an der Gate 6 Road oberhalb der Hausbootsiedlung. Zielstrebig steuerte Sharon auf einen dunkelroten Pick-up zu.

»Das ist ja Justins Auto«, entfuhr es Kayla überrascht, »ist er etwa auch dabei?«

»Du bist wohl immer noch nicht über ihn hinweg, was?«, stellte Sharon fest. Als Kayla die Lippen zusammenpresste, fügte sie hinzu: »Keine Sorge, er hat mir den Wagen geliehen.«

»Was? Aber du hast doch gar keinen Führerschein …«

»Wir fahren ja nicht weit«, erklärte Sharon unbekümmert, während sie die Fahrertür aufschloss und einstieg. Sie beugte sich zur anderen Seite, entriegelte die Tür und stieß sie auf. »Jetzt komm schon, oder hast du vor, da Wurzeln zu schlagen?«

Zögernd stieg Kayla ein. »Willst du mir nicht wenigstens verraten, wo wir hingehen?«, fragte sie, als Sharon auf den Highway 101 in Richtung Mill Valley abbog.

»Also gut«, Sharon grinste, als hätte sie im Lotto gewonnen, »wir sind im Mandarin Oriental verabredet.«

Kayla stieß hörbar die Luft aus. »Bist du verrückt? Das ist eines der teuersten Hotels in San Francisco, da kommen wir niemals rein.«

»Schau mal in die Tüte.«

Mit fliegenden Fingern kramte Kayla in der Plastiktasche herum und förderte zwei elegante Cocktailkleider mit passenden Schuhen zutage.

Sie schluckte. »Wo hast du die Sachen her?«

»Ich habe dir doch von Fashion Exchange erzählt, diesem tollen Second Hand Shop in der Polk Street.«

»Woher hattest du das Geld?«

»Da waren noch fünfzig Dollar in der Schachtel unter deinem Kopfkissen.«

»Verdammt, Sharon, das war unser Haushaltsgeld für den restlichen Monat«, empörte Kayla sich. »Ich habe es versteckt, damit Mom sich keinen Schnaps davon kauft, und du hast nichts Besseres zu tun, als es für Klamotten auszugeben.«

»Jetzt reg dich nicht auf«, beschwichtigte Sharon sie mit unbekümmerter Miene, »wenn alles klappt, war das eine lohnende Investition.«

***

Mark Cassiani saß in seinem Büro und ging einige Unterlagen durch, als das Telefon klingelte.

»Hey alter Junge«, ertönte die Stimme seines Freundes David Stills, nachdem er sich gemeldet hatte, »endlich erreiche ich dich, ich habe es bereits ein paar Mal versucht.«

»Es soll Leute geben, die ernsthaft arbeiten und nicht nur hinter dem Schreibtisch herumlungern und ihren Klienten teure Rechnungen ausstellen«, spottete Mark.

David lachte. »Wenn es nur so einfach wäre. – Weshalb ich anrufe: Ich wollte doch nachher bei dir vorbeikommen, aber es gibt da eine kleine Planänderung. Schmeiß dich ein bisschen in Schale, wir gehen aus.«

»Was hast du vor?«

»Ich habe heute Mittag eine heiße Frau kennengelernt und mich mit ihr verabredet. Weil ich dir nicht absagen wollte, hat sie vorgeschlagen, ihre Schwester mitzubringen – wir haben also ein Vierer-Date.«

»Vergiss es. Da kannst du schön alleine hingehen.«

»Jetzt komm schon, stell dich nicht so an. Das ist eine gute Gelegenheit für dich, mal aus deinem Trott herauszukommen und dich ein bisschen zu amüsieren. Du bist schließlich erst dreißig und nicht scheintot.«

Mit einem leisen Seufzen verdrehte Mark die Augen. Ihm war vollkommen klar, was David im Sinn hatte. Als Scheidungsanwalt mied er jegliche feste Beziehung, frönte dafür jedoch ausgiebig seinem Vergnügen.

»Ich stehe nicht auf diese Art von Amüsement, das dürfte dir doch bekannt sein«, erwiderte er trocken.

David schnaubte. »Himmel, das erwartet ja auch niemand. Ein nettes Abendessen, ein paar Drinks, und dann sehen wir, was sich so ergibt.«

»Dave …«

»Na los, gib dir einen Ruck. Mit zwei Frauen werde ich alleine nicht fertig.«

Mark konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Das glaube ich kaum.«

»Von mir aus kannst du dich ja zurückhalten, aber verdirb mir wenigstens nicht den Spaß und komm mit.«

»Also gut, meinetwegen«, gab Mark seufzend nach. »Wann und wo?«

»Um acht im Mandarin Oriental. Ich habe einen Tisch im Restaurant reserviert und eine Suite mit zwei Schlafzimmern gemietet, damit stehen uns alle Möglichkeiten offen.«

»Sehr vorausschauend.«

»Tja, das liegt an meinem Beruf«, Davids Grinsen war förmlich zu hören, »da muss man immer einen Schritt vorausdenken. – Bis später dann.«

»Bis später.«

Mark legte auf und vernahm im gleichen Augenblick ein leises Rascheln hinter sich. Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass es seine Frau war, und er wusste auch, dass sie bereits seit einer Weile in der Tür gestanden und zugehört hatte. Die Gummireifen ihres Rollstuhls machten keinerlei Geräusche auf dem blank polierten Holzfußboden, und Linda Cassiani nutzte diesen Umstand häufig, um scheinbar aus dem Nichts aufzutauchen.

»Wer war das?«, fragte sie.

»Dave.«

»Ihr geht aus?«

Der vorwurfsvolle Ton in ihrer Stimme war nicht zu überhören, und Mark zögerte einen Moment, bevor er antwortete.

»Ein Geschäftsessen.«

»Aha. Und das muss unbedingt abends sein?«

Er drehte sich um und musterte sie. Wie immer hatte sie den Mund zu einer schmalen Linie zusammengekniffen, ihre blassblauen Augen glitzerten kalt.

»Linda, bitte, ich habe jetzt keine Lust, darüber zu diskutieren.«

»Als deine Frau ist es wohl mein gutes Recht zu erfahren, wo du dich herumtreibst.«

»Ich treibe mich nicht herum, ich bin mit Dave verabredet.« Mark erhob sich. »Entschuldige, aber ich muss mich duschen und anziehen.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er sich an ihr vorbeigeschoben, verließ den Raum und stieg die Treppe hinauf in die obere Etage. In seinem Schlafzimmer nahm er sich frische Shorts aus der Kommode und betrat das Bad.

Während er unter der Dusche stand und das warme Wasser genoss, plagte ihn sein schlechtes Gewissen. Obwohl er nicht vorhatte, sich auf irgendwelche Eskapaden einzulassen, fühlte er sich schuldig, und er spielte mit dem Gedanken, David anzurufen und abzusagen.

Doch dann dachte er daran, dass er schon ewig nicht mehr ausgegangen war, dass er kaum noch Spaß hatte, und dass ihm ein zwangloses Essen in netter Gesellschaft sicher guttun würde.

Entschlossen seifte er sich ein und wusch sich die Haare. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, rasierte er sich sorgfältig, trug Aftershave auf und putzte sich die Zähne. Er schlüpfte in Shorts, Socken, eine anthrazitfarbene Hose und ein hellgraues Hemd, anschließend suchte er eine passende Krawatte heraus. Mit dem Jackett über dem Arm verließ er eine knappe Stunde später das Haus und machte sich auf den Weg nach San Francisco.

***

Es war beinahe acht Uhr, als Sharon und Kayla Downtown San Francisco erreichten. Da das Hausboot nur ein WC und das Spülbecken in der Kochecke besaß, hatten sie im Schwimmbad des Community Center in Mill Valley geduscht und sich danach sorgfältig zurechtgemacht. Kayla hatte darauf bestanden, das schlichtere, dunkelblaue Kleid anzuziehen. Es war zwar ebenso eng anliegend und kurz wie das pinkfarbene, das ihre Schwester trug, hatte aber einen dezenteren Ausschnitt. Beide hatten die Haare hochgesteckt, und Sharon, die im Umgang mit Kosmetikartikeln geübt war, hatte Kayla trotz deren Gegenwehr ein leichtes Make-up verpasst.

In der Pine Street stellte Sharon den Wagen ab. »Es ist besser, wenn wir hier parken, mit der Karre können wir nicht beim Mandarin vorfahren.«

»Es wäre noch besser, wir würden das Ganze bleiben lassen«, murmelte Kayla trocken, während sie ausstieg und dann auf den ungewohnt hohen Absätzen hinter Sharon her trippelte.

»Jetzt hab dich nicht so. David ist Anwalt und scheint ziemlich vermögend zu sein, und falls sein Freund auch nur halb so gut aussieht wie er, wird es bestimmt ein amüsanter Abend.«

Abrupt blieb Kayla stehen und starrte sie an. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Sollte der Kerl wirklich so viel Geld haben, wie du glaubst, wird er sich garantiert nicht mit uns abgeben.«

»Immerhin hat er mich eingeladen.«

»Meine Güte, es ist ja wohl klar, worauf er es abgesehen hat.«

»Und wenn schon«, ungerührt zuckte Sharon mit den Achseln, »solange er sich als großzügig erweist, habe ich kein Problem damit.«

Fassungslos schüttelte Kayla den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Hast du etwa vor, mit diesem Typ ins Bett zu gehen und dich dafür bezahlen zu lassen?«

»Quatsch. Aber es ist doch nichts dagegen einzuwenden, Spaß zu haben, und falls er sich hinterher angemessen bedanken will, werde ich bestimmt nicht Nein sagen.«

»Vergiss es, da mache ich nicht mit.« Abwehrend verschränkte Kayla die Arme vor der Brust. »Ohne mich.«

Sharon schaute ihre Schwester einen Moment schweigend an, dann griff sie nach ihren Händen.

»Jetzt komm schon«, sagte sie beruhigend, »es ist wirklich nichts dabei. Wir gehen essen und verbringen ein paar schöne Stunden mit zwei tollen Männern. Das ist doch mal etwas anderes, als Abend für Abend in unserer Bretterbude herumzusitzen oder sich mit den Versagern aus der Nachbarschaft abzugeben. Du solltest es genießen, wer weiß, wann du mal wieder so eine Gelegenheit bekommst.«

Der unangenehme Druck in Kaylas Magen verstärkte sich, denn sie ahnte, dass die ganze Sache nicht so harmlos war, wie Sharon vorgab. Am liebsten hätte sie sich auf dem Absatz umgedreht und wäre nach Hause gefahren. Doch ihr war klar, dass Sharon sich ihr Vorhaben nicht ausreden lassen würde, also nickte sie schließlich.

»Na gut. Aber nur ein Abendessen, versprich mir das.«

Sharon grinste breit, hakte sie unter und zog sie mit sich in Richtung des Mandarin Oriental, das bereits in Sichtweite war. »Schauen wir einfach, was sich ergibt, okay?«

2

Mark und David saßen in der Lounge des Hotels und unterhielten sich leise, als Kayla und Sharon die Halle betraten.

»Da sind sie«, raunte David Mark zu. »Und – habe ich dir zu viel versprochen?«

Dieser warf einen Blick auf die beiden Frauen. »Dio, deine Eroberungen werden immer jünger – du wirst irgendwann hinter Gittern landen.«

»Keine Sorge, sie sind volljährig«, grinste David belustigt.

Mit einem charmanten Lächeln erhob er sich und ging auf Sharon und Kayla zu, Mark folgte ihm zögernd.

»Hey, schön, dass ihr da seid«, begrüßte David Sharon und gab ihr einen angedeuteten Kuss rechts und links auf die Wange. Danach wandte er sich an seinen Freund. »Das ist Sharon, die tolle Frau, von der ich dir erzählt habe – Sharon, das ist Mark.«

Sharon kicherte. »Hi Mark, freut mich sehr. – Das«, sie deutete auf Kayla, »ist meine Schwester Kay.«

Mark nickte zurückhaltend, während Kayla ein unsicheres »Hallo« herausbrachte.

»Also, dann lasst uns essen gehen«, übernahm David die Regie.

Galant bot er Sharon seinen Arm, wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm ein, und sie steuerten auf die Fahrstühle zu, gefolgt von Kayla und Mark, die ihnen mit gebührendem Abstand zueinander folgten.

Wenig später saßen sie an einem Tisch des Hotelrestaurants im ersten Stock.

Ein Kellner brachte ihnen die Speisekarten und eine Weinkarte. »Möchten Sie einen Aperitif?«

»Wie wäre es mit einem Glas Champagner?«, schlug David vor.

»Ja, gerne«, strahlte Sharon.

Kayla schüttelte den Kopf. »Für mich bitte nur ein Wasser.«

»Ich schließe mich an«, erklärte Mark, »ich muss noch fahren. Etwas Wein zum Essen reicht mir völlig.«

»Eine Flasche Champagner, zwei Mineralwasser«, orderte David.

Sie studierten die Speisekarten, und es dauerte nicht lange, bis Sharon sich für das teuerste Gericht auf der Karte sowie eine opulente Vorspeise entschieden hatte.

Mark runzelte kaum merklich die Stirn und warf seinem Freund einen vielsagenden Blick zu, doch dieser hatte nur Augen für Sharon, und so wandte er sich Kayla zu, die im Gegensatz zu ihrer Schwester ein eher unbehagliches Gesicht machte.

»Die Seeteufelfilets sind zu empfehlen, sie sind fangfrisch und werden mit einer leckeren Kräuterkruste zubereitet.«

Sie nickte erleichtert. »Danke, dann nehme ich das.«

»Und wie wäre es mit gefüllten Auberginen als Vorspeise?«

»Nein, lieber nicht, das wird mir zu viel.«

Der Kellner brachte die Getränke, David gab die Bestellung auf, und kurz darauf kam der Sommelier mit einer Auswahl von Weinen an ihren Tisch.

»Ich bin für einen Weißwein, der passt sowohl zum Trüffelragout als auch zum Fisch«, schlug Mark vor.

Er begutachtete das Sortiment, das der Weinkellner auf seinem Wagen hatte, als Kayla plötzlich herausplatzte: »Der 2008er Chardonnay Arcadia ist sehr gut.«

Überrascht schaute Mark sie an, dann nickte er dem Sommelier zu. Dieser öffnete die entsprechende Flasche, goss ein wenig in ein Glas, und nachdem Mark gekostet hatte, stimmte er zu. »In Ordnung, den nehmen wir.«

Es dauerte nicht lange, bis das Essen aufgetragen wurde, und während Sharon und David sich unterhielten und ganz offensichtlich miteinander flirteten, konzentrierten sich Kayla und Mark schweigend auf ihre Teller.

Unauffällig musterte Mark die beiden Frauen. Ihm war völlig klar, dass sie es hier mit zwei Glücksritterinnen zu tun hatten, darüber konnte auch ihre elegant aussehende Kleidung nicht hinwegtäuschen. Sharon mit ihrem platinblonden Haar, das eindeutig gefärbt war, den üppigen Rundungen und dem großzügigen Dekolleté war der Prototyp der mittellosen Aufreißerin auf der Suche nach einem reichen Mann. Ihre Schwester Kay mit den goldbraunen Haaren, den karamellfarbenen Augen und den nur sanft gerundeten Kurven schien eher schüchtern zu sein und sich nicht wirklich wohlzufühlen, doch das war vermutlich bloß eine Masche.

Er beobachtete, wie sie ihr Weinglas zum Mund hob, es sachte schwenkte und kurz das Aroma einsog, bevor sie einen kleinen Schluck trank.

»Kennst du dich mit Wein aus?«, fragte er.

Beinahe erschrocken stellte sie das Glas wieder ab. »Ein bisschen«, murmelte sie verlegen, »ich arbeite in einer Spirituosenhandlung, und da bieten wir für die Kunden auch Weinverkostungen an.«

»Welche Sorten verkauft ihr dort?«

»Viele einheimische aus dem Napa- und dem Sonoma-Valley und einige importierte aus Frankreich, Italien und anderen Ländern.«

»Warst du schon einmal in Europa?«

Kayla schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin noch nie aus …«, sie stockte, »… aus San Francisco herausgekommen.«

Mark bemerkte, dass ihre Miene sich verschlossen hatte, doch bevor er sich darüber weitere Gedanken machen konnte, brachte der Kellner das Dessert, und kurz darauf verlangte David die Rechnung.

»Wie wäre es, wenn wir noch einen Drink in unserer Suite nehmen?«, schlug David vor, während er seine Kreditkarte aus der Brieftasche nahm und sie auf das Tablett legte, auf dem der Ober ihm diskret den Beleg präsentierte.

»Ja, warum nicht«, stimmte Sharon sofort begeistert zu, »gehen wir doch zum gemütlichen Teil über.«

Gleichzeitig war Kayla von ihrem Stuhl aufgesprungen. »Ich … ich müsste mir mal kurz die Hände waschen«, erklärte sie mit hochroten Wangen und warf ihrer Schwester einen auffordernden Blick zu. »Begleitest du mich?«

Sharon sah aus, als wolle sie ablehnen, aber dann erhob sie sich ebenfalls, und zusammen durchquerten sie den Speisesaal in Richtung der Waschräume.

»Na, was sagst du, alter Junge?«, grinste David, während er den beiden hinterherschaute. »Sind sie nicht heiß?«

Mark verzog das Gesicht. Am liebsten hätte er sich verabschiedet und seinem Freund das Feld überlassen. Er wusste, dass David nicht zimperlich war, und sicher keine Einwände gegen ein Vergnügen zu dritt hätte. Allerdings machte Kayla nicht den Eindruck, als wäre sie zu einer Ménage à trois bereit, und wenn er jetzt ging, vermasselte er David vermutlich die Tour.

»Mensch Mark, du siehst aus, als würdest du zu einer Hinrichtung geführt«, durchbrach David seine Gedankengänge. »Es verlangt ja niemand, dass du mit der Kleinen ins Bett gehen sollst. Kümmere dich einfach ein wenig um sie, während ich mich mit Sharon beschäftige, okay?«

»Jaja, schon gut«, brummte Mark widerwillig, »aber dafür schuldest du mir was.«

***

Währenddessen standen Sharon und Kayla im Vorraum der Damentoilette, und Kayla starrte ihre Schwester vorwurfsvoll an.

»Warum warst du einverstanden, mit in die Suite zu gehen? Du hast mir versprochen, dass es beim Essen bleibt.«

»Es ist gerade mal halb zehn, weshalb sollten wir den Abend nicht noch ein wenig genießen?«

»Weil wir beide genau wissen, worauf das hinausläuft.«

Sharon schnaubte. »Meine Güte, jetzt stell dich doch nicht so an. Mark ist ein attraktiver Mann, also sei nicht so prüde und amüsier dich ein bisschen mit ihm. Was ist denn schon dabei?«

»Das kann ich dir sagen: Erstens kenne ich ihn nicht, und zweitens trägt er einen Ehering.«

»Na und? Du sollst ihn ja nicht heiraten.«

»Sharon, bitte, können wir nicht einfach nach Hause fahren?«

»Verdammt, Kay«, fluchte Sharon, »ich frage mich wirklich, wieso ich dich überhaupt mitgenommen habe.« Als Kayla sie nur stumm anschaute, fügte sie seufzend hinzu: »Hör zu, ich habe mich so auf diesen Abend gefreut, und ich lasse mir von dir nicht den Spaß verderben. Du wirst mit nach oben kommen und ein bisschen nett zu Mark sein, während ich mich um David kümmere, okay?«

Kayla zögerte. Obwohl sie am liebsten geflüchtet wäre, blieb ihr offenbar nichts anderes übrig, als Sharon zu begleiten, denn alleine nach Hause fahren konnte sie nicht, sie hatte weder Geld für ein Taxi noch für den Bus. Außerdem war es vielleicht besser, wenn sie auf ihre Schwester aufpasste, bevor die zwei Kerle sonst was mit ihr anstellten.

»Also gut«, nickte sie daher schließlich resigniert, »ich komme mit.«

»Braves Mädchen«, Sharon lächelte zufrieden, »du wirst sehen, es ist alles halb so schlimm.«

***

Tatsächlich war es noch schlimmer, als Kayla es sich vorgestellt hatte, denn kaum hatten sie die Suite betreten, begann Sharon ungeniert, mit David zu flirten und zu schmusen. Sie zog ihn auf die Couch, setzte sich auf seinen Schoß, lockerte seine Krawatte und öffnete die oberen Knöpfe seines Hemds.

»Darauf habe ich mich schon den ganzen Abend gefreut«, schnurrte sie, während sie ihre Finger über seine Brust gleiten ließ.

Peinlich berührt senkte Kayla den Kopf und war froh, dass Mark in einem Sessel Platz genommen hatte und keinerlei Anstalten machte, sich ihr zu nähern.

»Vielleicht sollten wir nach nebenan gehen«, schlug David vor, als Sharon begann, an seinem Gürtel herumzuzupfen.

»Prima Idee«, kicherte sie und Sekunden später waren sie in einem der beiden angrenzenden Schlafzimmer verschwunden.

Das unangenehme Schweigen, das zurückblieb, war förmlich greifbar, und angespannt beobachtete Kayla Mark unter halb gesenkten Lidern.

Widerwillig musste sie zugeben, dass er gut aussah. Mit seinen kurzen, schwarzen Haaren, die sich an den Spitzen leicht lockten, und dem gebräunten Teint wirkte er südländisch, vielleicht hatte er argentinische oder brasilianische Wurzeln. Was jedoch am meisten auffiel, waren seine grünen Augen, die von feinen Fältchen umgeben waren. Eine steile Falte über der Nasenwurzel, einige waagrechte Linien auf seiner Stirn sowie der dunkle Bartschatten und die schmalen Lippen gaben ihm ein ernstes, nachdenkliches Aussehen. Er war groß und schlank, das hatte sie in der Halle schon bemerkt, und jetzt, nachdem er sein Jackett abgelegt hatte, zeichnete sich unter dem hellen Hemd deutlich ein trainierter Oberkörper ab.

Plötzlich stand er auf und Kayla zuckte erschrocken zusammen.

»Möchtest du auch etwas trinken?«, fragte er.

Sie nickte erleichtert. »Ein Wasser bitte.«

Er trat an die Bar, die sich in einer Ecke des Raums befand, nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank und füllte zwei Gläser. Als er ihr eines davon reichte, befürchtete sie, er würde sich zu ihr setzen, doch er ließ sich wieder in den Sessel fallen, streckte die langen Beine aus und musterte sie.

»Was machst du sonst so, wenn du nicht arbeitest?«, fragte er nach einer Weile unvermittelt.

»Ich … äh … dieses und jenes«, murmelte sie, »ich lese gerne.«

»Irgendetwas Spezielles?«

Kayla dachte an die Groschenromane, die ihre Mutter früher verschlungen hatte, und die sie notgedrungen sporadisch las, da sie kein Geld für Bücher hatte.

»Alles Mögliche.«

Es kehrte wieder Stille ein, und nervös drehte Kayla das Wasserglas in den Händen hin und her. Gott, warum hatte sie sich bloß darauf eingelassen? Das Ganze war ein einziger Albtraum.

»Wohnst du in San Francisco?«, wollte Mark wissen.

Sie überlegte kurz. Die Wahrheit konnte sie ihm nicht sagen, und wenn sie behauptete, dass sie hier in der Stadt lebte, käme er am Ende noch auf die Idee, sie nach Hause zu bringen.

»Nein«, sagte sie daher, »in Mill Valley.«

»Zusammen mit deiner Schwester?«

Himmel, was sollte das denn werden? Wollte er erst ihren Lebenslauf haben, bevor er sich an sie heranmachte?

»Ja«, erwiderte sie einsilbig.

In der Hoffnung, dass er endlich mit der Fragerei aufhören würde, stand sie auf und trat an eines der Fenster. Beunruhigt schaute sie auf die nächtlichen Lichter der Bay hinaus und betete, dass Sharon bald wieder auftauchte. Sie konnte sich doch nicht stundenlang da drin amüsieren, während sie, Kayla, hier dem Verhör dieses wildfremden Kerls ausgesetzt war, und Gott allein wusste, was er noch mit ihr vorhatte.

»Das da drüben ist Alcatraz – warst du schon mal dort?«, erklang Marks Stimme auf einmal direkt hinter ihr, und vor lauter Schreck ließ sie ihr Glas fallen.

Als sie sich danach bücken wollte, hielt er sie an den Schultern fest. »Entspann dich«, sagte er beruhigend, »ich …«

»Nein«, panisch schüttelte sie seine Hände ab und wich einen Schritt zurück, »nein, ich will mich nicht entspannen. Ich muss jetzt gehen.«

Bevor er sie zurückhalten konnte, stürmte Kayla auf die Tür zu, hinter der Sharon und David verschwunden waren, riss sie auf und erstarrte. Ihre Schwester saß nackt auf David, der ebenfalls vollständig unbekleidet war, und bewegte sich in höchst eindeutiger Weise auf ihm.

»Sharon, ich will sofort hier weg«, presste sie heraus, »wir treffen uns am Auto.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und eilte zur Tür der Suite.

»Kay, warte«, hörte sie Mark noch rufen, dann war sie auch schon im Flur und hastete auf den Fahrstuhl zu.

Ungeduldig hämmerte sie auf den Rufknopf, bis der Lift sich schließlich lautlos öffnete. Sie betrat die Kabine, drückte die Taste fürs Erdgeschoss, und das Letzte, was sie sah, als sich die Fahrstuhltüren schlossen, war Mark, der im Gang stand und ihr mit ratlosem Blick hinterherschaute.

3

Es dauerte etwa fünfzehn Minuten, bis Sharon am Wagen eintraf, wo Kayla unruhig auf und ab ging und wartete. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass ihre Schwester sich entschuldigen würde, doch ganz offensichtlich schien diese sich keiner Schuld bewusst zu sein.

»Sag mal, bist du bescheuert«, fuhr sie Kayla an, »du hast alles vermasselt.«

»Was denn vermasselt? Dass du dich mit diesem völlig unbekannten Typ zwischen den Laken wälzt?«

»Es ist nicht zu fassen«, schimpfte Sharon, während sie mit zornigen Bewegungen das Auto aufschloss, einstieg, die Beifahrertür entriegelte und aufstieß. »Bestimmt hätte David sich noch mal mit mir verabredet, und wer weiß, vielleicht wäre daraus ja sogar etwas Ernstes geworden, wenn du nicht dazwischen gefunkt hättest. Aber nein, du musstest ja ausflippen und alles kaputt machen.«

»Träum weiter«, gab Kayla zurück, »du glaubst ja wohl nicht ernsthaft, dass er sich erneut mit dir getroffen hätte, und falls doch, dann nur, um sein Vergnügen zu haben.«

»Verdammt, wie naiv bist du eigentlich? Denkst du, solche Kerle erobert man mit Händchenhalten? Natürlich wollen sie Sex, sonst könnten sie ja auch zu Hause bei ihren langweiligen, frigiden Frauen bleiben und Halma spielen.« Kayla presste die Lippen zusammen und schwieg, und Sharon fuhr fort: »Wenn ich geahnt hätte, dass du dich so anstellst, hätte ich dich nicht mitgenommen. Ich dachte, wir könnten uns ein bisschen amüsieren, aber du Spaßbremse musstest ja alles verderben.«

Sie startete den Motor, fädelte sich in den fließenden Verkehr ein und bog dann auf die Jackson Street in Richtung Highway ab.

»Wie oft hast du das schon gemacht?«, fragte Kayla leise, als sie die Golden Gate Bridge erreichten, die sich hell erleuchtet über das dunkle Wasser der Bay spannte.

»Was?«

»Mit reichen Kerlen ins Bett zu gehen.«

»Kay …«

»Hat er dir Geld gegeben?«

»Spinnst du?«, fragte Sharon empört. »Natürlich nicht. Hältst du mich etwa für eine Nutte?«

Kayla biss sich auf die Unterlippe. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du bist fast jeden Abend unterwegs, sagst nicht, wohin du gehst und hast irgendwie immer Geld für Kosmetik, Parfüm und andere Dinge, obwohl du keinen festen Job hast.«

»Führ dich nicht auf, als wärst du meine Mutter«, zischte Sharon. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Hör zu, nur weil wir arm sind, heißt das nicht, dass wir auf alles verzichten müssen. Ich bin jung, und ich will etwas von meinem Leben haben. Ja, ich gehe mit wohlhabenden Männern aus, ich lasse mich von ihnen einladen, und wenn sie mir gefallen, schlafe ich auch mit ihnen. Und ja, ich hoffe, dass eines Tages einer dabei ist, der mich aus dem Sumpf herausholt, in dem wir leben. Ich habe nicht vor, ewig in der Hausbootkolonie zu bleiben, ich möchte ein schönes Haus, schicke Klamotten und etwas von der Welt sehen. Das ist ja wohl kein Verbrechen, oder?«

Inzwischen waren sie an der Gate 6 Road eingetroffen, Sharon stellte den Pick-up auf dem Parkplatz ab und wedelte ungeduldig mit der Hand, nachdem sie ausgestiegen waren.

»Du kannst ruhig schon vorgehen, ich bringe Justin den Autoschlüssel zurück.«

Mit einem stummen Nicken machte Kayla sich auf den Weg zu ihrem Hausboot. Dort angekommen fand sie ihre Mutter schlafend auf dem Sofa vor. Sie schaltete den Fernseher aus, trat hinter den Vorhang und zog sich aus. Kurz darauf lag sie auf ihrer Matratze, starrte in die Dunkelheit, dachte über die vergangenen Stunden nach und sah plötzlich Marks Gesicht vor sich.

Unwillkürlich fragte sie sich, was wohl passiert wäre, wenn sie nicht Reißaus genommen hätte. Ob er tatsächlich die Absicht gehabt hatte, mit ihr zu schlafen? Irgendwie hatte er nicht den Eindruck gemacht, als wäre er auf Sex aus gewesen. Aber weshalb sollte er sonst zwei wildfremde Frauen in eine Suite begleiten, die sein Freund ganz offensichtlich für genau diesen Zweck gemietet hatte?

Mit einem leisen Seufzen drehte sie sich auf die Seite, rollte sich in ihre Decke ein und beschloss, sowohl Mark als auch den fürchterlichen Abend für immer aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

***

Kurz, nachdem Sharon gegangen war, betrat David den Wohnraum der Suite, inzwischen mit Shorts und T-Shirt bekleidet.

Frustriert rieb er sich den Nacken. »Was zur Hölle war das denn?«, fragte er und schaute Mark vorwurfsvoll an. »Die Kleine war ja völlig hysterisch, was hast du mit ihr angestellt? Hast du etwa irgendwelche perversen Neigungen, von denen ich nichts weiß?«

»Keine Ahnung«, Mark zuckte mit den Schultern, »ich habe sie nicht angerührt.«

»Hättest du es mal getan«, brummte David missvergnügt, »vielleicht hätte ich dann wenigstens zu Ende bringen können, was ich angefangen hatte.«

Mark konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Tut mir leid.«

»Mir auch.« David seufzte. »Da stürzt man sich in Unkosten und alles, was dabei herauskommt, ist so eine Nullnummer.«

»Apropos Unkosten – hast du dieser Sharon Geld gegeben?«

»Na danke«, schnaubte David, »denkst du, ich habe es nötig, für Sex zu bezahlen? Sehe ich so abgewrackt aus, dass ich keine mehr finde, die freiwillig mit mir ins Bett geht?«

»Wenn du mich so fragst …«, zog Mark ihn auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Ich weiß nicht, irgendetwas hat nicht gestimmt mit den beiden. Diese Kay war total schüchtern, sogar fast ängstlich, während die andere regelrecht über dich hergefallen ist und dabei riesige Dollarzeichen in den Augen hatte. Ich könnte wetten, dass sie nur auf Geld aus waren.«

David zuckte mit den Achseln. »Und wenn schon, ich hätte ihr nichts gegeben, sonst könnte ich ja gleich …« Er unterbrach sich und stürmte ins Schlafzimmer. Sekunden später kam er zurück. »Ich glaub’s nicht«, sagte er fassungslos, »dieses Biest hat mir meinen Geldclip geklaut.«

»Wie viel hattest du dabei?«

»Nicht viel, etwa vierhundert Dollar.«

»Das dürfte für die beiden ein kleines Vermögen sein«, stellte Mark trocken fest. »Wirklich sehr clever von dir, das einfach so herumliegen zu lassen.«

»Habe ich doch gar nicht. Ich war kurz im Bad, während sie sich wieder angezogen hat … sie muss es in der Zwischenzeit aus meiner Hosentasche genommen haben.« David schüttelte ungläubig den Kopf. »Und ich dachte immer, so etwas passiert nur anderen. Da haben wir uns ja zwei abgebrühte Früchtchen angelacht.«

»Du«, korrigierte Mark ihn amüsiert, »du hast sie aufgegabelt.«

»Jaja, reib es mir ruhig unter die Nase. – Ich brauche jetzt einen Drink.« David trat an die Bar, goss sich einen Bourbon ein, trank ihn in einem Zug aus und schenkte noch mal nach. »Du auch?«

»Nein danke, ich mache mich auf den Heimweg.«

»Du kannst gerne hierbleiben.«

Mark schüttelte den Kopf. »Besser nicht.«

»Stress mit Linda?«, fragte David mitfühlend.

»Nenn mir einen Tag, an dem ich keinen Stress mit ihr hätte«, erwiderte Mark sarkastisch und erhob sich.

»Na dann komm gut nach Hause, wir telefonieren, ja?«

»Ja, klar. Und was machst du jetzt?«

David grinste. »Ich werde mich anziehen, in die Hotelbar gehen und zusehen, dass ich irgendeine Frau finde, die Lust hat, dort weiterzumachen, wo ich vorhin aufhören musste. Es wäre doch schade, wenn ich die Suite umsonst reserviert hätte, oder?«

***

Es war fast drei Uhr nachts, als Mark nach Hause kam, und obwohl er ziemlich müde war, war er viel zu aufgedreht, um einschlafen zu können. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen lag er auf seinem Bett, starrte auf das gedämpfte Lichtmuster, welches von der Außenbeleuchtung an die Decke geworfen wurde, und dachte an den Abend im Hotel.

Vor allem Kayla war es, die ihn beschäftigte. Er hatte keinen Zweifel daran, dass die beiden Schwestern – sofern es sich überhaupt um Schwestern handelte – es von Anfang an nur aufs Geld abgesehen hatten. Doch Kays Verhalten schien so gar nicht in dieses Bild zu passen, und er fragte sich, ob das tatsächlich nur eine raffinierte Masche war oder ob sie wirklich so scheu und unschuldig war, wie sie vorgegeben hatte.

Hätte sie ihn ebenfalls beklaut, wenn er mit ihr ins Bett gegangen wäre? Aber warum hatte sie dann nicht versucht, ihn zu verführen? Sharon hatte da bei David wesentlich weniger Hemmungen gehabt. Hatte Kay gemerkt, dass er keinerlei diesbezügliche Ambitionen hatte, und war abgehauen, weil sie nicht ans Ziel gekommen war? Oder war er nicht ihr Typ gewesen?

Sie dagegen hätte ihm schon gefallen. Mit ihrer sanft gerundeten Figur und den großen, braunen Augen hatte sie ausgesehen wie ein scheues Reh. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie es wohl gewesen wäre, mit ihr zu schlafen. Bilder geisterten durch seinen Kopf, er sah sie in seinen Armen liegen, nackt, warm und weich …

Sofort reagierte sein Körper auf diese Vorstellung, und mit einem gequälten Aufstöhnen warf er sich auf den Bauch und verbot sich jeden weiteren Gedanken daran. Schlimm genug, dass sie auf die beiden Gaunerinnen hereingefallen waren, da musste er sich nicht auch noch den Rest der Nacht mit idiotischen Fantasien um die Ohren schlagen.

Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis er endlich einschlief, und dementsprechend gerädert fühlte er sich am nächsten Tag. Als er geduscht und angezogen nach unten kam, saß Linda bereits beim Frühstück und empfing ihn mit ihrer üblichen, eisigen Miene.

»Guten Morgen«, wünschte er und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Es war spät gestern«, begann sie vorwurfsvoll, kaum dass er sich Kaffee eingegossen hatte.

Er seufzte unhörbar in sich hinein. Obwohl er sich bemüht hatte, leise zu sein, hatte sie offenbar trotzdem gehört, wann er nach Hause gekommen war. Ihr Schlafzimmer lag direkt neben der Treppe im Erdgeschoss, damit es mit dem Rollstuhl besser erreichbar war. Zwar hatte er mehrfach vorgeschlagen, einen Lift einbauen zu lassen, doch sie hatte es stets abgelehnt. Auf diese Weise bekam sie genau mit, wer kam und ging, und konnte sich unauffällig und lautlos im Parterre bewegen und das Haus verlassen, wie es ihr beliebte. So hatte sie alles unter Kontrolle, und vor allem hatte sie ihn unter Kontrolle.

»Wo wart ihr?«, wollte sie wissen.

»Im Mandarin Oriental«, antwortete er wahrheitsgemäß, während er sich eine Scheibe Toast nahm und Butter darauf strich.

»Nur du und David?«

»Ich sagte dir doch, dass es ein geschäftliches Treffen war.«

Ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. »Hältst du mich für so dumm?«, zischte sie. »Ein Geschäftsessen bis tief in die Nacht hinein? David nimmt alles mit, was bei drei nicht auf dem Baum ist, und ich könnte wetten, dass du das Gleiche tust, wenn du mit ihm unterwegs bist.«

Gereizt warf Mark den Toast auf den Teller. »Ich habe es dir schon hundert Mal erklärt, und ich wiederhole es jetzt zum letzten Mal: Ich habe dir Treue gelobt, diesen Schwur habe ich bisher noch nie gebrochen, und ich beabsichtige auch nicht, es zu tun. Wenn du allerdings nicht allmählich mit dieser grundlosen Eifersucht aufhörst, wirst du mich eines Tages vielleicht so weit bringen, also hör bitte auf damit.«

»Natürlich, es ist meine Schuld, dass du dich herumtreibst und dir dein Vergnügen woanders suchst«, erwiderte sie zynisch, »ich kann dir in dieser Hinsicht ja dummerweise nichts bieten.«

»Das habe ich nie behauptet, du warst diejenige, die jegliche Intimität abgelehnt hat«, sagte er resigniert und stand auf. »Lassen wir das jetzt, diese Diskussion führt wie immer ins Leere. Außerdem habe ich zu tun.«

Mit großen Schlucken trank er seinen Kaffee aus, verließ das Esszimmer und hörte im Hinausgehen, wie sie ihm hinterher rief: »Ja, kümmere dich um deine verdammte Arbeit, das ist dir ja sowieso wichtiger, als dich mit mir zu beschäftigen.«

Er presste die Kiefer aufeinander, betrat sein Büro und fragte sich wie so oft in den letzten Jahren, wie lange er diesen Hass und diese Kälte noch aushalten würde.

4

Ein paar Tage vergingen, und für Kayla ging das Leben unverändert weiter, so, als hätte es den Abend im Mandarin nie gegeben. Natürlich hatte sie den Zwischenfall nicht vergessen, sie bemühte sich jedoch, nicht mehr daran zu denken, dass Sharon sie in solch eine unmögliche Situation gebracht hatte.

Wie zuvor blieb ihre Schwester häufig über Nacht weg. Wenn Kayla sie morgens nicht neben sich auf der alten Matratze entdeckte, die sie gemeinsam als Bett benutzten, hatte sie sofort wieder das Bild von ihr und David vor Augen. Doch sie versuchte, die unangenehmen Gedanken zu verdrängen, stand wie gewohnt auf, und richtete für ihre Mutter, die vom Alkohol umnebelt schlief, das Frühstück. Anschließend zog sie sich an und fuhr mit dem Rad nach Mill Valley, um zu duschen und sich die Haare zu waschen. Von dort aus machte sie sich auf den Weg zur Arbeit bei Masons Wine & Spirits, der Spirituosenhandlung, die nur ein paar Straßen vom Community Center entfernt lag.

Vor etwa einem Jahr hatte Mason Bishop sie aushilfsweise als Verkäuferin eingestellt, doch tatsächlich war sie Mädchen für alles. Neben der Bedienung der Kunden musste sie sich um Bestellungen kümmern, Lieferungen entgegennehmen und auspacken sowie die Regale füllen. Er ließ sie den Laden putzen, das Lager aufräumen und vieles mehr. Obwohl sie dafür nur hundertfünfundzwanzig Dollar pro Woche bekam, beklagte Kayla sich nicht. Sie war froh, dass Mason ihr überhaupt einen Job gegeben hatte, denn Leute aus der Hausbootkolonie, vor allem vom Gate 5, wollte niemand gerne beschäftigen. Sie machte das Beste daraus und bemühte sich, so viel wie möglich zu lernen, hauptsächlich über Wein, dessen vielfältige Sorten und Geschmacksnoten sie faszinierten.

So auch an diesem Nachmittag, als sie eine Lieferung aus Übersee auspackte. Sorgsam nahm sie die Weinflaschen aus den Holzkisten, entfernte Reste von Holzwolle und die Luftpolsterfolien. Sie betrachtete die Etiketten, schnupperte an den Korken und versuchte, sich Namen, Jahrgang und Herkunft einzuprägen.

Als sie gerade ein paar Flaschen Crianza in das dafür vorgesehene Regal legte, entstand vorne im Laden plötzlich ungewöhnlicher Lärm.

»Kayla, komm sofort hierher«, hörte sie Mason im gleichen Moment brüllen.

Rasch eilte sie in den Verkaufsraum und sah zu ihrem Entsetzen ihre Mutter an einem der Tische sitzen, die für Weinproben genutzt wurden. Mit fadenscheinigen Leggings und einem verschmutzten, ausgeleierten T-Shirt bekleidet hockte Peggy Williams auf einem Stuhl und starrte mit trüben, rot geränderten Augen vor sich hin. Eine Handvoll Kunden hatte sich vor der Theke zusammengedrängt und betrachtete sie mit Abscheu, während Mason sich jetzt auf Kayla stürzte.

»Schaff sie sofort hier raus, und du kannst gleich mitgehen«, tobte er.

Als Peggy ihre Tochter entdeckte, erhellte sich ihre teilnahmslose Miene ein wenig. »Kay«, nuschelte sie und stand auf, »Kay, sei ein liebes Kind und gib mir eine Flasche Schnaps, ja?«

Kayla legte den Arm um sie und schob sie aus dem Laden. »Nein Mom, es gibt keinen Schnaps.«

»Dann wenigstens ein Bier.«

»Komm, ich bringe dich nach Hause.«

Peggy befreite sich aus ihrem Griff und blieb stehen. »Ich will nicht nach Hause, ich will was trinken.«

»Mom …«

»Bitte Kay«, sie fing an, zu weinen wie ein Kind, »bitte, bitte, nur eine kleine Flasche.«

Kayla seufzte. »Also gut«, sie dirigierte ihre Mutter zu der niedrigen Mauer, die Masons Grundstück umgab, »setz dich hier hin und warte, ich hole dir etwas, okay?«

Schniefend ließ Peggy sich auf den roten Backsteinen nieder und Kayla eilte in den Laden zurück.

»Was willst du noch hier, du bist gefeuert«, bellte Mason ihr entgegen.

»Es tut mir wahnsinnig leid, ich werde dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr vorkommt.«

Mason schnaubte verächtlich. »Das hast du mir schon ein paar Mal versprochen, und trotzdem taucht sie immer wieder hier auf, randaliert herum und vergrault mir die Kunden. Ich habe die Nase endgültig voll von euch Pack.«

»Aber ich brauche den Job.«

»Vergiss es. Nimm deine Sachen und deine versoffene Mutter und hau ab.«

Es war deutlich, dass er seine Entscheidung nicht rückgängig machen würde, und so ging Kayla nach hinten ins Büro und holte ihre Tasche.

»Was ist mit meinem restlichen Lohn?«, fragte sie leise, als sie wieder in den Verkaufsraum kam.

»Den behalte ich als Entschädigung für den Ärger, den ich deinetwegen hatte«, knurrte Mason.

»Aber …«

»Kein Aber. Sieh zu, dass ihr hier verschwindet, sonst rufe ich die Cops.«

Kayla wollte aufbegehren, doch ihr war klar, dass es zwecklos war. Zum einen hatte sie keinen Arbeitsvertrag, zum anderen wusste sie, dass Mason seine Drohung wahr machen würde, und sie wollte auf keinen Fall Ärger mit der Polizei.

»Schon gut, ich bin schon weg«, sagte sie resigniert. Sie nahm ihr Portemonnaie heraus, kramte ein paar Dollar hervor und legte sie auf die Theke. »Gib mir bitte noch eine Flasche Gin.«

Kopfschüttelnd reichte Mason ihr die Schnapsflasche. Sie steckte sie in ihre Tasche und verließ mit hängenden Schultern und müden Schritten den Laden. Mit dem Fahrrad in einer Hand, den anderen Arm um ihre Mutter geschlungen, machte sie sich auf den Heimweg und fragte sich, wie es nun weitergehen sollte.

***

Zu Hause angekommen bugsierte Kayla ihre Mutter auf die Couch, wo diese sich sofort über den Schnaps hermachte und wenig später in einem seligen Rausch des Vergessens versank. Kayla schaltete den Fernseher für sie ein und begann, das Durcheinander zu beseitigen, welches Peggy im Laufe des Tages verursacht hatte. Sie leerte den überquellenden Aschenbecher aus und hob die Bierdosen auf, die wie üblich auf dem Boden herumrollten. Anschließend spülte sie das Geschirr ab und wischte eine Pfütze vor der Tür, die zur Toilette führte, auf. Danach sammelte sie einige herumliegende Kleidungsstücke ein, packte sie zusammen mit ihrer eigenen und Sharons Schmutzwäsche in eine Tüte und machte sich auf den Weg in den Waschsalon am Bridgeway. Während die Maschine lief, kaufte sie bei Tony Jeffers im Store gegenüber ein paar Lebensmittel, die bereits abgelaufen und daher im Preis herabgesetzt waren, sowie ein Exemplar des San Francisco Chronicle.

Als sie in den Waschsalon zurückkehrte, traf sie ausgerechnet auf Justin Hamilton. Sie murmelte ein knappes »Hi« und wollte sich dann in eine ruhige Ecke zurückziehen, doch er schlenderte hinter ihr her.

»Hi«, grinste er fröhlich, »was machst du denn hier?«

Sie verdrehte die Augen. »Was glaubst du wohl?«

»Mensch Sweety, warum so zickig? Bist du immer noch sauer auf mich?«

Kayla presste die Lippen zusammen. Vor etwa vier Jahren war Justin auf eines der alten Hausboote gezogen, und genau hier, im Waschsalon, hatten sie sich kennengelernt.

Sie hatte ihm gezeigt, wie die Maschinen bedient wurden, und dadurch waren sie ins Gespräch gekommen. Obwohl er bereits sechsundzwanzig war, verstanden sie sich auf Anhieb und verbrachten viel Zeit miteinander.

Justin war nett und immer hilfsbereit. Er erledigte kleinere Reparaturen und fuhr ihre Mutter sporadisch zum Arzt. Als Gegenleistung lud Kayla ihn dafür ab und zu zum Essen ein, und trotz der bescheidenen Mahlzeiten, die sie zubereitete, lobte er sie stets für ihre Kochkünste. Sie mochte ihn, und als er sie eines Nachmittags in seinem Hausboot verführte, leistete sie keinen Widerstand. Er war der erste Mann, mit dem sie schlief, und obwohl sie das Gefühl hatte, dass sie dieser Tatsache wesentlich mehr Bedeutung beimaß als er, betrachtete sie sich von diesem Tag an als seine feste Freundin. Sie sorgte für ihn, hielt zusätzlich zu ihrem eigenen Heim auch seines in Ordnung und träumte von einer gemeinsamen, besseren Zukunft.

Wie naiv sie gewesen war, erfuhr sie einige Wochen später. Als sie nach der Arbeit wie gewohnt bei ihm vorbeischaute und die verwitterte Hütte betreten wollte, stellte er sich ihr in den Weg, nur mit Shorts bekleidet.

»Jetzt nicht«, sagte er anstelle einer Begrüßung.

Seine Stimme klang kühl, und sie schaute ihn verwundert an. »Was ist los?«

»Tja«, er kratzte sich unter der Achsel, »wie bringe ich es dir am besten bei?«

»Justin, du machst mir Angst. Ist etwas passiert?«

»Schau mal, Sweety, wir hatten eine nette Zeit miteinander, aber du bist noch so jung, und es ist wohl besser, wenn wir uns nicht mehr treffen.«

Einen Moment lang glaubte sie, dass er nur scherzte. Dann fiel ihr Blick an ihm vorbei ins Innere des Hausboots, und sie sah einen nackten Frauenkörper auf der Schlafcouch liegen. Das Gesicht war durch Justin verdeckt, doch der Rest reichte Kayla völlig aus, um zu begreifen, was sich hier abspielte.

Wortlos drehte sie sich um, verließ die schwimmende Plattform und balancierte hoch erhobenen Hauptes über den wackeligen Steg. Erst als sie zu Hause war, rollte sie sich auf ihrem Matratzenlager zusammen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Das war nun etwa zwei Jahre her, und seitdem war sie Justin aus dem Weg gegangen.

Kaum merklich schüttelte Kayla jetzt den Kopf. Nein, sauer war sie nicht, schließlich hatte sie es ihrer eigenen Einfältigkeit zuzuschreiben, dass sie nicht bemerkt hatte, wie er sie ausnutzte. Trotzdem wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, er war ein Kapitel ihres Lebens, das zwar lehrreich gewesen war, an das sie sich aber dennoch nicht gerne erinnerte.

»Solltest du dich nicht besser um deine Wäsche kümmern?«, sagte sie daher abweisend und verschanzte sich demonstrativ hinter ihrer Zeitung.

»Du warst auch schon mal netter, Sweety«, grinste er und ging zu seinem Wäschekorb zurück.

Kayla beobachtete, wie er seine Schmutzwäsche in die Maschine stopfte, und dann anfing, ungeniert mit einer jungen, blonden Frau zu flirten. Sie fragte sich, was sie überhaupt an ihm gefunden hatte. Sein aschblondes Haar war lang und ungepflegt, ebenso wie der zottelige Vollbart, der sich um Kinn und Wangen zog. Der ausgemergelte Oberkörper steckte in einem verschwitzten Tank-Top, die dürren Beine in einer Cargoshorts mit Tarnmuster.

Sie wusste, dass er genauso wenig Geld besaß wie sie, und sie war die Letzte, die ein Recht hatte, ihn deswegen zu verurteilen. Doch trotz ihrer ärmlichen Verhältnisse bemühte sie sich um Sauberkeit und achtete auf ihr Äußeres, im Gegensatz zu Justin, dem sein Erscheinungsbild vollkommen gleichgültig war.

Sekundenlang blitzte plötzlich das Bild von Mark vor ihr auf. Wie gepflegt und kultiviert er ausgesehen hatte, mit seinen ordentlich geschnittenen, schwarzen Haaren und dem dunklen Anzug. Seine Zähne waren weiß gewesen, die Hände und Fingernägel sauber. Er entsprach genau den Beschreibungen der männlichen Protagonisten aus den Groschenheftchen ihrer Mutter – groß, gut gebaut und attraktiv. Das war allerdings schon alles, was er mit den Liebesromanhelden gemeinsam hatte, denn diese zogen in der Regel nicht los und betrogen ihre Ehefrauen.

Das leise Piepsen der Waschmaschine riss sie aus ihren Gedanken. Mit einem missmutigen Seufzer öffnete sie die Luke und stopfte die Wäsche in ihre Plastiktüte. Wieso musste sie ausgerechnet jetzt an diesen schrecklichen Abend denken? Hatte sie nicht genug andere Probleme?